Schöne Augen

In der Provinz gehört es zum guten Ton, wenn man sich ab und zu auf Schusters Rappen begibt, den Alltag sausen lässt und an einem freien Tag mit Freunden in den Wald zieht, nicht mit einer Kiste Bier, sondern mit einer handfesten Mahlzeit im Rucksack.

Herr Nipp hatte das schon seit Tagen vorgehabt, doch niemanden gefunden, der sich darauf einstellen wollte, dass auch schlimmstes Regenwetter durchaus erfrischend sein kann. Auf dem Weg zu einem größeren schwedischen Möbellager kam das Gespräch auf diesen Umstand und unerwarteter Weise willigte der Freund, ohne groß gefragt oder gebeten zu werden, ein. Er sei doch bekannt dafür, dass er nicht gerne gehe. Nein, das sei ein Missverständnis, er gehe nicht gerne spazieren, wandere aber um so lieber. Am nächsten Morgen waren sie früh verabredet, tranken sich noch zusammen einen Kaffee.

Herr Nipp aß zwei Brötchen mit gesalzener Butter, man schaute aus dem Fenster, begutachtete die Großwetterlage und befand, dass es sicher noch aufklaren würde. Ab ins Auto und durch strömenden Regen ins höhere Sauerland. Man mag sich darüber lustig machen, aber es gibt dort oben tatsächlich schöne Fleckchen. Endorferhütte sollte das Ziel sein. Der Name erinnerte an die alte Bergbautradition, Erz wurde vor Jahrhunderten im Tagebau abgebaut und direkt vor Ort in kleinen Öfen verhüttet. Auf dem ersten Stück des Weges kamen ihnen dann auch schon rötlich eingefärbte Bäche entgegen, auf dem Weg, nicht im Bachbett, eisenhaltig. Schon nach 500 Metern wurde der Regen so intensiv, dass sie bei einer Forellenteichanlage schauern mussten.

An frühere Zeiten erinnerte sich Herr Nipp, als der Vater noch einen dieser Teiche sein eigen genannt hatte, als er mit der Familie fast jedes Wochenende dort oben war. Fische füttern, auch mal angeln oder im Herbst abfischen. Eigentlich eine Zeit mit schönen Erinnerungen, einerseits wegen des Teiches, des Spielens an dem Bach, Kaulköpfe fangen oder Steinbeißer. Wegen der Wanderungen auch, man konnte immer aufregende Sachen entdecken, Fossilien oder Kristalle in dem Gestein, Amphibien oder sogar einige Reptilien zwischen den Steinfeldern und in Tümpeln. Im Herbst wurden Pilze gesammelt. Nicht so gern erinnerte er sich daran, wie oft er keine Lust gehabt hatte, die weiten Wanderungen mit zu gehen. Solche wie an diesem Tag. Der blaue Himmel zeigte sich tatsächlich, man konnte die Strecke fortsetzen. Erst vor allem bergauf, dann auf dem Höhenzeug, zum Schluss bergab, so an die 19 oder 20 Kilometer, ein ganzer Vormittag gehen, unterhalten und sehen. Ein Förster kam ihnen entgegen, ansonsten Ruhe. Rast bei einer Waldhütte mit Unterstand.

Oben bei einem einsamen Bauernhof kamen einige weiße Kühe auf sie zugerannt, neugierig und doch scheu, wollten gefüttert werden, nahmen aber nichts vom dargebotenen Gras an. Eines musste Herr Nipp wieder einmal feststellen, sie haben schöne Augen.

***

Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421