Lyrische Gedichte

 

Indem wir die Verzeichnisse sämtlicher Gedichte, wie solche den Bänden regelmäßig vorgedruckt sind, am Eingänge betrachten, so finden wir die Oden und Elegieen des ersten Bandes, imgleichen die Oden und Lieder der drei folgenden, nicht weniger die übrigen kleineren Gedichte unter sich durchaus nach der Jahrzahl geordnet.

Eine Zusammenstellung der Art, die schon mehreren Dichtern gefiel, deutet, besonders bei dem unsrigen, auf ruhige, gleichförmige, stufenweis erfolgte Bildung, und gibt uns ein Vorgefühl, daß wir in dieser Sammlung, mehr vielleicht als in irgend einer anderen, das Leben, das Wesen, den Gang des Dichters abgebildet empfangen werden.

Jeder Schriftsteller schildert sich einigermaßen in seinen Werken, auch wider Willen, selbst; der gegenwärtige bringt uns, vorsätzlich, inneres und äußeres, Denkweise, Gemütsbewegungen, mit freundlichem Wohlwollen dar, und verschmäht nicht, uns durch beigefügte Noten über Zustände, Gesinnungen, Absichten und Ausdrücke, vertraulich aufzuklären.

Und nun, auf eine so freundliche Weise eingeladen, treten wir ihm näher, suchen ihn bei sich selbst auf, schließen uns an ihn, und versprechen uns im Voraus reichen Genuß, und mannigfaltige Belehrung und Bildung.

In ebener, nördlicher Landschaft finden wir ihn sich seines Daseins freuend, unter einem Himmelsstrich, wo die Alten kaum noch Lebendes vermuteten.

Und freilich übt denn auch daselbst der Winter seine ganze Herrschaft aus. Vom Pole her stürmend bedeckt er die Wälder mit Reif, die Flüsse mit Eis, ein stöbernder Wirbel treibt um den hohen Giebel, indes sich der Dichter, wohlverwahrt, häuslicher Wohnlichkeit freut, und wohlgemut solchen Gewalten Trotz bietet. Bepelzte, bereifte Freunde kommen an, die, herzlich empfangen, unter sicherem Obdach, in liebevollem vertraulich-gesprächigem Kreise, das häusliche Mahl durch den Klang der Gläser, durch Gesang beleben, und sich einen geistigen Sommer zu verschaffen wissen.

Dann finden wir ihn auch persönlich den Unbilden des Winterhimmels trotzend. Wenn die Achse mit Brennholz befrachtet knarrt, wenn selbst die Fußtritte des Wanderers tönen, sehen wir ihn bald rasch durch den Schnee, nach fernen Freundeswohnungen hintraben, bald zu großem Schlittenzuge gesellt, durch die weiten Ebenen hinklingeln, da denn zuletzt eine trauliche Herberge die halberstarrten aufnimmt, eine lebhafte Flamme des Kamins die eindringenden Gäste begrüßt, Tanz, Chorgesang, und mancher erwärmende Genuß, der Jugend sowohl als dem Alter genugtut.

Schmilzt aber von einer zurückkehrenden Sonne der Schnee, befreit sich ein erwärmter Boden nur einigermaßen von dieser lästigen Decke; so eilt mit den Seinen der Dichter alsbald ins Freie, sich an dem ersten Lebenshauche des Jahres zu erquicken, und die zuerst erscheinenden Blumen aufzusuchen. Vielfarbiger Güldenklee wird gepflückt, zu Sträußern gebunden und im Triumph nach Hause gebracht, wo diese Vorboten künftigen Genusses ein hoffnungsvolles Familienfest zu krönen gewidmet sind.

Tritt sodann der Frühling selbst herein, so ist von Dach und Fach gar die Rede nicht mehr, immer findet man den Dichter draußen, auf sanften Pfaden, um seinen See herstreichen. Jeder Busch entwickelt sich im einzelnen, jede Blütenart bricht einzeln in seiner Gegenwart hervor. Wie auf einem ausführlichen Gemälde erblickt man, im Sonnenschein um ihn her, Gras und Kraut so gut als Eichen und Buchen, und an dem Ufer des stillen Wassers fehlt weder das Rohr noch irgend eine schwellende Pflanze.

