Der Tisch

 

Draußen auf der überdachten Terrasse steht ein Tisch, ein alter Tisch, aus einer Zeit, als Herr Nipp noch nicht da war. Also sehr alt. Der Tisch hatte früher bei seiner Großmutter gestanden. Es war der Küchentisch. Nach deren Tod hatte sein Vater ihn übernommen, klar, der hatte ihn schließlich auch gebaut. Der Tisch ist sehr schlicht, gefertigt aus dem Holz der Ulme. Früher hieß der Baum meistens Rüster in dieser Gegend. Sehr schönes Holz mit regelmäßigen Strukturen. Wer an diesem Tisch sitzt, wird schnell feststellen, dass irgendetwas nicht stimmt. Seine Mutter wollte ihn auf der Terrasse haben und dort standen die alten Sessel, das alte Sofa. Der Tisch war zu hoch. Da konnte es nur die alte Radikalkur geben. Beine ein Stück ab und von den Querstreben musste auch was weg, sonst hätten die Beine der darum Sitzenden wohl nicht drunter gepasst. Da hatte seine Mutter keine Probleme mit. Nie gehabt, ganz pragmatisch. Schließlich war das nicht der erste Tisch gewesen, den der Vater zu kürzen hatte. Mit der Handsäge natürlich. Der alten Schreinersäge, ohne Motor, nicht schnell, aber sehr präzise; und ab ist schließlich ab, fertig.
Jetzt ist der Tisch eben zu klein und Herr Nipp wird sich über kurz oder lang etwas einfallen lassen müssen, wie die Beine zu verlängern sind. Jeden Tag schaut er seit geraumer Zeit schon auf verschiedenen Tauschplattformen im Netz, ob irgendjemand Ulmenholz zu verschenken hat. So leicht wird das nicht. Rüster ist dieser  Tage selten geworden. Spätestens seit der Ulmenkrankheit bekommt man nichts nach.

Aber wer weiß, vielleicht besorgt er sich auch einfach ein paar alte Sessel und ein Sofa, die sind wahrscheinlich leichter zu bekommen, dann passt es schon.

 

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

 

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