Das Tagebuch eines Willenskranken

Oh, qu’un peu de bonheur naïf est une douce chose!

Amiels Tagebuch, 16. April 1855

Die einzelnen sind es, welche die Leiden der Zeit leiden und die Gedanken der Zeit denken. Und Bücher, aus denen solch ein Schmerz der Zeit spricht, sind die traurigsten und werden sehr berühmt, weil es die einzigen sind, die wir beinahe ganz verstehen können. Was in uns ist von vagem Schmerz, von verborgener Qual und verwischtem Sehnen, jedes erstickte Anderswollen und alle Disharmonien, die der Wille zur Erhaltung übertäubt hat, sie erwachen zu einem unbestimmten Leben und leben auf im Mitleid des Tat twam asi. In Qualen wird das »gute Europäertum«, die vaterlandslose Klarheit von morgen errungen; den Geschlechtern von gestern und heute, zwei Generationen von Schwankenden und Halben, war der Weg zu rauh. Nach rückwärts zieht die Verführung, die nervenbezwingende Nostalgie, die Sehnsucht nach der Heimat: sie ist das Nationalitätenfieber, sie Heilsarmee und neues Christentum, sie ringt in Tönen nach dem Gral, zu dem keiner zurückfindet, sie ist das Letzte aller Ermatteten, Wagners letzte Oper, Leo Tolstois letztes Lebenswerk, der deutschen Bismarck-Politik letzter Gedanke, die letzte Zuflucht in Henri-Frédéric Amiels Bekenntnissen. Zurück zur Kindheit, zum Vaterland, zum Glaubenkönnen, zum Liebenkönnen, zur verlorenen Naivetät: Rückkehr zum Unwiederbringlichen. Ich sehe keinen anderen Gedanken in Amiels Tagebuch, diesem großen und schmerzlichen Buch, das ein Mensch geschrieben hat mit der Gabe französischer Selbstbeobachtung und Zerlegungssucht und der Gabe deutscher grenzenloser Aufnahmsfähigkeit, in dem zweierlei Moral, zwei Zivilisationen, zwei Weltanschauungen miteinander ringen, bis seine Willenskraft erloschen ist und über dem Dämmern einer weichen, träumerischen Molluskenseele in ruhelosen Schwingungen ein ererbter Wille schwebt, ein mechanisches qualvolles Wiederholen atavistischer Forderungen, ein sich selbst tote unverständliche Pflichten Aufzwingenwollen, ein Ringen um die verlorene Fähigkeit sich selbst zu begrenzen, einfach zu denken und wollen zu können.

Amiels Leiden sind die ewigen Leiden des enttäuschten Idealisten, auf einen bestimmten, modernen Fall übertragen. Seine Leiden sind komplizierter als die anderer Denker, die aus den ererbten Formen heraustraten, denn das Feindliche, das für jeden Märtyrer des Gedankens die Erscheinungswelt, die Welt der verdorbenen Ideen, der Konzessionen, der Bourgeoisie und des cant ist, das lag für Amiel in ihm selbst. Er wollte die Traumfreiheit des deutschen Philosophen und will doch auch christliche Askese und pascalische Gewissenspein; es ist die Künstlerseele mit der Gabe der freien hellen Verachtung und ist doch ein Etwas zwischen Monsieur Prudhomme und Middlesex gentleman, ein Etwas mit gentility, Takt und wohlerzogener Mittelmäßigkeit; in ihm ist Stoff für den Märtyrer des geächteten Gedankens und für die sancta simplicitas, die Stroh zum Scheiterhaufen trägt. Er ist eine Antithese, das ist das Französische an ihm; eine Hamletvariation, das ist das Moderne.

