Ruth

 

Sie müßte eine Patronesse haben – etwa die Kaiserin von Island oder eine reiche Eskimotochter; vielleicht wird es eine Inger auf Östrot sein. Ruth ist eine Tragödin. Schon seit zwei Jahren spielt sie mit Vorliebe Partien aus Ibsens Werken. Ihre Dreijahrärmchen heben sich zürnend zum Himmel: »Götter!« Ich habe Ruth nie lachen sehn und auch weinen nicht, wie andere Kinder. Ruth lacht mit Vorsicht, plötzlich hält ihr Gesichtchen wie eine kleine Sonne zu leuchten inne – und weinen tut Ruth, um wieder zu lachen. Und am Abend dauert es eine Weile, bis sie einschläft, gerne läßt sie einen schmalen Guckspalt offen für den Morgen, ob auf der Heizung ein Schokoladencakes liegt, von einem verkleideten Onkel als Nikolas oder einer Zuckerhäuschentante gespendet. Ruth gastierte zum erstenmal im Vorgarten des Cafés des Westens, sie war damals zwei Jahre alt und trug ein weißes Kleid über glänzenden Stoff von der Farbe ihres Mündchens, das auf einmal zum Mund wurde, wie gehext, strenge Furchen zog; ich erschrak. Und noch dazu der finstere Ibsenblick, der mich furchtbar einschüchterte. Immer tiefer sank Ruths Lockenköpfchen auf die Strohröhre herab, die vor ihm im Glase steckte: »So trinkt ›Er‹ Limonade.« »Er« hängt im mächtigen Rahmen im Zimmer ihrer Muttertragödin (Beß Brenk) und immer steht Ruth vor seinem Angesicht und besieht es sich, ob es auch noch so macht wie »sie«. In Klein-Ruth schlägt das große Ibsenherz, und als Ibsen sein Puppenheim schuf, pochte sicher ein kleines Anhängsel an seinem schweren Schlag, ein Goldherzchen, in dessen Mitte ein himmelblaues Perlchen rauschte. Ruth springt vom Stuhl, tanzt in ihren niedlichen Goldkäferstiefelchen, die Röcke nach unten geglättet – nun hat sie ein langes Kleid an. Sie tanzt einen herablassenden, zurückhaltenden Tanz; da, als ob ein Sausevogel durch ihren Kopf fliegt – fort will ihre kleine Seele – ihre Beinchen sind ganz nackt; über Stühle und Tische hinweg – Ruth, Ruth! Ich glaube, sie sitzt oben auf dem Ast des jungen Baumes vor dem Caféhaus. Was soll man dazu sagen – Genie? Fort mit dieser alten Denkmalhülle, sie tut dem Kind weh, aber in ein Wunder wollen wir die wundervolle, kleine Ruth kleiden; in einem goldenen Bettchen soll Ruth schlafen und von einem goldenen Tellerchen und einem goldenen Löffelchen essen und auf dem Becher, aus dem Ruth fürder trinken soll, steht in Goldbuchstaben geschrieben: Ruth. Sie schüttelt den Kopf wie eine Herrscherin, ich glaube, sie ist beleidigt, nicht um der vielen goldenen Sachen wegen, der Ober hat ihr Zucker schenken wollen; sie gleitet schwerfällig vom Stuhl, streckt den Leib wie eine Kugel vor, ihr Engelsgesichtchen bekommt Runzeln – »dicke Frau is satt«.

 

 

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Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920

Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.

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