Die Mondscheinrune

 

Die Nacht öffnet ihr Tor,
Du kannst in den Himmel gehen,
Wo Wege voll silberner Leuchter stehen;
So weit die Augen sich dehnen
Kannst Du Dich nach Ewigkeit sehnen, –
Kommt der Spaziergang Dir nicht doch
Noch viel zu endlich vor?

Einer läuft über den nächtlichen Fluß
Mit trunkenem Fuß über die dunkelnde Flut;
Auch dieser Weg dünkt ihm gut.
Warum nicht auf dem Kopf in den Häusern wohnen,
Die kopfüber im Wasser am Ufer thronen?
Kopfunten stehen die Häuser im Wasser drunten.

Ich höre Schritte unter den Pflastersteinen.
Ich höre einen mit seinen Sohlen an meinen,
Ich hör‘ ihn tiefen Atem holen im Sonnenschein drunten.
Während meine Haare im Nachtwind stehen,
Spüre ich Sonne von unten an meinen Zehen.

Der Mond hat sich aufgemacht,
Einäugig ist die Nacht.
Kommt einer durch die Nacht gerannt,
Niemand hat ihn mir je genannt;
Hält mir eine ganze Vase
Mit Blumenduft an die Nase.

Hat je ein Herz geschlafen am Tag oder bei Nacht?
Hat nicht stets ein Herz im Wachen zugebracht?
Es gibt nur einen Schlaf, der ist sechs Fuß tief
Unter der Erde, wo man hinfährt
Ohne Geste und ohne Gebärde.

Im mondhellen Schein
Wachsen die Berge zum Fenster herein.
Gehst Du in Berge hinein, hörst Du’s schallen;
Dort vergruben Nachtigallen ein Lied jede Nacht,
Und Frösche quaken im Berg. Es ist gleich,
Ob die Liebe quakt oder lacht.

Der Mond, der grinsende Zwerg, tut, was er will.
Die Finsternis macht er zum Bild, malt Mauern
Und Dächer, Gedanken und Sehnsucht
Und läßt nichts dauern, verschiebt alle Schatten,
Die um Dinge kauern, und macht
Wehe Narren, die Häuser anstarren,
Über die dunkel die Bäume trauern.

Keine Fliege ist wach, und Fliegen und Menschen,
Die täglich wimmeln,
Liegen irgendwo wie tot,
Oder wohnen in Narrenhimmeln,
In Himmeln, die von Müdigkeit rot.

Wie ist das Grün weggekommen von jedem Blatt?
Hat’s jemand in seine Tasche genommen?
Wer weiß noch, daß der Tag grüne Blätter hat?
Da waren Schwalben und Sperlingsscharen
Am Morgen und Abend mit Nahrungssorgen,
Im falben Mondschein ist Herbst jetzt im Wald,
Wo grün der Sommer noch gestern war,
Sind Bäume wie Köpfe mit finsterem Haar.

Ich geh auf den krummen Schultern
Der stummen Erde,
Ich sehe meine Gebärde irgendwo,
Sie treibt eine Herde von fremden Gebärden
Vor sich hin, und ist nicht traurig und ist nicht froh.

Die Nacht hat Sorgen.
Sie muß sich stets
Vom Tag etwas borgen.
Sie sendet die Seelen der Schwalben und Spatzen
Im Traum hinaus, läßt sie Traummücken fangen,
Und die Nacht läßt sich atzen.

Was haben die Flußfeuer ausgedacht?
Sie haben ein Feuer im Fluß angemacht.
Eine Kerze im Fenster am Berggipfel oben
Hat Feuer ins Wasser unten geschoben.
Jemand an das Wasser anklopft
Mit einer Hand, an der Feuer tropft.
Weil er keinen Eingang fand, wird mir bang;
Seine Fingernägel wachsen,
Wachsen wie die Nägel der Toten in Gräbern lang.
Ach ja, die weißen Toten sind die Feinde vom roten Blut,
Weil Neid zum Leben am wehesten tut.

Ich backe aus dem Mond mir gern ein Brot,
Esse Scheibe um Scheibe,
Und trage, wie’s Jahr, zwölf Monde im Leibe.
Hunger gibt Dir auf alles ein Recht,
Und nur dem wird’s schlecht
Und wird’s übel genommen,
Der nie will zu seinem Hunger kommen.
Hunger ist nicht zu trauen,
Hunger läßt nicht mit sich handeln,
Hunger kann Dich zerkauen und in Erde verwandeln.
So sind die Worte der Schlauen.
Aber die Wolkenlosen,
Die mit bloßen Füßen im Mondschein gehen
Und mit den Ohren an Sterne anstoßen,
Fragen: „Wer hat das Wort Hunger genannt?
Wir haben dies Wörtlein nie gekannt.“
Nimm sie beim Wort, der Mond geht heim.
Kaum zog er sich ohne Seil hinauf,
Dauert’s kein Weil‘, biegt er sich ins Geäst hinein,
Liegt er wie ein Ei bei dem Baum,
Wie ein bleierner Hauf.
Und Kieselsteine sind nicht in den Kissen
Derer, die’s Ende der Mondrune wissen.

 

 

Weiterführend →

Die von Farben und Tönen bestimmte ungebundene und rhythmische Lyrik machte Dauthendey zu einem der bedeutendsten Vertreter des Impressionismus in Deutschland. Seine Werke sind bestimmt von der Liebe zur Natur und deren Ästhetik. Mit virtuoser Sprachbegabung setzte er seine Sensibilität für sinnenhafte Eindrücke in impressionistische Wortkunstwerke um. Bereits seine erste Gedichtsammlung von 1893 mit dem Titel „Ultra-Violett“ lässt die Ansätze einer impressionistischen Bildkraft erkennen, die dichterisch gestaltete Wahrnehmung von Farben, Düften, Tönen und Stimmungen offenbart. In seiner späteren Natur- und Liebenslyrik steigerte sich dies bis zur Verherrlichung des Sinnenhaften und Erotischen und traf sich mit seiner Philosophie, die das Leben und die Welt als Fest, als panpsychische „Weltfestlichkeit“ begriff. Rilke bezeichnete ihn als einen „unserer sinnlichsten Dichter, in einem fast östlichen Begriffe“.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.