Hier begleitet ihn nicht jene verwandelnde Phantasie, durch deren ungeduldiges Bilden sich der Fels zu göttlichen Mädchen ausgestaltet, der Baum seine Äste zurückzieht und mit jugendlichen weichen Armen den Jäger zu locken scheint. Einsam vielmehr geht der gemütvolle Dichter, als ein Priester der Natur umher, berührt jede Pflanze, jede Staude mit leiser Hand, und weiht sie zu Gliedern einer liebevoll übereinstimmenden Familie.

Um ihn, als einen Paradiesbewohner, spielen harmlose Geschöpfe, das Lamm auf der Wiese, das Reh im Walde. Zugleich versammelt sich das ganze Chor von Vögeln, und übertönt das Leben des Tags mit vielfachen Akzenten.

Dann am Abend, gegen die Nacht hin, wenn der Mond in ruhiger Pracht am Himmel heraufsteigt, und sein bewegliches Bild auf der leisewogenden Wasserfläche einem jeden schlängelnd entgegenschickt, wenn der Kahn sanft dahin wallt, das Ruder im Takte rauscht, und jede Bewegung den Funken eines Wiederscheins hervorruft, von dem Ufer die Nachtigall ihre himmlischen Töne verbreitet und jedes Herz zum Gefühle aufruft, dann zeigt sich Neigung und Leidenschaft in glücklicher Zartheit, von den ersten Anklängen einer vom höchsten Wesen selbst vorgeordneten Sympathie, bis zu jener stillen, anmutigen, schüchternen Lüsternheit, wie sie aus den engern Umgebungen des bürgerlichen Lebens hervorsprießt. Ein wallender Busen, ein feuriger Blick, ein Händedruck, ein geraubter Kuß beleben das Lied. Doch ist es immer der Bräutigam, der sich erkühnt, immer die Braut, welche nachgibt, und so beugt selbst alles Gewagte sich unter ein gesetzliches Maß; dagegen erlaubt er sich manches innerhalb dieser Grenze. Frauen und Mädchen wetteifern keck und ohne Scheu über ihre nun einmal anerkannten Zustände, und eine beängstete Braut wird, unter lebhaften Zudringlichkeiten mutwilliger Gäste, zu Bette gebracht.

Sogleich aber führt er uns wieder unter freien Himmel ins Grüne, zur Laube, zum Gebüsch, und da ist er auf die heiterste, herzlichste und zarteste Weise zu Hause.

Der Sommer hat sich wieder eingefunden, eine heilsame Schwüle weht durch das Lied, Donner rollen, Wolken träufeln, Regenbogen erscheinen, Blitze leuchten abwärts und ein kühler Segen wallt über die Flur. Alles reift, keine der verschiedenen Ernten versäumt der Dichter, alle feiert er durch seine Gegenwart.

Und hier ist wohl der Ort, zu bemerken, welchen Einfluß auf Bildung der untern deutschen Volksklasse unser Dichter haben könnte, vielleicht in einigen Gegenden schon hat.

Seine Gedichte, bei Gelegenheit ländlicher Vorfälle, stellen zwar mehr die Reflexion eines dritten, als das Gefühl der Gemeine selbst dar: aber wenn wir uns denken mögen, daß ein Harfener sich bei der Heu- Korn- und Kartoffelernte finden wollte, wenn wir uns vorstellen, daß er die Menschen, die sich um ihn versammeln, aufmerksam auf dasjenige macht, was ihnen als etwas alltägliches wiederfährt, wenn er das Gemeine, indem er es betrachtet, dichterisch ausspricht, erhöht, jeden Genuß der Gaben Gottes und der Natur mit würdiger Darstellung schärft; so darf man sagen, daß er seiner Nation eine große Wohltat erzeige. Denn der erste Grad einer wahren Aufklärung ist, wenn der Mensch über seinen Zustand nachzudenken, und ihn dabei wünschenswert zu finden gewöhnt wird. Man singe das Kartoffellied wirklich auf dem Acker, wo die völlig wundergleiche, den Naturforscher selbst zu hohen Betrachtungen leitende Vermehrung, nach langem stillem Weben und Wirken vegetabilischer Kräfte, zum Vorschein kommt, und ein ganz unbegreiflicher Segen aus der Erde quillt; so wird man erst das Verdienst dieser und anderer ähnlichen Gedichte fühlen, worin der Dichter den rohen, leichtsinnigen, zerstreuten, alles für bekannt annehmenden Menschen auf die ihn alltäglich umgebenden, alles ernährenden hohen Wunder aufmerksam zu machen unternimmt.