I

Henri-Frédéric Amiel ist 1821 zu Genf geboren; 1821, zu einer Zeit des Überganges, da eben eine Gruppe junger Goetheschwärmer angefangen hatte, in der »Revue des Deux Mondes« das neue Evangelium deutschen Geistes zu verkünden, deutsche Ideen in Umlauf zu setzen, zu Genf, in der Stadt des Überganges, wo sich die Alpen zur Ebene niedersenken, wo sich das Erhabene zum Anmutigen mildert, deutsches und welsches Wesen ineinander überfließt, zu Genf, der halb calvinischen, halb katholischen Stadt, deren politische Vergangenheit ein geschicktes Balancieren zwischen übermächtigen Nachbarn und feindlichen Kulturströmungen war. Er ist herangewachsen in einem Milieu der abgetönten, halben Farben, der Montblanc bläulich verschwimmend im Hintergrund, im Westen Frankreich, die fröhliche Klarheit des Beschränkten, im Osten Deutschland, wogend und dämmernd, rätselhaft anziehend wie die Unendlichkeit; hier klang ihm eine Sprache entgegen, die das Resultat festhält, klärt und sondert, auch das Unendliche begrenzen möchte, die gewordenen Dinge darstellt, dort eine Sprache des Werdens der Dinge, vag, formlos und träumerisch. In dem engen republikanischen Gemeinwesen, wo – eine Frucht jahrhundertalter politischer und religiöser Mündigkeit – jeder frühzeitig angehalten wird, sich über die großen Streitfragen, ob Demokratie oder Aristokratie, »orthodoxes« oder »liberales« Christentum, ein Urteil nicht nur zu bilden, sondern dieses auch in fester, zur Verteidigung handlicher Form immer gegenwärtig zu haben, stelle ich mir Amiels frühe Entwicklung gern so ähnlich vor, wie die des »grünen Heinrich«, der ja auch, ein grübelnder Knabe, sich zwischen feste, formelhafte Weltanschauungen, Parteiprogramme und geheimnisvoll anlockende Schlagworte hineingestellt sah. Namentlich in seinem mühseligen Ringen, sein Verhältnis zu Gott in allen wechselnden Phasen so recht klarzustellen, hat Kellers dilettantischer Maler viel Verwandtes mit Amiel, dem dilettantischen Dichter. In der Demokratie mußte ihn das abstoßen, was er »Amerikanismus« nennt, worunter er mit nervöser Frauenlogik alles ihn Irritierende, Egalitarismus, Maschinenlärm, Parvenütum und Egoismus begreift; so wandte sich sein Sinn einem weichen, passiven Aristokratismus zu, der sich zum radikalen von heute verhält wie Amiels abgetönte Lieblingsfarben, das lichte Grau, das verhauchende Lila, zum herrischen Rot und zum vollen Gelb, die wir wieder lieben.

Aus dem Grübeln über die Glaubensform trug seine Seele ein Doppeltes davon: die katholische Sehnsucht nach dem Unfaßbaren, nach mystischer Musik, nach der Wollust der Zerknirschung und des Entsagens, dem Kultus des Mitleids und der Träne, und vom Protestantismus die Neigung zur frommen Pose, die Anhänglichkeit an die großen Worte, die verführerischen Formeln, die so schön klingen und beinahe trösten. In ihm ist ein katholischer Träumer und ein »protestantischer Hamlet«; in seiner grübelnden und sensitiven Seele hat sich die ererbte Nostalgie nach dem katholischen Gemütskultus zu einem Kultus der zarten Empfindung, zu einer Schwärmerei für gemütvolle Landschaft und rührende, einfache Akkorde umgebildet. Wir werden sehen, daß er Wagner nicht versteht und Goethe kalt findet. Dazu der Schweizer Hang zum Kalkulieren und Formulieren, eine Virtuosität der überfeinen Unterscheidung und des aphoristischen Worts. Von der Natur also scheinbar bestimmt, eine weiche, aufnahmsfähige und zartgestimmte Individualität zu liebenswürdiger Mittelmäßigkeit auszubilden, befangen in dem seiner Rasse eigenen grundlateinischen Dualismus der Weltauffassung, der Spaltung zwischen Gott und Welt, Geist und Körper, Gnade und Sünde, Gut und Böse, tritt Amiel den Weg nach Deutschland an, aus dem Land der Antithese, des klassischen Alexandriners in das des freien Rhythmus, aus der analytischen, rhetorischen Welt in die synthetische, poetische; von Condillac zu Hegel, von Paul-Louis Courier, dem Klassiker der reinen Form, zu Jean Paul, dem Klassiker der Formlosigkeit. Das Frankreich, das er verließ, hatte eben (1840) den vollendetsten Ausdruck seiner romantischen Leiden in Mussets todestraurigem Liedchen »Tristesse« gefunden:

