Der letzte Avantgardist

Die Emigration Benjamins war ein Akt, der untrennbar ist von seinem Werk. Dieses Werk, das ist bereits vorausprojiziert in Partien der Einbahnstraße, lebt aus der unmittelbaren Erfahrung der Emigration.

Helmut Heißenbüttel unterscheidet zwischen erfundenem und vorgefundenem Material. Er plädiert für eine Literatur des Zitats. Nicht mehr die Phantasie, nicht mehr das Erschaffen fingierter Bezugsebenen steht für ihn im Vordergrund. Durch die historischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts hat sich, laut Heißenbüttel, das Verständnis vom menschlichen Subjekt grundlegend verändert. Das Individuum ist seiner Selbstständigkeit beraubt worden; kein personeller Kern existiert mehr im Menschen, der die komplexe Erfahrungswelt noch hierarchisch strukturieren könnte. Das Subjekt zerfällt demnach in eine Vielzahl von individuellen Kernen, die für Heißenbüttel vor allem sprachlicher Natur sind. Im Zentrum von Heißenbüttels Literatur (aber auch seinem umfangreichen kritischen und essayistischen Werk) steht die Beschaffenheit der Sprache. Der Autor überprüft zitierend die unterschiedlichsten Sprachmaterialien.

Nicht nach neuen Klassikern suchen. Wer sich als Klassiker anbietet, ist schon verdächtig. Wer Klassiker anzupreisen versucht, ist noch verdächtiger. Irritation und Destruktion dem Gefestigten vorziehn, aber diesen Grundsatz auch umstoßen und vielleicht gerade einen Stillen im Lande bevorzugen.

Helmut Heißenbüttel

Nur selten hat der heute verstorbene Heißenbüttel so nachdrücklich bei einem Schriftsteller auf die Wichtigkeit der Lebensgeschichte, auf die unmittelbare Verschränkung von Existenz und schriftlichem Ausdruck gepocht wie im Falle Walter Benjamins. Überraschend wechselt er dabei auch den Modus: Von diskursiven Äußerungen über den Rundfunkautor oder den Briefeschreiber geht er über zur literarischen Formulierung in der »Nacht in den Pyrenäen«, worin er die letzten Tage Benjamins nachzeichnet. Die in diesem Band gesammelten Texte sind zwischen 1967 und 1983 publiziert bzw. gesendet worden. (Einige werden hier zum ersten Mal gedruckt.) In diesem Zeitraum hat sich nicht nur Benjamins Bild in der Öffentlichkeit verändert, sondern ebenfalls Heißenbüttels Auffassung von Literatur. Stets argumentiert Heißenbüttel auch aus der Position des Produzierenden, des dichterisch Tätigen – in den späteren Beiträgen mit der für ihn einschneidenden Erfahrung, daß die politisch-kulturellen Hoffnungen der »goldenen« sechziger Jahre nicht realisiert wurden; dichtend konnte die Welt nicht verändert werden.

Arbeit an einer guten Prosa hat drei Stufen: eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird.

Walter Benjamin

Über Benjamin ist das Zeugnis einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit Leben und Werk, die zugleich den, der sich da auseinandersetzt, anschaulich mitcharakterisiert. Aus guten Gründen ruft das Nachwort von Christina Weiss die Gestalt Heißenbüttels, des fast schon Verschwundenen, zurück.

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Auch KUNO war nach der Re:Lektüre der Einbahnstraße beeindruckt, es ist eine Sammlung kurzer Texte, die nur rund 80 Druckseiten umfaßt und wegen ihrer vielen aphoristischen Formulierungen bekannt ist, für KUNO ist dies ein Vorläufer der neuen Literaturrichtung Twitteratur.

Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.