Sprach- nicht tatenlos

„Dann frage ich und muss erkennen, dass die Fragen zu einfach sind, schon von anderen gestellt. Also höre ich irgendwann einfach zu und muss feststellen, dass ich taub bin. Dann lese ich und sehe, dass die Zeilen einen irren Tanz vor den Augen machen. Wörter, Mückenschwärmen gleich, die im Abendlicht ihre Liebestänze aufführen, hatten mich in ihre stichige Mitte gelassen und nun musste ich spucken und mit den Armen wedeln um mich des Unfassbaren zu entledigen.“

Dies waren die einzigen vollständigen Sätze gewesen, die Herr Nipp aus einem Vortrag eines hochgerühmten Literaten mitge- nommen hatte, die Sätze, welche aus einem Buch vorgelesen, als Grundlage eines erläuternden Gesprächs über die Wahrnehmung und zunehmende Entfremdung von dieser hatten dienen sollen. Das Gespräch war aus Einschüchterung des Publikums ausge- blieben, ehrfürchtige Eingeschüchtertheit. Der Autor hatte ganz im Sinne Hugo von Hoffmannthals darauf verwiesen, dass die Sprache nicht mehr funktioniere und keiner hatte ihm widersprochen.

„Welch ein Unfug, solange die Sprache in irgendeiner Weise Ver- ständigung möglich machte, solange hatte sie eine Funktion…“ dachte Herr Nipp für sich. Doch dann bewies der Vortragende ganz plötzlich, dass er mit seinen doch leicht antiquierten Thesen recht hatte. Der Trick bestand ganz einfach darin, die Sätze niemals zu Ende zu bringen, die Fragmente im Raum stehen zu lassen und den Zuhörer damit derart zu langweilen, dass er irgendwann nicht mehr bereit war zu folgen. Da schaffte es also ein Mensch von acht angefangenen Sätzen gerade einmal drei zu einem verstümmelten Ende zu führen, die restlichen fünf auch noch mit blödsinnig gestischem Gehampel untermalend ad absurdum zu führen. Dabei entwickelte er immer neue Nebensätze, ineinander verschachtelte Ellipsen mit dem Anspruch der Parabelhaftigkeit, führte die Gedanken nicht aus und verstrickte sich in großmäulig wahnwitzigen Wortwolken und seltsam schaumigen Satzkaskaden. Immer neue Nebenschauplätze ließen eines letztlich vermissen: Stringenz, einen Faden, an dem entlang sich Theseus hätte einen Weg bahnen können, aus dem Labyrinth der Wörter ins Licht der Erkenntnis, ruhig auch ein zwar steiniger Weg, doch gangbar. Irgendwann hatte es einen Schlussapplaus gegeben, ein wichtiges Gemurmel und viele nickende, aber restlos ratlose Gesichter.

Als Ruhe einkehrte waren alle aus dem Raum gegangen und hatten sich in scheinbar offensichtlicher Demutshaltung an die Wand des langen Flurs gestellt, sie hatten den Vorträger ziehen lassen, nicht ohne ihm mit den stabilen und doch federnden Nordicwalkingstöcken, die man heute mit sich führte, eins überzuziehen.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421