Mirabellen nicht, aber gelbe Kreiken

 

Schon Handke schrieb in seiner Geschichte des Bleistifts, dass erlebte Zeit und Orte etwas mit den gepflückten Früchten gemein haben müssten und so falsch lag er damit wohl nicht. Damals, Ende der siebziger Jahre, waren die Grundstücke auf der Straße noch nicht sämtlich zugebaut. Zwischen den Häusern, vor allem auf der Seite zur Kirche hin gelegen, fanden sich zwischen den Häusern noch freistehende Wiesen mit hochstämmigen Obstbäumen. Die eine war der Bolzplatz der Freunde von Herrn Nipp. Man kletterte über den Zaun, was die Eltern des Freundes gar nicht gerne sahen, sollten die Kinder doch lieber durch den Garten kommen. Immer waren genügend Kinder zur Stelle, sobald einer nur den Ball hörte, jenen wunderbar verzückenden Klang, den nur jemand ganz innerlich versteht, der mal die ganzen Sommerferien mit den Freunden auf dem Acker ballspielend verbracht hat. So gegen zehn Kinder mit einem Altersunterschied von höchstens drei Jahren kamen schnell zusammen. Man pöhlte, die Bälle wurden gedroschen und trotzdem gehegt und gepflegt, man konnte schließlich nicht dauernd neue kaufen, so etwas gab es vielleicht, wenn man Glück hatte, zur Erstkommunion oder wenn man ihn sich besonders wünschte auch zu Weihnachten.

Herr Nipp hatte in den siebziger Jahren zu erstgenanntem Anlass einen grünorangen Lederball bekommen. Der hielt damals zwei Jahre, dann war er durch, das Leder war einfach stellenweise nicht mehr vorhanden. Man verglich sich mit den Fußballgöttern der damaligen Zeit und eiferte ihnen nach. Auf diesen Grundstücken standen die als Tore genutzten Obstbäume, hauptsächlich Äpfel, auch Pflaumen, Birnen und auf einigen die gelben Kreiken. Man aß letzte immer bevor sie ganz reif waren, noch etwas grünlich, dann schmeckten sie sauer und besser als fast alle Bonbons von Bäcker Otterstedde am Rondell.

Herr Nipp hatte seine Schwester und Schwager besucht. Gegrillt und im Vorbeigehen einige der gelben Kreiken in deren Garten gepflückt. Neuerdings hatte man den alten Namen vergessen und nannte sie etwas nobler Mirabellen, dabei hatten sie damit wirklich nichts zu tun. Beim Zerbeißen stand ihm ein Teil seiner Kindheit vor Augen.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421