Kaum aber ist alles dieses Gute in des Menschen Gewahrsam gebracht, so schleicht auch der Herbst schon wieder heran, und unser Dichter nimmt rührenden Abschied von einer, wenigstens in der äußeren Erscheinung hinfälligen Natur. Doch seine geliebte Vegetation überläßt er nicht ganz dem unfreundlichen Winter. Der zierliche Topf nimmt manchen Strauch, manche Zwiebel auf, um in winterhafter Häuslichkeit den Sommer zu heucheln, und auch in dieser Jahreszeit kein Fest ohne Blumen und Kränze zu lassen. Selbst ist gesorgt, daß es dem zur Familie gehörenden Vogel nicht an grünem, frischem Dache seiner Käfichtlaube fehle.

Nun ist es die schönste Zeit für kurze Spaziergänge, für trauliches Gespräch an schaurigen Abenden. Jede häusliche Empfindung wird rege, freundschaftliche Sehnsucht vermehrt sich, das Bedürfnis der Musik läßt sich lebhafter fühlen, und nun mag sich der Kranke selbst gern an den traulichen Zirkel anschmiegen, und ein verscheidender Freund kleidet sich in die Farbe der scheidenden Jahrszeit.

Denn so gewiß nach überstandenem Winter ein Frühling zurückkehrt, so gewiß werden sich Freunde, Gatten, Verwandte in allen Graden wiedersehen, sie werden sich in der Gegenwart eines alliebenden Vaters wiederfinden und alsdann erst unter sich und mit allem Guten ein Ganzes bilden, wornach sie in dem Stückwerk der Welt nur vergebens hinstrebten. Eben so ruht auch schon hier des Dichters Glückseligkeit auf der Überzeugung, daß alles der Vorsorge eines weisen Gottes sich zu erfreun habe, der mit seiner Kraft jeden erreicht, und sein Licht über alle leuchten läßt. So bewirkt auch die Anbetung dieses Wesens im Dichter die höchste Klarheit und Vernünftigkeit und zugleich eine Versicherung, daß jene Gedanken, jene Worte, mit denen er unendliche Eigenschaften faßt und bezeichnet, nicht leere Träume noch Klänge sind, ein Wonnegefühl eigener und allgemeiner Seligkeit, in welcher alles Widerstrebende, Besondere, Abweichende, aufgelöst und verschlungen wird.

Wir haben bisher die sanfte, ruhige, gefaßte Natur unseres Dichters mit sich selbst, mit Gott, mit der Welt in Frieden gesehen; sollte denn aber nicht eben jene Selbstständigkeit, aus der sich ein so heiteres Leben nach den inneren Kreisen verbreitet, öfter von außen bestürmt, verletzt und zu leidenschaftlicher Bewegung aufgeregt werden? Auch die Frage läßt sich vollständig aus den vorliegenden Gedichten beantworten.

Die Überzeugung, durch eigentümliche Kraft, durch festen Willen, aus beengenden Umständen sich hervorgehoben, sich aus sich selbst ausgebildet zu haben, sein Verdienst sich selbst schuldig zu sein, solche Vorteile nur durch ein ungefesseltes Emporstreben des Geistes erhalten und vermehren zu können, erhöht das natürliche Unabhängigkeitsgefühl, das, durch Absonderung von der Welt, immer mehr gesteigert, in den unausweichlichen Lebensverhältnissen manchen Druck, manche Unbequemlichkeit erfahren muß.

