DER FRIEDHOF AM MEER – II

 

Die Seele, Sonnwendfackeln preisgegeben,
halt ich dich aus mit meinem ganzen Leben,
Gericht des Lichts, das keine Gnade kennt!
Und du kommst rein an deine erste Stelle!
O Eintagsspiegel!… Doch wer schenkte Helle,
der sie als Hälfte nicht vom Schatten trennt!

Für mich, bei mir nur, in mich eingerichtet,
an einem Herzen, das midi doch gedichtet,
zwischen dem Nichts und dem, was rein geschieht,
wart ich, ob innre Größe widerhalle,
Zisterne, finstre, bittre – , draus vor alle,
nie eingeholt, ein Ton des Hohlen zieht!

Weißt du, des Blattwerks falsche Kerkerschwelle,
gieriger Golf der klappernden Gestelle,
wenn ich die Augen schließe, glanzvoll blind,
was für ein Leib mich zieht ins träge Ende,
zu welcher Stirn ich mich nach abwärts wende?
Ein Funken drin denkt die, die nicht mehr sind.

Geheiligt, zu, voll Feuer rein von Stoffen,
ein Erdenstück erstauntem Lichte offen,
wie mir, so flammend, dieser Ort gefällt -,
aus Baum und Gold und Marmor sich verwebend,
und so viel Stein auf so viel Schatten bebend, –
das Meer schläft treu auf meiner Gräberwelt.

Hündin aus Glanz, verjag mir den Beirrten!
siehst du mich so, mit Mildigkeit des Hirten,
bei meinen Lämmern stehn, wie eingepflockt;
laß mich an meine Herde Gräber glauben,
halt von ihr ferne die zu klugen Tauben,
die Grübelei’n, die Engel, die es lockt!

Kommt sie hierher, so wird die Zukunft träge.
Der harte Käfer ist des Trocknen Säge;
alles ist aufgebrannt, verzehrt -, geht ein
in irgendwie gestrengere Essenzen …
Der Rausch des Nicht-Seins sprengt des Lebens Grenzen,
und Bitternis ist süß, und Geist ist rein.

Die Toten habens gut in diesen Brocken,
sie werden warm und ihr Geheimnis trocken.
Mittag dort oben, Mittag ohne Schwung,
denkt in sich selbst und ist sich selbst zum Lohne …
Haupt ohne Rest und ganz geschloßne Krone,
ich bin in dir die Spur Veränderung.

Du hast nur mich, die Ängste zu enthalten,
den Zwang, den Zweifel -, alle die Gewalten
sind wie ein Fleck in deines Demants Wert!…
Doch unterm Marmor, finster überlistet,
hat sich ein Volk, das um die Wurzeln nistet,
allmählich langsam schon zu dir bekehrt.

 

 

***

Gedichte von Paul Valéry, übertragen durch Rainer Maria Rilke. Weimar: Cranach Presse für Leipzig: Insel-Verlag, 1925.

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