FALLSCHIRMSPRUNG MEINER BEGLEITERIN

 

Wie sie den Fallschirm mir zeigt und erklärt,
Kann ich nur halb zuhörn und zusehen.
Ich muß daran denken, wie ganz verkehrt
Oft Frauen mit ihren Schirmen umgehen.

Ich bin doch sonst kein solch Angstpeter.

Aber nun – – Und nun sind wir so weit,
Vielmehr so hoch. Etwa zweitausend Meter!
Wir erheben uns. „Alles bereit?“
Ich öffne die Türe.

„Gott soll Sie erhalten

Und Ihren seidenen Schirm entfalten.
Ich schösse mich tot, wenn ich jemals erführe – –“

Mir graust.
Das Frauenzimmer ist abgesaust.

Ich blicke ihr nach. Einmal überschlägt sie

Sich, wird ein Punkt, dann ein Pünktchen, und, ach,
Plötzlich ein sonnig blitzendes Dach,
Und ich weiß: das Dach trägt sie.

Ich schließe die Türe und reiße die Watte

Aus meinen Ohren. Ich fühle mich frei

Und sicher. Und ärgre mich doch dabei,
Weil sie mehr Schneid als ich hatte.

 

 

***

Ein entscheidendes Ereignis im Leben Joachim Ringelnatz’ war 1909 der Beginn seiner Auftritte in der Münchner Künstlerkneipe Simplicissimus. Rasch wurde der Unbekannte zum Hausdichter und damit quasi Angestellten der geschäftstüchtigen Wirtin Kathi Kobus und Freund und Kollege der dort auftretenden und verkehrenden Künstler wie Carl Georg von Maassen, Erich Mühsam, Frank Wedekind, Max Dauthendey, Julius Beck, Ludwig Thoma, Emmy Hennings, Roda Roda, Bruno Frank und Max Reinhardt. Die Auftritte waren jedoch sehr schlecht bezahlt. Ringelnatz hoffte mit Reklameversen und dem Tabakladen Tabakhaus Zum Hausdichter Geld verdienen zu können, doch das originelle Geschäft (geschmückt mit einem menschlichen Gerippe) machte nach einigen Monaten Pleite.

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.