Wenn daher der Dichter zu bemerken hat, daß so manche Glieder der höheren Stände ihre angeborenen großen Vorrechte und unschätzbaren Bequemlichkeiten vernachlässigen, und hingegen Ungeschick, Rohheit, Mangel an Bildung bei ihnen obwaltet; so kann er einen solchen Leichtsinn nicht verzeihen. Und wenn sie noch überdies mit anmaßendem Dünkel dem Verdienst begegnen, entfernt er sich mit Unwillen, verbannt sie launicht von heiteren Gastmählern und Trinkzirkeln, wo offene Menschlichkeit vom Herzen ins Herz strömen, und gesellige Freude das liebenswürdigste Band knüpfen soll.

Mit heiligem, feierlichen Ernst zeigt er das wahre Verdienst dem falschen gegenüber, straft ausschließenden Dünkel bald mit Spott, bald sucht er den Irrungen mit Liebe entgegenzuwirken.

Wo aber angeborene Vorteile durch eigenes Verdienst erhöht werden, da tritt er mit aufrichtiger Achtung hinzu, und erwirbt sich die schätzenswertesten Freunde.

Ferner nimmt er einigen vorübergehenden Anteil an jenem dichterischen Freiheitssinn, der in Deutschland im Genuß zehnjährigen Friedens durch poetische Darstellungen geweckt und unterhalten wurde. Mancher wohlgesinnte Jüngling, der das Gefühl akademischer Unabhängigkeit ins Leben und in die Kunst hinübertrug, mußte in der Verknüpfung bürgerlicher Administration so manches drückende und unregelmäßige finden, daß er, wo nicht im besonderen, doch im allgemeinen, auf Herstellung von Recht und Freiheit zu sinnen für Pflicht hielt. Kein Feind drohte dem Vaterlande von außen, aber man glaubte sie zu Hause, auf dieser und jener Gerichtsstelle, auf Rittersitzen, in Kabinetten, an Höfen zu finden; und da nun gar Klopstock, durch Einführung des Bardenchors in den heiligen Eichenhain, der deutschen Phantasie zu einer Art von Boden verhalf, da er die Römer wiederholt mit Hülfe des Gesanges geschlagen hatte: so war es natürlich, daß unter der Jugend sich berufene und unberufene Barden fanden, die ihr Wesen und Unwesen eine Zeitlang vor sich hintrieben, und man wird unserem Dichter, dessen reines Vaterlandsgefühl sich später auf so manche edle Weise wirksam zeigte, nicht verargen, wenn er auch an seinem Teil, um die Sklavenfessel der Wirklichkeit zu zersprengen, den Rhein gelegentlich mit Tyrannenblut färbt.

Auch ist in der Folge die Annäherung zum französischen Freiheitskreise nicht heftig, noch von langer Dauer, bald wird unser Dichter durch die Resultate des unglücklichen Versuchs abgestoßen, und kehrt ohne Harm in den Schoß sittlicher und bürgerlicher Freiheit zurück.

Innerhalb des Kunstkreises läßt er denn auch manchmal seinen Unmut sehen, besonders äußert er sich kräftig, ja man kann sagen hart gegen jene vielfachen unsicheren Versuche, durch die das deutsche Dichterwesen eine Zeitlang in Verwirrung geriet. Hier scheint er nicht genugsam zu sondern, alles mit gleicher Verdammnis zu strafen, da doch selbst aus diesem chaotischen Treiben manches schätzenswerte hervorging. Doch sind Gedichte und Stellen dieser Art wenige, gleichnisweise gefaßt, und ohne Schlüssel kaum verständlich; deswegen man des Dichters sonstige billige Denkweise auch hier unterlegen darf.

