Notizbuchhalter

Der schlimmste aller möglichen Fälle war eingetreten. Zwar hatte er immer mal daran gedacht, Möglichkeiten des Schutzes erson- nen, bedacht geschützt dagegen zu sein – er war auf dem falschen Fuß erwischt worden.

Am Tag zuvor hatte er noch Notizen gemacht, hatte den Stift über die schmalen Seiten des in Druckergummi gebundenen Buches laufen lassen, einen violetten Faserschreiber, nicht aus Gründen der Ästhetik, nicht, weil dies vielleicht einer möglichen Vorliebe für die Gleichberechtigung der Frau entgegen gekommen wäre, son- dern weil er den blauen versehentlich mit der Spitze auf den Tisch gestoßen hatte, die Spitze dem entsprechend direkt in den Schaft zurückgefahren und nun das Gerät nicht mehr zu gebrauchen war. Sonst hatte er eigentlich immer mit seinem aufziehbaren Füller mit schwarzer Tinte geschrieben, doch die war ausgegangen und Herr Nipp hatte einfach noch keine Zeit gefunden, neue zu besorgen.

Dann musste er in die Stadt, den einen günstigen Laden (wahr- scheinlich ein Kaufhaus mit einem riesigen Angebot) wiederfin- den, dort die preisgünstige Tinte kaufen, von der er nicht wusste, ob diese denn auch über die Jahre nicht ausbleichen würde. Er würde die schwarze Tunke umfüllen in das praktische Glas mit der Mulde, in der sich irgendwann die letzten Reste der Schreib- flüssigkeit sammeln würden. So aber hatte er die Faserschreiber aus der Stiftedose genommen und diese eingeklemmt. Ein blauer, ein violetter. Faserschreiber waren praktisch, hatten aber den Nachteil, dass man nie wissen konnte, wann sie zu Ende gingen. Erlebnisse und Gedankenfragmente, persönliche Befindlichkeiten und fast absichtslose Beobachtungen hatte er zu soliden Kon- glomeraten , losen Agglomeraten zusammen gefügt, keine Kunst- werke, sondern versponnene Sammlungen, ähnlich dem Anspruch, den er an diesem Morgen noch im Vorwort von Adalbert Stifter zu „Bunte Steine“ gelesen hatte. Nicht Dichter sein zu wollen, sondern etwas zu sagen zu haben und sei es nur das Allerkleinste.

Unter den rohen Skizzen dieser Arbeit (Er selbst dachte meist an ein kunstloses, aber solides Handwerk, ohne Schnörkel, reine Worthäufungen, sauber gestapelt und meist geordnet abgelegt.) fanden sich ganz konkrete Darstellungen über den Jetzt-Zustand des Nahes, nicht der globalen Weltläufigkeit, hatten sich wie Ranken um die banalen oder spröden Satzgefüge geschlängelt, Wicken oder Ackerwinden, Wein oder Stangenbohnen mit roten Blüten. Er hatte dieses unbeschreibliche Mitreißen im Schreiben gespürt, dieses in der Zeit getragen sein, ohne Anstrengung, ohne etwas dazu tun zu müssen. Jetzt war das Notizbuch weg, nicht mehr aufzufinden, überall gesucht, hatte er es wohl irgendwo liegen lassen und keinen der neuen Texte irgendwo gespeichert.

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421