Mail Art oder die Kunst der Korrespondenz

„Days without mail art dull days“ heißt mein melancholisch-ironisches, von Ruud Janssen inspiriertes Mail-Art-Motto. Wie die anderen heißen?

Ray Johnson, der 1962 mit der Gründung der New York Correspondance School die Bewegung der internationalen Mail Art ins Leben rief, ist tot. Er kam 1995 im Alter von 67 Jahren ums Leben – aber Monate nach seinem mysteriösen Sturz von der Sag Harbor Bridge in Long Island erhielt ich eine Projekt-Dokumentation aus London, in der auch er noch/wieder vertreten war: Ray Johnson und seine Idee leben weiter („Mail artists like Ray never die – they return to senders„, Chuck Welch/USA), ja Mail Art boomt: Immer mehr Künstler/Schriftsteller aller Art entdecken jene abseits des kühlen kommerziellen Kunstbetriebs existierende humankünstlerische Nische für sich & und vermehren so die Zahl derer, die sich in dieser weltumspannenden Künstlervereinigung in der Hoffnung zusammentun, „eine super-sozialisierte Gruppe zu schaffen, mit dem Ziel, mehr Freundschaft, Individualismus, Empfindsamkeit, Freiheit, Liebe, Hoffnung, Vertrauen, Toleranz, Pluralität, Demokratie, sozialen Ausgleich, Frieden in der Welt und in jedem Menschen zu entfachen.“ (Henning Mittendorf, „Mail Art: Mein Traum von Freiheit und Liebe“). Das ist der (geistige) Boden, auf dem der typische Mailartist tanzt: Anything goes! Allen äußerlichen Unterschieden zum Trotz verbindet der leidenschaftliche Wunsch nach einer gemeinsamen Sprache Menschen, Ausdrucksformen, Stile zu einer eigenwilligen kulturellen Energie, die die zahlreichen (nur scheinbar divergierenden) Einzelteile zu einem kaleidoskopischen Ganzen verschmelzt…

Das Mail-Art-Konzept der aktiven Toleranz begreift sich als Ort der Solidarität, als Ort gleichwertigen Zugegenseins, als Ort der Vielfalt, des Verständnisses, der Lust auf Fremdes; diese international organisierte Form des lebendigen Miteinanders, indem ich – beispielsweise – auf der einfachsten Mail-Art-Stufe per Brief oder Karte künstlerischen Austausch mit Mailartisten pflege, ist 1e der wesentlichen Änderungen, die Johnson vom „wahrhaftigen“ (kommunikationsorientierten) Künstler verlangt; sie wird dem Show-Business-Zirkus des hochgepuschten Kunstrummelstars merkantil ausgerichteter Galeristen bzw. dem Mythos des kokonartig im Elfenbeinturm eingesponnenen Egozentrikers bewußt entgegengesetzt, & es funktioniert: Mail Art ist bedingungslos gemeinschaftlich, möglichst interaktiv & prinzipiell unkommerziell – eventuelle Einnahmen dienen ausschließlich der Deckung von Unkosten. So verwundert es nicht, daß die Kunst nirgends brotloser ist als in der Mail Art. Der Mailartist buttert immer dazu… & gewinnt trotzdem: Der „Kommunikationskünstler„, wie Hartmut Andryczuk (Berlin) ihn nennt, ist weltweit überall dabei: Ausstellungen, Internet, Kongresse, Lesungen, Performances, Publikationen, Seminare usw. garantieren, daß der Mailartist mit seiner persönlichen „Art“ (oft zeitgleich) in mehreren Erdteilen regelrecht allgegenwärtig ist…