Daß überhaupt eine so zarte, in sich gekehrte, von der Welt weggewandte Natur, auf ihrem Lebenswege nicht durchaus gefördert, erleichtert und in heiterer Tätigkeit gekräftigt worden, läßt sich wohl vermuten. Doch wer kann sagen, daß ihm ein solches Los gefallen sei! Und so finden wir schon in manchen früheren Gedichten ein gewisses zartes Unbehagen, das durch den Jubel des Rundgesanges, wie durch die heitere Feier der Freundschaft und Liebe, unvermutet hindurchblickt, und manches herrliche Gedicht stellenweis einer allgemeineren Teilnahme entzieht. Nicht weniger bemerken wir spätere Gesänge, in denen gehindertes Streben, verkümmerter Wachstum, gestörtes Erscheinen nach außen, Kränkungen mancher Art mit leisen Lauten bedauert, und verlorene Lebensepochen beklagt werden. Dann aber tritt er mit Macht und Gewalt auf, kämpft hartnäckig wie um sein eigenes Dasein, dann läßt er es an Heftigkeit der Worte, am Gewicht der Invektiven nicht fehlen, wenn die erworbene heitere Geistesfreiheit, dieser aus dem Frieden mit sich selbst hervorleuchtende ruhige Blick über das Weltall, über die sittliche Ordnung desselben, wenn die kindliche Neigung gegen den, der alles leitet und regiert, einigermaßen getrübt, gehindert, gestört werden könnte. Will man dem Dichter dieses Gefühl allgemeinen heiligen Behagens rauben, will man irgend eine besondere Lehre, eine ausschließende Meinung, einen beengenden Grundsatz aufstellen, dann bewegt sich sein Geist in Leidenschaft, dann steht der friedliche Mann auf, greift zum Gewehr, und schreitet gewaltig gegen die ihn so fürchterlich bedrohenden Irrsale, gegen Schnellglauben und Aberglauben, gegen alle, den Tiefen der Natur und des menschlichen Geistes entsteigenden Wahnbilder, gegen Vernunftverfinsternde, den Verstand beschränkende Satzungen, Macht- und Bannsprüche, gegen Verketzerer, Baalspriester, Hierarchen, Pfaffengezücht, und gegen ihren Urahn, den leibhaftigen Teufel.

Sollte man denn aber solche Empfindungen einem Manne verargen, der ganz von der freudigen Überzeugung durchdrungen ist, daß er jenem heiteren Lichte, das sich seit einigen Jahrhunderten, nicht ohne die größten Aufopferungen der Beförderer und Bekenner im Norden verbreitete, mit vielen anderen, das eigentliche Glück seines Daseins schuldig sei? Sollte man zu jener scheinbar gerechten, aber parteisüchtig grundfalschen Maxime stimmen? welche, dreist genug, fodert: wahre Toleranz müsse auch gegen Intoleranz tolerant sein. Keineswegs! Intoleranz ist immer handelnd und wirkend, ihr kann auch nur durch intolerantes Handeln und Wirken gesteuert werden.

Ja, wir begreifen um so mehr die leidenschaftlichen Besorgnisse des Dichters, da ihm noch von einer anderen Seite jene düsteren Übermächte drohen; sie drohen, ihm einen Freund zu rauben, einen Freund in dem wichtigsten Sinne des Wortes. Wenn unser Dichter, wie wir gesehen, so liebevoll an allem hangen kann, was nicht einmal seine Neigung zu erwiedern vermag, wie muß er sich erst ans Teilnehmende, an Menschen, an seines Gleichen, an vorzügliche Naturen anschließen, und sie zu seinen kostbarsten Gütern zählen!

Gebildete, nach Bildung strebende Männer sucht frühe sein Geist, sein Gefühl auf. Schon schweben Hagedorn und Kleist, die erstverschiedenen, gleichsam selig gesprochenen deutschen Dichtergestalten, in die ätherischen Wohnungen voraus, auf sie ist der Blick jüngerer Nachkömmlinge gerichtet, ihre Namen werden in frommen Hymnen gefeiert. Nicht weniger sieht man die lebendig vorstehenden, vorantretenden gebildeten Meister und Kenner, Klopstock, Lessing, Gleim, Gerstenberg, Bodmer, Ramler, von den neu aufsprießenden, im Hochgefühl eigenen Vermögens, mit kraftvoller Selbstschätzung und würdiger Demut verehrt. Schon erscheinen die Namen Stolberg, Bürger, Boie, Miller, Hölty, in freundschaftlicher Anerkennung des Ruhmes wert, den ihnen das Vaterland bald bestätigen sollte.

