Bruder

 

Karin war noch unterwegs, als ich die Wohnungstüre hinter mir abschloss. Ich hatte ihr nichts erzählt. Die Strecke zum Heim kenne ich auswendig. Frank wartete schon vor der Tür. Ich ließ die Plattform des Transporters herunter, bis ich Franks Rollstuhl bequem darauf schieben konnte. Dann stellte ich die Bremsen des Rollstuhls fest. Den Rest machte die Hydraulik. Oben löste ich die Bremsen, schob den Rollstuhl in den Transporter und fixierte die Räder am Boden. Wir waren beide schweigsamer als sonst. Keine Geschichten aus meinem Büro, kein Klatsch von seinen Pflegern. Es war dunkel geworden und es hatte aufgehört zu regnen. Ich kletterte nach vorne und fuhr los.

Frank war angespannt, er wippte im Rollstuhl hin und her, mehr noch als sonst. Auch versuchte er sich unter dem Lederhelm zu kratzen, ein Zeichen von Nervosität, seit frühester Kindheit schon. Als wir durch die Straße fuhren, sah Frank aus dem Fenster. Speichel lief seinen Mundwinkel he- runter. Ich fand einen Parkplatz.

Ich verlange zu viel von dir, sagte er von hinten, wir soll- ten wieder nach Hause fahren. Ein Krimi läuft im Fern- sehen, kam es leise hinterher. Quatsch, sagte ich. Ich hievte den Rollstuhl wieder heraus und schloss den Wagen ab. Frank saß im Rollstuhl auf dem Bürgersteig, zitterte vor Kälte und vor Aufregung. Ich hatte vergessen, die Schein- werfer auszuschalten und musste noch mal zurück. Wir hatten den Aluminiumrollstuhl genommen, er war leicht, aber Frank konnte ihn nicht alleine bewegen. Also manövrierte ich ihn am Hundedreck und zerbrochenen Bierflaschen vorbei.

Wir kamen zu den ersten Frauen, die in kleinen Gruppen mit dem Rücken zu den Schaufenstern standen. Ich sprach mit ihnen, und sie winkten ab. Lass uns wieder fahren, flüs- terte Frank. Eine taxierte uns kurz, zuckte die Schultern und sagte: Scheiße, ich brauche das Geld. Sie ging uns voran, mit kleinen, entschlossenen Schritten. Sie trug alte Turnschuhe, keine High Heels. Ich hatte Schwierigkeiten, ihr mit dem Rollstuhl zu folgen. Frank schwitzte. Sie verschwand in einem Hauseingang. Es ging eine Treppe hoch. Frank ist leicht, doch der Rollstuhl war sperrig. Ein unbeleuchteter Flur, es roch nach Linoleum und Sagrotan. Fast wie in schlechten Filmen, flüsterte Frank. Was sagt er, fragte die Frau, von der wir jetzt wussten, dass sie sich Maja nannte. Nichts, antwortete ich.

Schließlich waren wir da: Ein kleines, schmales Zimmer, eine Campingliege, ein Brad-Pitt-Poster an der Wand, ein brummender Kühlschrank in der Ecke.

Wie geht es weiter, fragte ich. Sie setzte sich auf die Liege. Zuerst kriege ich das Geld. Ich gab es ihr. Frank lief der Speichel die Mundwinkel herunter. Ich wischte ab. Maja schaute an ihm vorbei, nicht abweisend, aber verunsichert. Sie blickte auf das Geld in ihrer Hand. Das ist vielleicht ein bisschen wenig, sagte sie leise. Warum, fragte ich. Ihre Mundwinkel schafften das verlegene Lächeln nicht ganz. Er törnt nicht sehr an. Ich legte noch einen Schein nach. Sie nickte und stand auf. Ich stellte mich hinter den Rollstuhl. Maja begann die ersten Knöpfe ihrer Bluse aufzumachen. Ihr Blick suchte meine Augen. Ich sah auf Frank. Die Bluse war herunter. Sie trug einen schwarzen BH. Im schlechten Licht sah die Narbe der Pockenschutzimpfung wie eine auf die Schultern gerutschte Brustwarze aus. Frank schaute. Ma- ja streifte den Mini herunter. Ihre Unterwäsche war nicht sehr aufregend. Na, gefällt dir das, sagte sie zu Frank.

Frank sagte nichts. Sie legte sich auf die Campingliege, turnte etwas herum. Dann zog sie den BH aus. Ihre Brüste rutschten auf die Rippen. Frank schaute. Sie stand wieder auf, ging zum Kühlschrank, kam mit einer Cola-Dose zu- rück. Mit der strich sie sich über die Brustwarzen, stöhnte. Ich wischte Frank den Speichel ab. Er schaute. Ihre Brust- warzen waren spitz geworden. Sie beugte sich zu Frank he- runter. Na, willst du mal lutschen, sagte sie. Sie lachte über- raschend hell. Bitte fassen Sie ihn nicht an, sagte ich leise. Sie zuckte zurück. Vielleicht fürchtete sie eine unkontrollierte Reaktion. Frank versuchte, sich umzudrehen. Einen Augenblick zögerte ich. Machen Sie weiter, sagte ich.

Sie streifte den Slip ab, drehte sich um, stützte sich auf der Liege ab, beugte sich herunter, spreizte die Beine und streckte den Po heraus. Frank schaute. Gut so, fragte sie. Ich wischte wieder seinen Speichel weg. Sie achtete auf Distanz zum Rollstuhl und wackelte mit den Hüften. Dann legte sie sich mit dem Rücken auf die Liege, zog die Knie an und spreizte die Beine. So blieb sie liegen. Frank schaute. Sie blickte mich hilfesuchend an. Weiter, fragte sie. Ja, sagte ich. Sie nahm die rechte Hand zwischen ihre Beine und begann sich zu massieren. Frank schaute. Es ist so wulstig bei ihr da unten, sagte er leise. Maja schauspielerte. Zwischendurch fragte sie, ob ich nicht Lust auf sie bekommen hätte.

Später fragte der Pförtner des Heimes, ob es schön war, im Tierpark. Als ich zuhause die Tür aufschloss, kam Karin gerade aus der Dusche. Ich presste sie gegen die Wand und versuchte sie zu nehmen. Sie rang nach Luft, lachte und küsste mich. Dabei sah sie mich an und ihr Gesichtsaus- druck veränderte sich. Was ist los mit dir, fragte sie.

 

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Eine Leseprobe aus: Trash-Piloten: Texte für die 90er. (Hrsg. von Hainer Link), Reclam, Leipzig 1997

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KUNO hat ein Faible für Trash. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Daher sei Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash ebenso eindrücklich empfohlen wie Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Ebenso verwiesen sei auf die Trash-Lyrik.