Aber – was ist eigentlich Mail Art? Mail Art sei die sublimste Form der Korrespondenz, meinte spontan der Kaller Kunstsammler Krüger beim Betrachten der bunt bemalten oder bedruckten Briefumschläge in meinem Mail-Art-Archiv. Freilich: „Mail Art is much more than just sending out a decorated envelope„, wie der seit Jahren um 1e treffende Definition des Phänomens Mail Art ringende Niederländer Ruud Janssen („I’m still looking for the unfound words to explain this strange form of communication“) in seinen „Statements“ betont. In der Tat handelt es sich bei der Mail Art um 1e ernst zu nehmende Kunstrichtung, mehr noch: 1e Weltanschauung, deren Offenheit („open-mindedness„) & Drang nach natürlicher Vernetzung (nicht von ungefähr nennen Mailartisten sich häufig auch „networker„) Grundpfeiler 1er Kunst- & Lebenseinstellung sind, die zumindest im kleinen Kreis Mittendorfs vielleicht hochgestochen, möglicherweise gar banal klingende Zielsetzung durchaus in die Tat umzusetzen versucht. Auch der Uruguayer Clemente Padin verweist in seinem Manifest darauf, daß Mail Art keine Erneuerung der Kunst im formalen Sinne bedeutet – Stil, Technik, Methode & Wahrnehmungsweise sind vollkommen an die Person des „Korrespondenz-Künstlers“ gebunden – & somit ist auch kein weiterer (ausgrenzender) Ismus entstanden: Das einfache Konzept des Verschickens von Kunst aller Art per Post an die Adresse 1es anderen Mailartisten ist gleichzeitig die von dem New Yorker Mailartisten Mark Block als „revolutionär“ apostrophierte Neuerung: Den Einbahnstraßen der Museen, vor allem aber der (Massen)Medien, in denen Milliarden von Empfängern unbekannt sind & bleiben, wird der Austausch von Gedanken, Ideen, Formen usw. entgegengehalten. Kommunikation mit Gleichgesinnten: Im Gegensatz zum bereits angesprochenen Klischee vom weltfremden, ausschließlich in sich selbst versunkenen Künstler liebt der Mailartist Kontakte, die er weltweit sucht & nach denen er süchtig wird! Das alltägliche ungeduldige Erwarten der Post ist 1e der typischen Eigenschaften des Mailartisten, die Außenstehende oft nicht nachvollziehen können & als „Spinnerei“ abtun: verständlich, denn Mail Art ist eine Droge, 1 Virus, 1e Religion, & nur der Süchtige, der Befallene, der Eingeweihte kann letztlich nachvollziehen, was Mail Art in nuce bedeutet…

Obwohl Mail Art keine Schranken kennt („Mail Art über alles: There is no ‚East German Mail Art‘, there is no ‚American Mail Art‘. There is only Human Mail Art!“ (Kingdom of Edelweiss, USA) & jeder künstlerisch tätige Mensch ohne Aufnahmeprüfung oder Ausfüllen von Formularen sofort Mailartist ist, wenn er es sein will, indem er mit dem Versenden von „Kunst per Post“ an eine von ihm ausgewählte Adresse beginnt, stellt die Mail-Art-Szene weltweit tatsächlich nur 1e winzige – & daher auch von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene – Nische im Koloß des Kunstbetriebs dar. Ganz im Gegensatz zu diesem „offiziellen“ Kunstbetrieb der sogenannten „etablierten“ Galerien, Künstler, Magazine, Museen usw., zu denen der nicht als solcher anerkannte Künstler ohne Beziehungen kaum Zugang findet, wird im Mail-Art-Mikrokosmos jeder Mensch mit offenen Armen aufgenommen, der Kunst, Korrespondenz & Kommunikation liebt, d.h. erst diese Kombination als eigentlich lebendige & dynamische Kunst erkennt, & der bereit ist, sich Mühe zu geben: „Mail Art kann jeder“, lautet die 1e, frei nach Joseph Beuys, einem der philosophischen Vorreiter der aus der Fluxus-Bewegung heraus entstandenen Mail Art, formulierte Losung, „Mail Art ist schön, macht aber viel Arbeit“ die – durch Karl Valentin inspirierte – andere, die automatisch bedeutet, daß es eine Hierarchie unter Mailartisten nicht geben kann: Als ich den Mail-Art-Nestor Henning Mittendorf bei der Eröffnung des Schachtelmuseums persönlich kennenlernte, siezte ich ihn, woraufhin er lachend meinte: „Mailartisten duzen sich!“ Auf meine Entgegnung, das müsse doch von ihm kommen, wurde er ganz ernst und betonte, daß echte Mailartisten immer nur gemeinsam auf einer Stufe stehen wollen: Wer das nicht begreife, habe die wirklich demokratische Tiefenstruktur der Mail Art nicht erfaßt. Aus diesem Grunde lade ich auch immer Kinder zu meinem Projekt ein, denn Kinder sind ja überhaupt die wahren Mailartisten! (Die Japaner übrigens sehen die Mail Art bewußt aus der Tradition der kindlichen Brieffreundschaften heraus erwachsen!)…