In diesem Chor von Freunden, von Verehrten setzt der Dichter ohne bedeutenden Verlust lange sein Leben fort; ja, es gelingt ihm, die Fäden akademischer Frühzeit, durch Freundschaft, Liebe, Verwandtschaft, eheliche Verbindung, durch fortgesetzte Teilnahme, durch Reisen, Besuch und Briefwechsel, in seinen übrigen Lebensgang zu verweben.

Wie muß es daher den liebenswürdig Verwöhnten schmerzen, wenn, nicht der Tod, sondern abweichende Meinung, Rückschritt in jenes alte, von unseren Vätern mit Kraft bekämpfte, seelenbedrückende Wesen, ihm einen der geliebtesten Freunde auf ewig zu entreißen droht! Hier kennt er kein Maß des Unmuts, der Schmerz ist grenzenlos, den er bei so trauriger Zerstückelung seiner schönen Umgebungen empfindet. Ja, und er würde sich aus Kummer und Gram nicht zu retten wissen, verlieh ihm die Muse nicht auch zu diesem Falle die unschätzbare Gabe, jenes bedrängende Gefühl, am Busen eines teilnehmenden Freundes, harmonisch gewaltig auszustürmen.

Wenden wir uns nun von dem, was unser Dichter als allgemeines und besonderes Gefühl ausspricht, wieder zurück zu seinem darstellenden Talent, so drängen sich uns mancherlei Betrachtungen auf.

Eine, vorzüglich der Natur, und man kann sagen der Wirklichkeit gewidmete Dichtungsweise nimmt schon da ihren Anfang, wo der übrigens unpoetische Mensch dem, was er besitzt, dem, was ihn unmittelbar umgibt, einen besonderen Wert aufzuprägen geneigt ist. Diese liebenswürdige Äußerung der Selbstigkeit, wenn uns die Erzeugnisse des eigenen Grundes und Bodens am besten schmecken, wenn wir glauben durch Früchte, die in unserem Garten reiften, auch Freunden das schmackhafteste Mahl zu bereiten, diese Überzeugung ist schon eine Art von Poesie, welche der künstlerische Genius in sich nur weiter ausbildet, und seinem Besitz nicht nur durch Vorliebe einen besondern, vielmehr durch sein Talent einen allgemeinen Wert, eine unverkennbare Würde verleiht, und sein Eigentum dergestalt den Zeitgenossen, der Welt und Nachwelt zu überliefern und anzueignen versteht.

Diese gleichsam zauberische Wirkung bringt eine tieffühlende, energische Natur durch treues Anschauen, liebevolles Beharren, durch Absonderung der Zustände, durch Behandlung eines jeden Zustandes in sich als eines Ganzen, schaffend hervor, und befriedigt dadurch die unerläßlichen Grundfoderungen an inneren Gehalt; aber damit ist noch nicht alles geschehen, auch äußerer Mittel bedarf es, um aus jenem Stoff einen würdigen Körper zu bilden. Diese sind Sprache und Rhythmus! Und auch hier ist es, wo unser Dichter seine Meisterschaft aufs höchste bewährt.

Zu einem liebevollen Studium der Sprache scheint der Niederdeutsche den eigentlichsten Anlaß zu finden. Von allem, was undeutsch ist, abgesondert, hört er nur um sich her ein sanftes behagliches Urdeutsch, und seine Nachbarn reden ähnliche Sprachen. Ja, wenn er ans Meer tritt, wenn Schiffer des Auslandes ankommen, tönen ihm die Grundsylben seiner Mundart entgegen, und so empfängt er manches eigene, das er selbst schon aufgegeben, von fremden Lippen zurück, und gewöhnt sich deshalb mehr als der Oberdeutsche, der an Völkerstämme ganz verschiedenen Ursprungs angrenzt, im Leben selbst auf die Abstammung der Worte zu merken.

