Flasche

 

Klar, die Flasche ist leer. Und tatsächlich ist es eine italienische Flasche. Die gehört auch nicht in den Wortschatz eines Fußballtrainers, sondern ist eines der Andenken von Herrn Nipp. Normalerweise fährt er ja jährlich, das ist damit wohl auch sozusagen ein Ritual, ins Sehnsuchtsland der Deutschen, nach Italien. Manchmal auch in die Mitte, meist jedoch in den Norden. Rom ist der südlichste Ausläufer, den er auf dem Festland bisher besucht hat, eher aber zieht es ihn schon nach Florenz, am häufigsten war er wohl in Südtirol, das viele Südtiroler nicht als Italien ansehen, er aber schon. Aber auch sie müssen den Realitäten ins Gesicht sehen. Eigenständig wird diese Region wohl so schnell nicht werden. Zu sehr eingebunden ist man in die nationalen italienischen Strukturen und viel zu klein, um eigenständig bestehen zu können. In der besagten Flasche bewahrt Herr Nipp Nägel auf. Im Keller hat er ein ganzes Regal mit solchen Flaschen, in denen er Nägel und Schrauben aufbewahrt, dort sind es leer getrunkene Bitterinoflaschen, die er so zweckentfremdet. Im Schlafzimmer in seinem Regal aber steht eine Zitronenlimonadeflasche, deren grüngewellte Oberfläche das Licht reflektiert. Jedes Jahr kauft er sich diese Limonade, die ihm einer der liebsten Menschen, die er kennt, entdeckt hat. Jedes Jahr bringt er sich einige davon nach Hause mit. Leider gibt es diese Limonade in Deutschland nicht, die schmeckt, als habe man den Geschmack und die Sonne einer Zitronenbaumplantage eingefangen und abgefüllt. Die schmeckt. Einfach lecker. Wenn er nach dem Urlaub irgendwann zu Hause eine solche Limonade öffnet, dann ist das wie die Verlängerung des Italienaufenthaltes. Dieses Jahr wird es davon wohl keinen Nachschub geben, aber immerhin besitzt Herr Nipp diese leere Flasche und jedes Mal, wenn er sich auf den Geschmack ganz doll konzentriert, dann ist er plötzlich da und das Wasser läuft ihm im Mund zusammen. So genau weiß er gar nicht, warum diese Flasche entweder in seiner Bibliothek oder im Schlafzimmer zwischen den Büchern steht, aber er wird sie nicht wegräumen, denn so hat er jeden Tag seinen italienischen Moment.

 

 

***

Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

Post navigation