Neben dem bereits vorgestellten Initiationsritus des Mailartisten durch Kontaktaufnahme mit einer beliebigen (Mail-Art)-Adresse und sich anschließendem Austausch existieren verschiedene gleichrangige Organisations- bzw. Ausdrucksformen der Mail Art, die alle die internationale Teilnahme ermöglichen: Die Mail-Art-Ausstellung, das Mail-Art-Magazin, das Mail-Art-Künstlerbuch, das Mail-Art-Archiv & der Mail-Art-Chain-Letter. (Die aktuellsten Kommunikationsmedien sind natürlich Fax & E-Mail via Computer: Obwohl ich diesen Text auf einen PC schreibe, interessieren mich weder Internet noch Faxgerät – das ich erst gar nicht besitze – aber mittlerweile bedienen sich schon zahlreiche Mailartisten dieser modernen Möglichkeiten, die sicherlich ihre Vorzüge haben + wieder eine ganz neue & andere Mail Art hervorbringen werden.)…

Mailartisten tauschen nicht nur fertige Kunstbotschaften aus (vom bunten Brief bis zum handgemachten Buch ist einfach alles möglich), nein, oft fordern sie 1en oder mehrere Networker auf, ein Kunstwerk koproduktiv herzustellen. So entstehen gelegentlich sogar Unikate von Kollaborations-Büchern, indem 1 zunächst leeres Buch von Adresse zu Adresse geschickt wird, um schließlich als vollkommen handgemachtes Kunstwerk wieder beim Initiator zu landen. (Die Abhängigkeit von der internationalen Organisation POST wird hier nur allzu deutlich: Wehe, 1e solche Büchersendung geht einmal verloren, wie ich das zur Zeit leider (wieder einmal) befürchten muß: Unersetzlich ist der Verlust 1es solchen – einmaligen! – Mail-Art-Objektes.) Aus dieser ersten Zusammenarbeit heraus ergeben sich immer wieder kongeniale Mail-Art-Beziehungen, in denen über lange Zeiträume (& trotz weiter Entfernungen) wunderbare Gemeinschaftskunstwerke entstehen, wie beispielsweise der Lyriker und der Linolschneider, die sich irgendwo in der Mail-Art-Welt über den Weg gelaufen sind, irgendwann, gleichsam naturgemäß, 1 gemeinsames Buch mit Bildern und Gedichten machen werden, 1 Buch, das quasi das wie selbstverständlich wirkende Endprodukt 1es längeren intensiven Austauschs ist. Der Berliner Hybriden Verlag hat 1995 1e Ausstellung veranstaltet, die ausschließlich Kunstwerke dieser Art (Kollaborationsarbeiten) präsentierte.

Hier erfährt man konkret, was Andryczuk mit seiner Begriffschöpfung „kosmographische Poesie“ meint, die m.E. nahtlos an Gomringers Idee der Universalität der visuellen Poesie anknüpft. Erfreulich, daß diese Form der Ausstellung keine Eintagsfliege bleibt: Die griechische Mailartistin Litsa Spathi hat in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Heidelberg die Ausstellung „Nobody – Litsa & The Men“ organisiert, in der Kollaborationsarbeiten experimenteller Poesie von Spathi mit knapp 50 Mailartisten aus 20 Ländern gezeigt werden. 1e sicherlich spannende Geschichte! Genauso spannend wie die Aktion „Help me to paint“, zu der der abwechselnd in Hamburg und Santiago de Chile lebende Kommunikationskünstler Hans Braumüller einlud. Im gleichnamigen Katalog fand ich 1en hervorragenden Essay zur Mail Art von Clemente Padin, der 1 weiterer Beweis dafür ist, daß Mail Art sich auch theoretisch mit ihren phänomenalen Eigenheiten auseinandersetzt & nicht, wie ihre Kritiker behaupten, im reinen Kopierspiel erstickt. Hier werden wieder einmal die schwarzen Schafe 1er Bewegung – die es natürlich in mancherlei Hinsicht gibt – zur Unterstützung des falschen Standpunktes feindseliger Stimmen künstlich aufgewertet. Der Mail Art tut das übrigens keinen Abbruch, da sie zur Zeit in sich sehr gefestigt & lebendig ist – sie ist 1e Bewegung, die eindeutig im Aufwärtstrend begriffen ist & der sich, wie schon angedeutet, immer mehr Menschen zuwenden.
Eine solche Entwicklung vermutete bereits John Held in seinem 1991 veröffentlichten Buch „Mail Art. An Annotated Bibliography“ (Metuchen, N.J. & London: The Scarecrow Press), das auf 534 Seiten Essays und die ziemlich komplette Auflistung aller in über 30 Jahren Mail-Art-Geschichte erschienenen theoretischen Titel bietet…

