Emmy Destinn

 

Ich schrieb ihr am Schluß meines Briefes: Semiramis, hinter den düsteren Gängen deines Palastes vermute ich hängende Gärten. Worauf sie ans Ende ihrer Zeilen setzte: Meine liebe Dichterin, meine Gärten sind diesen Abend wilde, verschwiegene Schluchten, kommen Sie und hören Sie mich die Carmen singen. –

Manchmal versteckte ich den Kopf in das Sammetgehang der Loge, den dunklen Strom ihrer Stimme einsam über mich rauschen, tanzen zu hören über üppige Pfade heißer Lippen liebentlang. –

Der Soldat Don José sitzt abseits der Ausgelassenen und schmiedet seine zerrissene Säbelkette; versunken in Mutter, Heimat und Liebchen, dem frischen blonden Blümchen der treuherzigen Provence. Aber da steht sie hoch auf der Brücke, lauernd, hungrig – o, du gewaltige Carmen-Katze! Den Oberkörper weit nach vorwärts gestreckt, schleicht sie Bestienmajestätisch über die Treppe, die zu ihrem Opfer führt. Es durchgreift den Soldaten eine peinigende Unruhe, er vertieft sich gewaltsam in seine Arbeit, aber seine Finger zittern vor ängstlicher Wollust. »Ei, du süßer Kettenschmied!« Und ein Strauß greller Rosen fällt zu seinen Füßen nieder. Die lockende Schwere ihres Liedes ergreift ihn, es berauscht ihn der singende Duft ihres Blutes. –

Und dann Carmens grausames Begegnen mit Don Josés Liebchen, Carmens zum Sieg gerüstetes Entgegenziehn der fremden Rasse, aus der sie ihr Opfer geraubt hat, das sie lieben und peinigen muß und zerstören wird. »Sieh, ich nehme dich, ich verschlinge dich!« Und ihr Gesang und Spiel bekommen Tatzen, die den Geliebten umkrallen, den Kampf seines Soldatenherzens zerreißen und ihn ihr zu eigen machen. Bravissimo, Carmen – Emmy Destinn!

Und nun das Schwärzerwerden ihrer Stimme vor dem verstoßenen, verhöhnten Geliebten, die trübe Todesangst, die sie betastet. Und leise klingt die Hochzeitsmusik, beben die Zaubertöne, die den Soldaten gelockt haben in die Netze ihrer furchtbaren Seele. Carmen! Todwund heben sich die Lider ihrer bebenden Pupillen – ihr Sprung mißglückt. Feierlich singt das Cello und flehentlich die Geigen. Draußen wartet Escamillo. Carmen zerreißt ihre Haut aus Hochzeitsseide und veratmet, noch ehe Don José ihr treuloses Katzenherz durchsticht. Blaß werden die Klänge in der Ferne.

Die Lieb, die von Zigeunern stammt,

Fragt nicht nach Recht, Gesetz und Macht.

Liebst du mich nicht, bin ich entflammt,

Und lieb ich dich, nimm dich in acht!

Als ich am Tage nach der Vorstellung Emmy Destinn besuchte, saß sie auf ihrer Bank von Gold aufrecht, den Kopf düster gesenkt, wie die Blüte einer Pharaonenblume. Sie trug ein Kleid aus bunten Farben der Gewänder assyrischer Königinnen. In ihren Ohren hingen Gehänge von durchsichtigen, gelben Steinen. »Habe ich Ihnen gestern gefallen?« fragte sie mich. Und ehe ich antworten konnte, pochte es leise an die Tür – mit einer Tasse süßen Duftes trat eine ältere Frau ins Gemach und flüsterte ihrer Königin mit besorgtem Augenrollen und Kopfschütteln einiges ins Ohr. Als sie draußen war, sagte Semiramis zu mir: »Sie war meine Amme und ist noch immer um ihr herangewachsenes Baby in Besorgnis.«

Wir setzten uns an ein kleines Rosenholztischchen. Vor dem Fenster dämmert es schon, in ihrem Gesicht scheinen plötzlich ganz hell die beiden großen, braunen Monde. »Komm, wir wollen um die Rosenholztische Fangen spielen!«

An der Wand, mir gegenüber, hängen die verschiedenartigsten Instrumente, wohl an zehn Geigen. »Und der Flügel dort, ist der Flügel Webers gewesen«, erzählte sie lebhaft. »Und sehen Sie sich auch einmal diese Bildergalerie dort an; ich habe eine mächtige Verehrung für Napoleon den Ersten.« In jedem Lebensalter hängen Bildnisse des ehernen Kaisers von Frankreich da, Briefe in zärtlichen Rahmen, Waffen, die er geschwungen hat, umzäunt mit Lorbeeren. –

Katzen, Hunde, Hasen, Hähne, Puten von leuchtendem weißen Porzellan, venetianische Vasen, vielarmige Leuchter stehen auf stolzen Säulen und Elfenbeintischchen. Da seh’ ich mich zu meinem Leidwesen drei, vier, fünf, immer noch mehrere Male in großen Spiegelwänden. Die schöne Königin hat, ohne daß ich es bemerkte, die Türen ihres weiten Paradieses geöffnet: blühende Seltenheiten und Seide.

»Besuchen Sie mich bald wieder«, sagte sie; ein Lächeln in den tausendjährigen Augen.

 

 

***

Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920

Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.