nie wieder

Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet, hatte sich alle möglichen Alternativen immer mal durch den Kopf gehen lassen, aber genau damit nicht gerechnet. Wo war es geschehen, wer hatte da seine Finger im Spiel?

Herr Nipp hatte sogar den besten Freunden Nachrichten zukommen lassen, sie sollten ihm in seiner Not helfen, doch niemand wusste Rat. All die gehorteten Gedanken, die möglichen und er- lebten Geschehnisse, all die Reflexionen über Kunst und den Alltag, die übellaunigen Bildbesprechungen und sarkastischen Be- merkungen über Menschen und Literatur. Wie nur sollte man mit solch einer Situation, diesem Fiasko, damit innerlich fertig werden?

Er hatte alle Stellen am Arbeitsplatz durchsucht, in die hintersten Winkel seiner Wohnung geschaut, sogar den Schlüssel zum Auto eines Freundes besorgt und dieses auf den Kopf gestellt, nein, sein geliebtes Notizbuch, jenes in schwarzes Druckergummi gehüllte Büchlein mit Seiten aus festen Werkdruckpapier, war einfach verschwunden. So konnte es nicht gehen, nicht mehr weiter gehen, wie sollte er die Texte rekonstruieren, die Fragmente rückbe- sinnend sich vor Augen rufen?

Der Verzweiflung nahe hatte Herr Nipp sogar schon eine Flasche Wein aus dem geheimen Versteck hervorgekramt, er würde sich sinnlos betrinken, nein, bis zur Besinnungslosigkeit, würde irgendwann einfach so umkippen, die Hälfte vergessen haben und am nächsten Morgen mit schwerem Kopf und sämtlichen Klamotten am Leib aufwachen, sich wundern, wie er es ins Bett geschafft habe. Der Denkapparat war inzwischen in die Hände gestützt und die Gedanken bleischwer. Das konnte auch keine Lösung sein, war er doch ein aufrechter Kämpfer für die Gedankenfreiheit.

Nach inzwischen drei Tagen Suche musste er sich endlich ein- gestehen, dass alles keinen Sinn habe, all die Sorgen, die Trauer um das Verlorene nicht. Ganz konzentriert setzte er sich an den Schreibtisch, zog die alte Adlerschreibmaschine zu sich und begann zu tippen: “ Bild von Janszen – viele Knochen“.

Ein Anfang war gemacht, auch die restlichen fünf Zeilen des Notizbuches würde er sich ins Gedächtnis rufen müssen.

 

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421