Mail-Art-Ausstellungen werden grundsätzlich – abgesehen von den Kollaborations-Ausstellungen, bei denen die Einladung naturgemäß direkt erfolgt – weltweit ausgeschrieben. Dank „Global Mail“, dem in San Francisco von Ashley Parker Owens herausgegebenen Mail-Art-News-Letter, der im Schnitt etwa 500 Einladungen aus etwa 50 Ländern umfaßt – oder auch Spencer Selbys „Newsletter“ (ebenfalls San Francisco) erhält man leicht Kenntnis von 1em Großteil der Mail-Art-Aktivitäten, die sich Mailartisten selbstverständlich auch mit Flyern, Briefen, Karten direkt untereinander übermitteln: Besonders sei hier der Belgier Guido Vermeulen hervorgehoben, der mittlerweile 1e wichtige Schaltstation in der Mail-Art-Nachrichten-Übermittlung geworden ist. Er lädt ständig zu kleinen Mail-Art-Aktionen ein und verschickt mit der jeweiligen Dokumentation 1 Info mit aktuellen Mail-Art-Daten. Die Themenpalette ist hier so farbig wie das Leben selbst. Jedes noch so seltsam oder verrückt oder banal klingende Thema ist möglich: „Fenster„, „Mond„, „Moustache„, „Rost„, „Blut„, „Angst„, „Baum„, „Dada„, „Fisch„, „Selbstportrait„, „damaged during transit“ (die Horrorvorstellung jedes Mailartisten), „Stamps“ (= Stempel oder Mail-Art-Briefmarke)…

So ist auch AIDS in letzter Zeit mehrfach Thema von Ausstellungen gewesen, zum Beispiel in Brasilien & in den USA: Das brasilianische Projekt war 1e 1-Mann-Initiative, deren Aufruf immerhin 22 Künstler aus 8 Ländern folgten, während die großangelegte amerikanische Aktion „A.I.M.“ (Aids International Mail Art) etwa 380 Mailartisten anzog. Kritisch, originell & subjektiv zeigen die vielen Beiträge, daß es mit dem lapidaren „Aids is not my problem“ nicht getan ist. Hier erhält der Mensch als Mailartist die grandiose Gelegenheit, Ansichten aller Art & aus aller Welt zu 1em Thema, das alle angeht, unverfälscht durch mediale Verkürzungen, direkt & authentisch zur Auseinandersetzung präsentiert zu bekommen.

Die selbstverständlich jedem Ausstellungsteilnehmer zugesandten Dokumentationen bzw. Kataloge zeigen 1e Vielzahl, wenn nicht alle, der ausgestellten Arbeiten & beinhalten sämtliche Adressen der sich im jeweiligen Projekt begegnenden Mailartisten (1e der vielen guten Sitten, die das Mail-Art-Ethos ausmachen) – die auf diese einfache Weise Kontakt zueinander aufnehmen können, was ständig geschieht – bei der „International Mail Art Show Havanna ’95“ waren es mehr als 800 Adressen aus 50 Ländern!

Der aktive Mailartist knüpft immerwährend neue Kontakte, was mit der Zeit dazu führt, daß man im Grunde nicht anderes im Leben mehr tun kann. Hier gilt es, die Übersicht zu behalten & das für sich Wesentliche herauszufiltern, will man sich nicht buchstäblich verzetteln & wie der neurotische Mailartist, der Angst hat, 1e Adresse aufgeben zu müssen, nur noch unpersönliche Kopien verschicken. Er hat eine der wesentlichen Eigenschaften der Mail Art vergessen: sie ist u.a. auch immer persönlich, wobei der persönliche Besuch für mich dann doch nichts mehr mit der eigentlichen Mail Art Philosophie zu tun hat.- Der Engländer Keith Bates hat seine negativen Erfahrungen 1992 dokumentiert: einerseits hört es sich natürlich toll an, wenn von Mail-Art-Tourismus-Aktionen wie die 1992 an etwa 80 Orten der Welt initiierten Mail-Art-Kongresse mit über 500 Teilnehmern die Rede ist, andererseits fühlten sich Leute wie Bates oder Mark Greenfield gelegentlich von fremden Mailartisten regelrecht belagert, die plötzlich + unerwartet vor der Tür standen. Etwas ganz anderes ist natürlich der Besuch eines John Held (USA) bei einem Guy Bleus (Belgien) in Zusammenhang einer Mail-Art-Vortrags-Reise: Hier gab es eine Einladung, und es wäre eine verpaßte Chance gewesen, wenn die beiden die Nähe nicht genutzt hätten, einander zu begegnen…