Dieu parle, il faut qu’on lui réponde;

Le seul bien qui me reste au monde

Est d’avoir quelquefois pleuré.

 

Das Deutschland, das er betrat, war erfüllt von den Triumphen universalistischen Geistes, durchhallt von einem Weltgespräche; stolz darauf, jeder Zivilisation, jeder Epoche, jeder Eigenart volles, selbstvergessenes Verständnis zu bieten. Damals vor allem hieß deutsch sein kosmopolitisch denken und weltumfassend träumen, Milieu, Zeit und Eigenart vergessen, jedes Alter, jede Erscheinungsform annehmen können. Goethes großes Beispiel war lebendig; die Romantik, die in der Zeit lag, kam ihm entgegen, alle Fachwissenschaften schienen der Zentralwissenschaft, der wahren Philosophie, zuzuströmen. Einen »Einungskünstler« hatte Goethe der ganzen Welt gewünscht und war selbst einer geworden. »Le génie est un simplificateur« ist vielleicht die schlagendste unter Amiels zahllosen Definitionen. Ihn, den dilettantenhaft eindrucksfähigen französischen Studenten der Universitäten Berlin und Heidelberg, berührte dies Beziehen von allem auf alles, dies tiefe und kühne Erfassen der Alleinheit der Dinge, der Weltenharmonie, wie eine Offenbarung, nicht der Wissenschaften, sondern der Religion: vielmehr Forschung und Gottesdienst war jetzt eines geworden, er war in einem Ideenkreise, wo die Worte ihre Bedeutung, die Antithesen, die er aus der Heimat mitgebracht hatte, ihre Starrheit verloren hatten: er dachte mit dem Herzen und fühlte mit dem Geist: »Jede tiefste Freude«, schreibt er nach der Rückkehr von Berlin, »habe ich durchmessen … die heitere Klarheit mathematischer Betrachtung, das teilnahmsvolle und leidenschaftliche Sichversenken des Historikers, die Sammlung des Weisen, den ehrfurchtsvollen und glühenden Naturdienst des Forschers, alle Phasen einer Liebe ohne Grenzen, die Wonne des Künstler-Schöpfers, das harmonische Zusammenbeben aller Saiten« … Die Wonnen des Künstler-Schöpfers? … Ihrer war nie ein Mensch weniger würdig. Gleichviel; alles, was die Natur einem empfänglichen, nachschaffenden Geist gewähren kann, durchströmte ihn, wenn er vor Tagesanbruch aufstand, um vor seinem Pult in stiller Ruhe Weltenreisen und Jahrtausende zu durchfliegen, in immer höheren und reineren Kreisen zu schweben, von der historischen Betrachtung zur geologischen, höher, zur astronomischen, höher, zur theosophischen Vision. Aber getrieben von dem Durste nach Unendlichkeit, von einem unstillbaren Bedürfnis nach dem Absoluten, nach der Totalität, hatte er den Boden verloren. Wie die Elfen, die nach dem nächtlichen Reigen ihr Federnkleid nicht finden, in dem allein sie das Tageslicht ertragen können, findet seine Seele sich in die Beschränkung, die im Einzeldasein, in der Persönlichkeit, in dem zufällig zugefallenen Menschenlos, der Tyche, liegt, nicht mehr hinein: »Nur ans Unendliche und ans Absolute gilt es sich anzuschließen … und im Absoluten ist Ruhe für den Geist, und im Göttlichen für die Seele. Nichts Begrenztes ist wahr, meiner Betrachtung würdig, wert mich festzuhalten. Alles Besondere ist unvollkommen. Es gibt nichts Vollkommenes als das All.« Und dann: »Das Chaos, die Maja der Bilder, Formen, Wesen, die in meinem Innern auf- und niederströmen, verwirrt mich zuweilen bis zum Rausch, zum Schwindel.« Es scheint ihm unmöglich, sich wieder zurückzufinden in das Spiel der Maja, resigniert eine Rolle in der phantastischen Tragikomödie des Daseins zu unternehmen. »Maja«, dieses Wort der indischen Philosophie kehrt bei Amiel so oft wieder wie bei Schopenhauer; und nicht nur das Wort, auch der Prozeß, aus dem es hervorgegangen, ist derselbe. Was die Arier empfanden, als sie aus dem Hochland von Iran mit seiner dualistischen Welt von Segen und Dürre, Ahriman und Ormuzd, hinüberwanderten in das Gangesland mit seiner allgleichenden Üppigkeit, mit der überwältigenden Fülle seiner Formen und Farben, der Vielheit seiner Göttergestalten, dem ewig einen Kreislauf von Keimen, Blühen und Welken … das alles hat Amiel in der Gedankenwelt durchgemacht; und wie dort das Volk zu einem neuen, dem Brahmaglauben, so gelangte er, im Herzen dualistisch-christlich, zu einem neuen Glauben der Gedanken: hinter der Maja, dem trüglichen Schleier der Erscheinungswelt, mußte er seinen Gott suchen, den ihn sein alter Glaube in der Erscheinung geoffenbart erkennen hieß, er mußte die Welt als Trugwerk verachten, an die ihn Pflichtgefühl und Neigung band. Aus diesem Zwiespalt entsteht vielleicht der längste und martervollste Kampf, den je die Gedanken eines Men schen untereinander geführt haben, und so wird Amiels Tagebuch die peinlichste und vollständigste Exemplifikation von Schopenhauers Viertem Buch, das überschrieben ist »Von der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben«, indem es einen Kampf zwischen dem Willen zur Bejahung und dem Willen zur Verneinung innerhalb einer Menschenseele zeigt.

