Wundertüte

Jeden Morgen seines neuen Lebens hatte Herr Nipp aus einem der schrägen Fenster geguckt, die Gartenwüstenei gesehen und sich darüber geärgert. Eine kahle Rasenfläche ohne Abwechslung, ohne das Spiel von Rhythmen und Konturen, ohne Büsche, die arragiert und auf optisch gerechtfertigte Größen geschnitten waren, als Kugeln, Halbkugeln und dagegen kontrastierend als ausladende Bäumchen, die einzelne Äste zeigen durften. Da sah er keine Steine oder Mauern, an denen der Blick hätte fest machen können, lediglich ein fast quadratisches Gemüsebeet am Rand der Wiese. Alles praktisch und schnell zu bearbeiten, hatte dies doch wenig mit seinem Gefühl für die Anlage von Gärten zu tun. Er wollte schon seit seiner Kindheit Gärten, in denen Entdeckungen gemacht werden konnten, in denen die Tiere Zufluchtsmöglichkeiten hatten, Insekten, Vögel, Kellerasseln und auch Schnecken, am liebsten Weinberg- und Hainschnirkelschnecken, letztlich hatte er gegen Nacktschnecken nur etwas, wenn sie als unbezähmbare Masse den Garten überrollten, besser überschleimten und von den Pflanzen nur abgeknabberte Stängel übrigließen. Aber dagegen gab es schließlich die Igel, denen grundsätzlich Rückzugsmöglichkeiten zu bieten waren.

Er hatte seinen Vater damals überreden können einen Gartenteich anzulegen, der inzwischen allerding wegen Undichtigkeit entfernt worden war. Natürlich hatte dies nicht direkt geschehen können, denn dafür brauchte es schon etwas Psychologie: Wenn man am Esszimmertisch regelmäßig ein Buch über die Gartenteichgestaltung liegen lässt und fingierte Telefongespräche in seiner Gegenwart mit fingierten Freunden (ein Phänomen, das er erst in letzter Zeit im direkten Arbeitsumfeld bei einem Bekannten wiederentdeckt hatte) über die Teichanlage an der Schule führte, dann konnte man davon ausgehen, dass Vaters Interesse irgendwann geweckt werden würde. Dass der Vater irgendwann selber auf die Idee kommen würde, einen Gartenteich anzulegen. Diese Phase dauerte gerade einmal drei Wochen. Bei der gemeinsamen Beratung wurde schnell klar, dass es nur zwei mögliche Standorte gab, die einzige Möglichkeit, die eigene Idee zu realisieren, bestand darin, gute Argumente für den anderen Standort zu sammeln, das veranlasste den Erzieher und Gartenbesitzer letztlich auch dazu, alle Argumente auszuschlagen und am tatsächlich gewünschten anderen Standort zu bauen. Man hatte in der Folge von anderen Teichbesitzern Pflanzen und Kleinsttiere bekommen: Impfung. Aus den Urlauben mitgebracht hatten sich Unmengen Steine um den Teich gruppiert, er wuchs zu einem Kleinstbiotop. Es musste sich etwas ändern,

Herr Nipp zog sich seine ältesten Klamotten an, begann zu graben, buddelte Steine aus, setzte sie zu Mäuerchen zusammen, holte von Bekannten und Bodendeponien weitere Steine, baute. Ein glückliche Zeit des Schaffens, wären da nicht immer wieder Störfeuer von ewigen Nörglern gewesen. Die wussten natürlich alles besser, hatten sie doch selber noch nie einen Garten besessen.

Das Gemüsebeet wurde mit Steinen umfasst, Buchsbaumhecke gepflanzt, Einfassung, als Windschutz, wie bei alten Bauerngärten. Damit der Boden nicht so schnell austrocknete. Die Gemüsesorten wurden gesät, dicke Bohnen, Möhren, Radieschen, wilde Rauke, Steckrüben, Zwiebeln, bald würden auch Salatpflänzchen gesetzt werden. Die Saat ging an, abgesehen von einer Reihe Möhren. Herr Nipp ärgerte sich, schimpfte auf den Betrug, dass man ihm nicht keimfähiges Saatgut angedreht hatte. Nie wieder würde er in diesem Laden einkaufen, selbst wenn die Besitzer als Bettler vor ihm stünden. …er fuhr jetzt einige Kilometer weiter um seine Gartenerde zu besorgen. Oder Gerätschaften.

Eine Woche später entdeckte er in der Seitentasche seiner Arbeitshose die Samentüte: Möhren, verschlossen. Er hatte im Arbeitseifer vergessen sie auszusähen.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421