Obschon unkommerziell ausgerichtet, entstehen durch Mail Art höchst wertvolle (handgefertigte) Künstlerbücher bzw. Portfolios mit originaler Kunst. Auch in diesem Fall ist das Prinzip wieder ganz einfach: Jeder Beiträger reicht nicht 1 Blatt zum Druck, sondern seine Arbeit in kompletter Auflagenhöhe ein, während der Herausgeber für die Verpackung sorgt: Die Auflagen schwanken zwischen 1em & etwa 100 Exemplaren (& sind so automatisch sehr exklusiv, zumal ja nur wenige „Kunstwundertüten“, wie ich sie gerne nenne, in den freien Verkauf geraten – wenn überhaupt): 1 weites Tummelfeld für den kreativen Macher, der z.B. Collagen, Montagen, Frottagen, Linol- oder Holzschnittdrucke, Gemaltes, Gestempeltes, Autographen oder Typoskripte zu 1em vorgegebenen Thema einreicht. Die „typische“ Mail Art hat natürlich oft mit visuellen, konkreten, experimentellen, neodada-spielerischen und anderen international begreifbaren (kosmographischen) Sprach-, Form- & Farbkompositionen zu tun. (In diesem Zusammenhang muß allerdings noch einmal betont werden, daß jede Ton- und Spielart akzeptiert wird; so werden Ausstellungen & Magazine zu wahren Fundgruben der Kunst: Da ist – unter Garantie! – für jeden etwas (& mehr) dabei!) Das Honorar, 1 Exemplar der Ausgabe, bringt dem Mailartisten viel mehr Freude als monetäre Entlohnung: er/sie gewinnt 1 Gesamtkunstwerk, mindestens haltbar ein ganzes Mail-Art-Leben lang!, & je fleißiger der Mailartist ist, um so mehr Kunst kann er sammeln, ohne hohe Summen zahlen zu müssen. Die überzähligen Exemplare erhalten Mail-Art-Archive sowie einige interessierte Museen, & es gibt auch 1e immer größer werdende Gemeinde von privaten Sammlern, die solche Kunstwerke gern erwirbt – was nicht unbedingt ein Vorteil für die Mail Art ist: „To know mail art is to do mail“ meint John Held mit Recht, und da der Mail Artist selber immer auch Sammler ist (niemals würde er eine Dokumentation oder ein Portfolio hergeben!), mag es zwar in Ordnung sein, wenn Außenstehende Mail Art in ihren Besitz bringen, essentiell ist dies für unsere Bewegung allerdings nicht…

„Paint It Green“ (Spanien), „Mani Art“ (Frankreich), „Cardmaker“ (Dänemark), „Brio Cell“ (Finnland), „double“ (Rußland) „kARTa“ (Polen), „Tensetendoned“, „Stampzine“ (USA), „UNI/vers(;)“, (das sein Erscheinen mit der 35. Ausgabe einstellen mußte: Es ist bitter an dieser Stelle den viel zu frühen Tod des von uns allen geliebten UNIvers(;)-Herausgebers Guillermo Deisler anzeigen zu müssen, der am 21. Oktober 1995 nach 1em mutigen & langen Kampf seinem Krebsleiden erlag: Aber, Guillermo, deine „Poetry Factory“ lebt, & Du bist & bleibst eine der Lichtgestalten der Mail Art!), „Pips“ (auf der Mini-Pressen-Messe 1995 mit dem V.O. Stomps-Preis der Stadt Mainz ausgezeichnet), „Buchlabor/Spinne“ & „Edition YE“ (Deutschland) gehören zu den aktuellen Mail-Art-Editionen, von denen es weltweit vielleicht zwanzig gibt. Wegen der enormen Arbeit, die diese Kunstform dem Mailartisten bereitet, gehört nur 1e relativ kleine Zahl von Mailartisten zum „Stammpersonal“ dieser Projekte. Verständlich, wenn man überlegt, wie oft man bestimmte Tätigkeiten (& sei es nur das einfache Signieren) ausführen muß, um beispielsweise 100 Blätter originell und original zu gestalten…

