Vom Tod her leben

Das Denken des Sterbens kann Vorahnung letzter Angst wecken, aber auch ihres Vergehens. Anderes Existenz-Gefühl entsteht: Zwischen Nicht-Dasein und Nicht-Dasein. Der Versuch, aus der Gewissheit des Todes zu leben, gibt Halt. Intensivere Bewusstheit. Distanz zu sich selbst. Die Wirklichkeiten, mit denen ich biologisch, psychisch, sprachlich, sozial in Wechselwirkung bin, erscheinen aus fremdem Licht. Von ihm her bestimme ich mein Verhältnis zu ihnen, zu mir neu.

Carlfriedrich Claus

Als Existenz-Experimentator schuf Carlfriedrich Claus ein Gesamtwerk von mehreren hundert Tonbandkassetten mit Artikulationen, Sprachblättern, Handzeichnungen, Büchern, Druckgrafiken, Briefen etc. Seine Arbeiten hatten den Anspruch den Rezipienten ganzheitlich zu fordern. Seine Arbeiten können stets als ein Selbstexperiment erfasst werden. Zu Beginn schrieb Claus konkrete Gedichte auf der Schreibmaschine. Diese Lyrik hatte u. a. Natur und Zeit zum Thema. Später werden die Motive „Klang“ und „Vibration“ wichtig und er schrieb mit der Hand. Claus Literatur ist experimentell und kann nicht einfach kategorisiert werden. Beim Anfertigen seiner „Sprachblätter“ oder auch „Vibrationstexte“ artikulierte er (teilweise) gleichzeitig, sodass es quasi ein Werk auf mehreren Ebenen darstellt. Eine Ahnung der Ganzheitlichkeit des Werkes kann der Rezipient z. B. beim Besuch des Sprachraumes AURORA bekommen. „Ich frage mich nach dem Entstehen eines Sprachblattes oft: wie groß ist hier der Anteil von noch nicht Gewordenem im Körper, das sich ohne gleichzeitige Umsetzung, also sozusagen das Bewußtsein überholend, durch die Bewegung der Hand manifestiert, wie groß der des noch nicht im Bewußten im Bewußtsein, speziell im Sprach-Bewußtsein, wie groß der des nicht mehr des Bewußten, und tauben Gerölls.“ Claus Werk ist transmedial. Bei der Rezeption der „Sprachblätter“ und „Lautprozesse“ soll der Rezipient seine Wahrnehmung erweitern. Klang und Bild als symbolhaft-diskursive Momente der Kommunikation werden zerstört. “In den Auflösungen und Unterbrechungen erhalten sich jedoch die Möglichkeiten für neue, bisher nicht bedachte Bezüge und Ausrichtungen. Ein statisches bloßes Wahrnehmen solcher Zerstörung könnte einen vernichten; ein handelnder tätiger Realismus wäre dagegen auf eine andere Wahrgebung hin gerichtet”, so Claus. Denken als Sprache und Schrift bilden eine Landschaft. „Phantasiegeleitete Reaktionen und intellektuelle Reflexionen sollen sich durchdringen“. Claus versucht in seiner Arbeit die Latenz der Sprache offenzulegen und ihre Tendenz sichtbar zu machen. Er kombiniert ihre Elemente neu und „kündigt sie [die Grundannahme der modernen Linguistik] auf […]. Er experimentiert mit der Vorstellung, dass von den Zeichenträgern der Sprache, von der Schrift und den Sprechlauten, also von der „Substanz“ ihrer Klänge und Kuvaturen, so etwas wie „strukturelle Informationen“ ausgehen“. Wenn auch einige von Claus’ Werken sehr graphisch aussehen, so hat Claus selbst sich immer als Literat gesehen. Er sagte: „Ich betrachte mich im Grunde nicht als bildenden Künstler, sondern als Literat“. Obwohl Claus Werke teils für den Rezipienten ohne Lupe kaum lesbar waren, weigerte sich Carlfriedrich Claus bis in die 1990er Jahre seine Werke vergrößert ausstellen zu lassen. Er wollte, dass der Rezipient in engem Kontakt mit dem Werk kommt und beim Anfassen und Wenden (der Sprachblätter) selbst einen Prozess vollzieht.

 

 

 

Weiterführend  Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

 

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