Diesen ersten Teil der Sprachkunde läßt sich unser Dichter gewissenhaft angelegen sein. Die Ableitung führt ihn auf das Bedeutende des Wortes, und so stellt er manches gehaltvolle wieder her, setzt ein mißbrauchtes in den vorigen Stand, und wenn er dabei mit stiller Vorsicht und Genauigkeit verfährt: so fehlt es ihm nicht an Kühnheit, sich eines harten, sonst vermiedenen Ausdrucks an rechter Stelle zu bedienen. Durch eine so genaue Schätzung der Worte, durch den bestimmten Gebrauch derselben entsteht eine gefaßte Sprache, die sich, von der Prosa weg, unmerklich in die höheren Regionen erhebt, und daselbst poetisch für sich zu schalten vermögend ist. Hier erscheinen die dem Deutschen sich darbietenden Wortfügungen, Zusammensetzungen und Stellungen zu ihrem größten Vorteil, und man kann wohl sagen, daß sich darunter unschätzbare Beispiele finden.

Und nicht bloß diesen ans Licht geförderten Reichtum einer im tiefsten Grunde edlen Sprache bewundern wir, sondern auch, was der Dichter bei seiner hohen Foderung an die Rhythmik durch Befolgung der strengsten Regeln geleistet hat. Ihn befriedigte nicht allein jene Gediegenheit des Ausdrucks, wo jedes Wort richtig gewählt ist, keines einen Nebenbegriff zuläßt, sondern bestimmt und einzig seinen Gegenstand bezeichnet; er verlangt zur Vollendung Wohllaut der Töne, Wohlbewegung des Periodenbaues, wie sie der gebildete Geist aus seinem Innern entwickelt, um einen Gegenstand, ein Empfundenes völlig entsprechend und zugleich bezaubernd anmutig auszudrücken. Und hier erkennen wir sein unsterbliches Verdienst um die deutsche Rhythmik, die er, aus so manchen schwankenden Versuchen, einer für den Künstler so erwünschten Gewißheit und Festigkeit entgegen hebt. Aufmerksam horchte derselbe den Klängen des griechischen Altertums, und ihnen fügte sich die deutsche Sprache zu gleichem Wohllaute. So enthüllte sich ihm das Geheimnis der Sylbenmaße, so fand er die innigste Vereinigung zwischen Poesie und Musik, und ward, unter dem Einflusse eines freundschaftlichen Zusammenlebens mit Schulz, in den Stand gesetzt, solche Früchte einer gemeinsamen Anstrengung seinem Vaterlande auf praktischem und theoretischem Wege mitzuteilen.

Besonders angenehm ist das Studium jener Gedichte, die sich der Form nach als eine Nachbildung der aus dem Altertume geretteten ankündigen. Belehrend ist es zu beobachten, wie der Dichter verfährt. Hier zeigt sich nicht etwa nur ein ähnlicher Körper notdürftig wiederhergestellt; derselbe Geist vielmehr scheint ebendieselbe Gestalt abermals hervorzubringen.

Wie nun der Dichter den Wert einer bestimmten und vollendeten Form lebhaft anerkennt, die er bei seinen letzten Arbeiten völlig in der Gewalt hat: so wendet er eben diese Forderung auch gegen seine früheren Gedichte, und bearbeitet sie musterhaft nach den Gesetzen einer in ihm später gereiften Vollkommenheit.

Haben daher Grammatiker und Techniker jene Leistungen besonders zu würdigen: so liegt uns ob, daß wir das übernommene Geschäft den Dichter aus dem Gedicht, das Gedicht aus dem Dichter zu entwickeln, mit wenigen Zügen vollenden.

Auch innerhalb des geschlossenen Kreises der diesmal anzuzeigenden vier Bände, finden wir ihn, wie er sich zum vorzüglichen Übersetzer jener Werke des Altertums nach und nach ausbildet.

Durch den entschiedenen, obengepriesenen Sieg der Form über den Stoff, durch manches, von äußerer Veranlassung völlig unabhängige Gedicht, zeigt uns der Dichter, daß es ihm frei stehe, das Wirkliche zu verlassen und ins Mögliche zu gehen, das Nahe wegzuweisen und das Ferne zu ergreifen, das Eigene aufzugeben und das Fremde in sich aufzunehmen. Und wie man zu sagen pflegte, daß neben dem römischen Volke noch ein Volk von Statuen die Stadt verherrliche: so läßt sich von unserem Dichter gleichfalls aussprechen, daß in ihm, zu einer echt deutschen wirklichen Umgebung eine echt antike geistige Welt sich geselle.

