Stifters blaue Schatten

Ganz früh morgens an schönen Tagen, die Sonne scheint und die Dinge werfen lange Schatten, fühlt sich der Körper von der Luft getäuscht.

Herr Nipp hatte das milde Licht gesehen, war barfuß und nur mit Unterwäsche bekleidet auf die Terrasse getreten und musste fest- stellen, dass es einfach zu frisch war. Auf der gegenüberliegenden Wand sah er den blauen Schatten der Bäume. Er wurde unwill- kürlich an die Impressionisten erinnert, die das Grau und schwarz durch blau und violett ersetzt hatten und dies als ihre Neuerung verkauften, ihre Erfindung. Dabei hatte schon zwanzig Jahre vorher Adalbert Stifter das Phänomen blauer Schatten in seinem großen Roman „Nachsommer“ oder in „Der Hochwald“ beschrieben, ganz nebenbei und doch so eindringlich:

„Der zarte, schwerfällige Sohn des Spätjahres hatte sich bereits eingestellt, der Nebel, und oft, wenn die Schwestern an der noch immer sonnenwarmen Wand ihrer Felsen saßen, die einzelnen Glanzblicke des Tages genießend, so wogte und webte er draußen, entweder Spinnenweben über den See und durch die Thäler ziehend, oder silberne Inseln und Waldesstücke durcheinander wälzend, ein wunderbar Farbengewühl von Weiß und Grau und der rothen Herbstglut der Wälder; dazu mischte sich die Sonne und wob heiße weißgeschmolzne Blitze und kalte feuchte blaue Schatten hinein, daß ein Schmelz quoll, schöner und inniger, als alle Farben des Frühlings und Sommers.“

Er lässt sich nicht täuschen von den Voreinstellungen und Übe zeugungen der Menschen. Je nach Tageslicht sind die Schatten eben blau, aus der Entfernung sowieso. Stifter entwickelt eine poetische Sprache, die seine Beobachtungen der Natur als feenhaftes Erleben darstellt. Jedes Phänomen ist verbunden mit den anderen Teilen. Nichts wird herausgehoben.

„Man mag über Stifters Langeweile des Erzählens schrotzen“, dachte Herr Nipp, aber die Verbindung von klarer Beobachtung und befühltem Erleben hatten wohl nur wenige andere Autoren so herstellen können. Die Personifizierung der Weltteile, ihre Beziehung zum Menschen und seiner inneren Natur. Dann sollte es eben biedermeierlich sein, gut war es allemal.

Seine eigene Beziehung zu den Teilen der Natur musste Herr Nipp im nächsten Moment feststellen, als er auf den einzigen spitzen Stein trat, der auf der gestern erst frisch gefegten Terrasse lag.

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421