Die menschheit ist heute gesünder denn je

 

Die menschheit ist heute gesünder denn je, krank sind nur einige wenige. Diese wenigen aber tyrannisieren den arbeiter, der so gesund ist, daß er kein ornament erfinden kann. Sie zwingen ihn, die von ihnen erfundenen ornamente in den verschiedensten materialien auszuführen.

Das ist dem ornamentiker wohlbekannt, und die österreichischen ornamentiker suchen diesem mangel die besten seiten abzugewinnen. Sie sagen: „Ein konsument, der eine einrichtung hat, die ihm schon nach zehn jahren unerträglich wird, und der daher gezwungen ist, sich alle zehn jahre einrichten zu lassen, ist uns lieber als einer, der sich einen gegenstand erst dann kauft, wenn der alte aufgebraucht ist. Die industrie verlangt das. Millionen werden durch den raschen wechsel beschäftigt.“ Es scheint dies das geheimnis der österreichischen nationalökonomie zu sein; wie oft hört man beim ausbruch eines brandes die worte: „Gott sei dank, jetzt haben die leute wieder etwas zu tun.“ Da weiß ich ein gutes mittel: Man zünde eine stadt an, man zünde das reich an, und alles schwimmt in geld und wohlstand. Man verfertige möbel, mit denen man nach drei jahren einheizen kann, beschläge, die man nach vier jahren einschmelzen muß, weil man selbst im versteigerungsamt nicht den zehnten teil des arbeits- und materialpreises erzielen kann, und wir werden reicher und reicher.

Der verlust trifft nicht nur den konsumenten, er trifft vor allem den produzenten. Heute bedeutet das ornament an dingen, die sich dank der entwicklung dem ornamentiertwerden entzogen haben, vergeudete arbeitskraft und geschändetes material. Wenn alle gegenstände ästhetisch so lange halten würden, wie sie es physisch tun, könnte der konsument einen preis dafür entrichten, der es dem arbeiter ermöglichen würde, mehr geld zu verdienen und weniger lang arbeiten zu müssen. Für einen gegenstand, bei dem ich sicher bin, daß ich ihn voll ausnützen und aufbrauchen kann, zahle ich gerne viermal so viel wie für einen in form oder material minderwertigen. Ich zahle für meine stiefel gerne vierzig kronen, obwohl ich in einem anderen geschäft stiefel um zehn kronen bekommen würde. Aber in jenen gewerben, die unter der tyrannei der ornamentiker schmachten, wird gute oder schlechte arbeit nicht gewertet. Die arbeit leidet, weil niemand gewillt ist, ihren wahren wert zu bezahlen.

Und das ist gut so, denn diese ornamentierten dinge wirken nur in der schäbigsten ausführung erträglich. Ich komme über eine feuersbrunst leichter hinweg, wenn ich höre, daß nur wertloser tand verbrannt ist. Ich kann mich über den gschnas im künstlerhaus freuen, weiß ich doch, daß er in wenigen tagen aufgestellt, in einem tage abgerissen wird. Aber das werfen mit goldstücken statt mit kieselsteinen, das anzünden einer zigarette mit einer banknote, das pulverisieren und trinken einer perle wirkt unästhetisch.

 

 

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Ornament und Verbrechen, von Adolf Loos, Wien 1908

Adolf Loos war ein österreichischer Architekt, Architekturkritiker und Kulturpublizist. Er gilt als einer der Wegbereiter der modernen Architektur. Seine bekanteste Schrift ist der Vortrag Ornament und Verbrechen (1910). Darin wird argumentiert, dass Funktionalität und Abwesenheit von Ornamenten im Sinne menschlicher Kraftersparnis ein Zeichen hoher Kulturentwicklung seien und dass der moderne Mensch wirkliche Kunst allein im Sinne der Bildenden Kunst erschaffen könne. Ornamentale Verzierungen oder andere besondere künstlerische Gestaltungsversuche an einem Gebrauchsgegenstand seien eine ebenso unangemessene wie überflüssige Arbeit.

Weiterführend → Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.