Längst nicht mehr wegzudenken aus der Mail-Art-Welt ist das Mail-Art-Archiv, das naturgemäß jeder Mailartist führt. Aber auch viele große Museen verfügen seit Jahren über Mail-Art-Sammlungen, & die berühmten privaten Archive des 1993 verstorbenen Robert Rehfeld (Deutschland), von José Oliveira (Portugal), Gyorgy Galantai (Ungarn) oder Guy Bleus (Belgien) sorgen dafür, daß nichts Wesentliches verloren geht. 1 Archiv ganz besonderer Prägung hat Ruud Janssen vor 11 Jahren angelegt: Er archiviert hand- und selbstgemachte Stempel. Tausende Stempel von etwa 1500 Mailartisten aus über 70 Ländern dokumentieren eindrucksvoll die Kreativität, die diese eigentümliche interaktive Gemeinschaft erzeugt. Mit dem Schachtelmuseum hat der Frankfurter Verleger Wilfried Nold 1e besonders sublime Form des Archivs ins Leben gerufen: als wichtigstes Motiv gibt auch er den Wunsch an, Kunst (wieder?) kommunikationsfähig zu machen: in drei großen Holzcontainern sind 72 Schachteln von 70 Künstlerinnen & Künstlern untergebracht, die gemeinsam von Ausstellungsort zu Ausstellungsort reisen & möglichst viele Betrachter & Nachahmer finden sollen. Mit 1er zweitägigen Mail-Art-Aktion wurde der Anfang dieser hoffentlich langen „Kunstreise“ gemacht, die im Jahr 2000 enden wird – dann soll das Schachtelmuseum 1en endgültigen Platz in 1em deutschen Museum erhalten vielleicht im Postmuseum, warten wir’s ab …

Für mich persönlich scheidet der Mail-Art-Chain-Letter als Alternative aus; vielleicht tue ich dieser Form unrecht, aber der Kettenbrief war mir schon als Kind suspekt – wenn ich etwas verschicke, dann bewußt an 1e Adresse, die mir etwas zu sagen oder zu geben hat: Der direkte persönliche Aspekt fehlt hier, & deshalb ist der Chain-Letter in meinen Augen 1 Mail-Art-Bastard…

Allerdings – bei dem riesigen (unüberschaubaren) Angebot, das die internationale Mail-Art-Palette an Aktionsmöglichkeiten bietet, muß sich jeder Mailartist für s/einen Weg entscheiden, will er sich nicht, wie gesagt, im wahrsten Sinne des Wortes verzetteln. Man darf nie vergessen, daß die Mail Art weltweit operiert, und ein einziger Blick ins Internet unter dem Stichwort „Mail Art“ erschlägt mich: Ich habe es einmal bei einem Freund getan und werde es so schnell nicht wieder tun… Überdies – Gemeinsamkeiten gibt es mehr als genug; & der Alternativen gibt es so viele, daß ich getrost auf manches verzichten kann – ja muß, um mir meinen Mail-Art-Kreis aufzubauen, in dem ich mich persönlich wohlfühle…