II

Nach der Rückkehr aus Deutschland bietet sich dem noch nicht Dreißigjährigen eine Lehrstelle an der Univesität Genf. Er hat sie angenommen und sein Leben lang Schulphilosophie und Literaturgeschichte tradiert; in mühseligen Qualen freilich, und gewiß ein unerfreulicher Lehrer: was kann der gestalten, dem alles zu allem verwogt und zerrinnt, was kann der Besonderes lehren, dem seine Besonderheit, sein Ich, sein Schicksal (Tyche nannten es die Hellenen, das zufällig Zugefallene) verdampft wie ein Tropfen auf heißem Eisen? der schwelgend im Ausschöpfen des Unausschöpflichen, im Durchträumen der Möglichkeiten das Zufallskind Wirklichkeit verachtet? der überhistorischen Geistes nach dem Ewig-Unbedingten ringt, dem »teres atque rotundum«, der mystischen Kugel, dem Allumfassen? Aber sein Lehramt ist ihm eine liebe Pflicht; denn er liebt die Pflicht, jede Pflicht. Er liebt sie wie ein Zauberwort, mit dem er jeden schlimmen Zweifel, jedes allzufeine Fragen verscheuchen kann; er will sie lieben; er klammert sich an dieses Wort; er spricht es aus wie ein geängstigtes Kind, das sich durch den Klang der eigenen Stimme mutig machen will; er schreibt es nieder, es klingt so voll, so altehrwürdig, es muß sich ja daran glauben lassen: »Ja, gottlob, ich glaube an Liebe, an Aufopferung, an Ehre. Ich glaube an die Pflicht und an das moralische Gewissen«, und immer wieder: »Ich glaube an die Pflicht, ich muß an die Pflicht glauben, wenn ich nicht zugrunde gehen soll … Fais ce que dois, advienne que pourra.« Er glaubt also an die Pflicht. Er erfüllt Freundespflichten und Bürgerpflichten. Er sehnt sich nach den höheren, nach den Pflichten des Gatten und Vaters, nach immer neuen, immer schwereren, sich darin zu vergraben, wie der Strauß den Kopf im Sand vergräbt: vor der qualvollen Angst, der sinnlosen Angst, dem Alpdruck der Verantwortlichkeit. »Comment retrouver le courage de l’action?« ist denn die Tat nicht Mord, das Wort nicht tausendfältige Verführung? ist denn der Entschluß nicht ein Teufelspakt, die Wahl nicht eine Quelle ewiger Reue? Dieses Abbröckeln des Willens zerstört nicht nur jedes kleinste Glück, ja die Fähigkeit zum Glück: sie läßt ihn auch nicht sagen, was er leidet. – Amiel hat zum großen Künstler nur eines gefehlt. Die tiefen Schmerzen gewiß nicht, die vibrierende Feinheit der Empfindungen gewiß nicht, noch auch der Mut der schärfsten Zergliederung. Suggestionskunst, l’art d’évoquer, die große Herrenkunst, hätte er vielleicht nie errungen; er läßt sich beherrschen, ist Saitenspiel und empfindliche Platte; aber er hat die zweite Poetengabe, die Proteusgabe: aus dem erhaschten Duft wird