Ihm war das glückliche Los beschieden, daß er den alten Sprachen und Literaturen seine Jugend widmete, sie zum Geschäft seines Lebens erkor. Nicht zerstückeltes, buchstäbliches Wissen war sein Ziel, sondern er drang bis zum Anschauen, bis zum unmittelbaren Ergreifen der Vergangenheit in ihren wahresten Verhältnissen, er vergegenwärtigte sich das Entfernte, und faßte glücklich den kindlichen Sinn, mit welchem die ersten gebildeten Völker sich ihren großen Wohnplatz die Erde, den übergewölbten Himmel, den verborgenen Tartarus mit beschränkter Phantasie vorgestellt, er ward gewahr, wie sie diese Räume mit Göttern, Halbgöttern und Wundergestalten bevölkerten, wie sie jedem einen Platz zur Wohnung, zur Wanderung den Pfad bezeichneten. Sodann, aufmerksam auf die Fortschritte des menschlichen Geistes, der nicht aufhörte zu beobachten, zu schließen, zu dichten, ließ der Forscher die vollkommene Vorstellung, die wir Neuern von dem Erd- und Weltgebäude, so wie von seinen Bewohnern besitzen, aus ihren ersten Keimen sich nach und nach entwickeln und auferbauen. Wie sehr dadurch Fabel und Geschichte gefördert worden, ist niemand mehr verborgen, und sein Verdienst wird sich immer glänzender zeigen, je mehr dieser Methode gemäß nach allen Seiten hin gewirkt, und das Gesammelte geordnet und aufgestellt werden kann.

Auf die Weise ward sein großes Recht begründet, sich vorzüglich an den Urbarden anzuschließen, von ihm die Dichterweihe zu empfangen, ihn auf seinen Wanderungen zu begleiten, um gestärkt und gekräftigt unter seine Landsleute zurückzukehren. So, mit festhaltender Eigentümlichkeit, wußte er das Eigentümliche jedes Jahrhunderts, jedes Volkes, jedes Dichters zu schätzen, und reichte die älteren Schriften uns mit geübter Meisterhand dergestalt herüber, daß fremde Nationen künftig die deutsche Sprache, als Vermittlerin zwischen der alten und neuen Zeit, höchlich zu schätzen verbunden sind.

Und so werde zum Schluß das Hochgefühl gelungener unsäglicher Arbeit, und die Einladung zum Genusse des Bereiteten mit des Dichters eigenen Worten ausgesprochen:

Mir trug Lyäos, mir der begeisternden
Weinrebe Sprößling; als, dem Verstürmten gleich
Auf ödem Eiland‘, ich mit Sehnsucht
Wandte den Blick zur Hellenenheimat.

Schamhaft erglühend, nahm ich den heiligen
Rebschoß, und hegt‘ ihn, nahe dem Nordgestirn,
Abwehrend Luft und Ungeschlachtheit,
Unter dem Glas‘ in erkargter Sonne.

Vom Trieb der Gottheit, siehe, beschleuniget,
Stieg Rankenwaldung übergewölbt, mich bald
Mit Blüte, bald mit grünem Herling,
Bald mit geröteter Traub‘ umschwebend.

Im süßen Anhauch träumt‘ ich, der Zeit entflohn,
Wettkampf mit altertümlichem Hochgesang.
Wer lauter ist, der koste freundlich,
Ob die Ambrosiafrucht gereift sei.

***

Lyrische Gedichte von Johann Heinrich Voß. 1802. Königsberg, b. Nikolovius. Erster Band, Oden und Elegieen. 1–3 Buch 340 S. Zweiter Band, Oden und Lieder. 1–3 Buch 326 S. Dritter Band, Oden und Lieder, 4–6 Buch 346 S. Vierter Band, Oden und Lieder. 7 Buch. Vermischte Gedichte, Fabeln und Epigramme. 399 S. 8.

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.