Mail Art blüht – im Verborgenen! Abseits des lauten Kunstbetriebs sorgen schätzungsweise 400-500 „Hard-Core-Mailartisten“ mit 1 paar Tausend anderen, die sich an den Rändern der Mail Art Szene bewegen, (beispielsweise kreuzen sich – vor allem in den USA, aber auch zunehmend im deutschsprachigen Raum die Wege von Mail Art & alternativer Literaturszene, was u.a. ja auch der Aufsatz zeigt),dafür, daß das weltweit gespannte Netzwerk der Korrespondenz-Kunst nicht reißt, 1 Netzwerk, von dem wir uns nicht versprechen dürfen, daß auch nur 1e Kugel weniger abgefeuert wird, das aber dennoch Katalysator für den Abbau von Grenzen, Klischees & Vorurteilen ist, im Kleinen zwar, aber immerhin… & – ist es nicht witzig und bewußtseinserweiternd zugleich, wenn der Kölner Dietmar Vollmer seit nunmehr 15 Jahren seine ins Gewicht fallenden, wahnsinnig kreativen Postkarten verschickt, geschickt die Lücke nutzend, die die Post durch das Fehlen einer Gewichtsangabe bei der Postkarte bietet: Nehmen Sie doch auch einmal einen dicken Karton, bekleben ihn, bemalen ihn, kleben ein Objekt darauf und schicken Ihrem Nachbarn eine nette Botschaft: Natürlich wurde das auch schon zu Zeiten von Dada und Fluxus gemacht, aus denen heraus die Mail Art ja entstanden ist, aber das Besondere ist & bleibt eben die Lebendigkeit, mit der der Mailartist Postboten & andere Mitmenschen düpiert…

Ja, klein sind die Ziele der Mail Art. Mail Art fördert das Verspielte & Einfache, kurz: das Natürliche, denn auch hier irrt Beuys nicht, wenn er betont, daß in jedem Menschen von Natur aus künstlerisches Potential stecke, & wie meinte einst Kurt Schwitters: „Wir spielen, bis uns der Tod abholt„. Mail Art ist für kulturell orientierte Menschen, die mittels der Kunst Kontakte zu anderen Menschen knüpfen & mit diesen Menschen künstlerisch korrespondieren & kommunizieren wollen – & die bereit sind, dafür immer wieder 1000 & mehr Handgriffe zu tun. Wenn wir Mailartisten damit zugleich etwas Gutes für die Menschheit im Hinblick auf mehr Menschlichkeit tun, wie es Mail-Art-Manifeste gelegentlich verkünden, nun, dann haben wir ja nicht unbedingt 1en Fehler gemacht. Ich hoffe jedenfalls, daß mir die persönlichen Siegel, Briefmarken, Stempel, bemalten Briefumschläge & vor allem natürlich die mannigfaltigen Kunstbotschaften aller Art noch lange & oft Freude machen + mich bereichern werden: 1 Leben ohne Mail Art ist für mich unvorstellbar geworden…

Damit scheint zunächst wieder einmal alles gesagt. Zunächst. Aber jetzt, wo ich diesen Aufsatz beschließen will, fallen mir natürlich all die Namen ein, die ich noch nicht erwähnt habe: Anna Banana & Ed Varney beispielsweise, die in Kanada die erstklassigen „Artistamp-News“ mit zahlreichen internationalen Mail-Art-Nachrichten herausgeben, oder Copyonier Jürgen O. Olbrich mit seinem Kasseler No-Institut oder die Tarotisten K. Frank Jensen (Dänemark) & Alain Valet (Belgien), ganz zu schweigen von Vittore Baronis Arte Postale (Italien) &&&: Aber lassen wir es für den Augenblick genug sein, doch mittlerweile, bei dieser 6. Überarbeitung, ist mir natürlich längst klar geworden, daß ich an „Mail Art oder die Kunst der Korrespondenz“ noch lange Jahre weiterschreiben werde, denn der Mail-Art-Diskurs hat nie ein Ende. Darauf haben seit Ray Johnson die Theoretiker der Mail Art immer hingewiesen. Nirgends wird Heraklits „Alles fließt“ ernster genommen als in der Mail Art, die sich immer als Gegenbewegung zu der institutionalisierten statischen Kunstszene mit ihren ewigen Vernissagen, bei denen alles andere wichtiger ist als Kunst & Künstler, verstanden hat: Das Echte, das Interessante, das Andere, das Neue, das Überraschende, das Verändernde, kurz: die lebendigen Dinge zählen (nicht Käsehäppchen oder Namen). Mail Art als universale Kunstbewegung ist die mäandernde Gestalt, die positive Provokation, der künstlerische Kontakthof, ständig auf der Suche, stets bereit, Standpunkte aufzugeben, voller Lust, sich auf das ganz Unbekannte einzulassen…

Mail Art ist 1 offenes Haus: Jeder Mensch ist willkommen!

 

 

 

Weiterführend  

Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Auf KUNO finden Sie auch den Rezensionsessay von Holger Benkel über Friederike Mayröcker. – Einen Essay über das Tun von Theo Breuer lesen Sie hier.