ihm Pflanze und Wald, der Landschaft lauscht er ihre zarteste Stimmung ab und empfindet sich hinein in die Seelen der Dinge; »éprouvé ce matin l’influence du climat sur l’état de l’âme; j’ai été italien et espagnol«, heißt es einmal im Sommer, und ein anderes Mal im Spätherbst ruft in ihm ein Nichts, ein bereiftes Spinnennetz, nordische Bilder hervor, er fühlt wie einen Hauch von Island und den Hebriden, Ossian und Frithjofsaga. Der halben, heimlichen Gefühle, der kaumbewußten, ist sein Buch suggestivste Fundgrube; »l’abîme de l’irrévélé, le moi obscur, la subjectivité pure, incapable de s’objectiver en esprit«, der »Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende«, das schattenhafte Reich der Mütter, das ist sein Weg und sein Reich, sein eigenes reiches Reich. Er hat auch die Gabe des Wortes, der funkelnden Sentenz, der glücklichen Knappheit. Eben dem mot, der allerfranzösischesten Gabe, verdankt er seine posthume Berühmtheit in Frankreich: eines, »Tout paysage est un état de l’âme«, und ein anderes, »La rêverie est le dimanche de la pensée«, sind »Volksdefinitionen« geworden; man zitiert sie schon, wie Volkspoesie, ohne den Autor zu kennen. Er hat den Dichterfeinsinn für Nuancen, für das Undefinierbare, für verschwimmende, neue und heimliche Farben: »Il y a deux formes d’automne: le type vaporeux et rêveur, le type coloré et vif; automne vermeil, automne cendré, saison bisexuelle« … »je trouve du charme aux vues de pluie; les couleurs sourdes en sont plus veloutées, les tons mats en deviennent attendris. Le paysage est alors comme un visage qui a pleuré.« … »Gesteigerte Empfindungsfähigkeit, zähes Durchdenken, Kraft des Verbindens, des Einteilens, Scheidens und Zersetzens, ein starker Wille zum System, zur Ganzheit, der Ausdruck schwerflüssig und ängstlich, der Charakter schüchtern, mißtrauisch, despotisch, die Seele weich bis zum Mystizismus«, so macht Amiel das Inventar seines Selbst. Fast eine Künstlerseele; eines fehlt: Können. Er hat auch das erkannt mit dem unerbittlichen, klaren Blick des Kranken: »Meiner Kraft, des Instrumentes, wenig sicher, lieb ich es, mich ihrer durch Virtuosenkünste zu vergewissern. Ich spiele Skalen, schmeidige mir die Hand und versichere mich der Möglichkeit des Vollbringens, aber das Werk bleibt aus. Mein Aufschwung erstirbt, des Könnens froh, ohne ans Wollen zu reichen.« Initiative Anfangskraft fehlt. »Ich warte immer auf die Frau, auf das Werk, groß genug, meine Seele zu erfüllen und mir Ziel zu werden.« Das ist das ewige, symbolische Warten, der große Trugschluß aller Raphaels ohne Hände, der »Künstler« von Gotthold Ephraim Lessings Gnaden.

Dieser Überreichtum ist eigentlich Mangel; dieses Alleswollen nichts als die hilflose Unfähigkeit, sich zu beschränken. Kritischer, nicht schöpferischer Geist dünkt sich künstlerischer als der könnende, göttlicher als Gott, der ja die Welt, ein Unvollkommenes, zu schaffen sich entschloß; formloses Fluidum, der Gestaltung unfähig, dünkt sich eben darum aller Formen, der unendlichen Mannigfaltigkeit des Möglichen, voll und verachtet den gestalteten Marmor, weil jeder Meißelstoß ein Verzichtleisten, ein Einengen der Möglichkeiten, ein Unfreiwerden ist. »Cette espéce d’effronterie«, die freie Unbefangenheit des Schaffenden, der, im Rausch des Schaffens wenigstens, die Augen zudrückt und ganz will, sie ist vielleicht eine Offenbarung, wie es denen ist, die immer ganz wollen und sich nie zusehen, den sehr naiven und sehr freien Geistern. Ihrer war Amiels vermorschter Wille nie fähig. Seine Poesie kommt nicht von ποιειν, schaffen: »Zermahlene Körner«, »Fremde Töne«, »Buch des Nachdenklichen«, das sind die rechten Namen für seine Bücher voll mühseliger Filigranarbeit, voll melodieloser Trauer und peinlicher, unfroher Wortkunst. Unbefriedigt schrieb er sie und ließ die unbefriedigten Freunde warten, endlos warten auf das große Werk, auf das er selbst wartete. So, in hoffnungsloser Erwartung und unbedeutendem Vollbringen, verrann sein Leben, ein schattenhaftes Gedankenleben. »Grübeln sein Tagewerk, Träumen seine Sonntagsfeier.« Er ist den Freunden, klugen Literaten wie Edmond Scherer, Le Coultre, Naville, die ihn nicht verstehen, den Frauen, über die sein (veröffentlichtes) Tagebuch schweigt, den Schülern, die seine tiefsten Gedanken nicht kennenlernen, kurz aller Welt und in guten Stunden sich selber ein lieber, sanfter, feinfühliger, stiller Mensch: manchmal recht heiter, ein wenig, ein klein wenig pedantesque mit einem Hang zur Bourgeois-Sentimentalität, zum Garten »Joli« und zum Fluß »Tendre« der seligen alten Scudéry. Er spricht viel, gut und salbungsvoll; er ist nicht umsonst ein protestantischer Sohn des rhetorischen Volkes. Er liebt die preziösen und moralischen Vergleiche: fallende Blätter und ähnliche Banalitäten der Natur verfehlen nie ihn dazu anzuregen. Er nimmt von seinem alten Plaid, diesem »einzigen ritterlichen Kleidungsstück« unserer Zeit, auf vier Druckseiten Abschied. Er liebt auch die alten Formeln, die im Munde Bossuets so schön geklungen haben. Er ist manchmal ein sehr gewöhnlicher Mensch. Aber er leidet viel. Und er hat frühzeitig einen grausamen Gedanken und dieser Gedanke wird ihn vielleicht unsterblich machen, hat ihn schon zum Rang »eines vollkommenen Beispiels für eine gewisse Varietät moderner Seelen« erhoben2. Und das ist dieser Gedanke: »Fais le testament de ta pensée et de ton cœur; c’est ce que tu peux faire de plus utile.«

Was die Freunde nach des Verfassers Tod (1881) von diesem Testament der Öffentlichkeit übergeben haben, ist die Leidensgeschichte eines gespaltenen Ich, eines, »der in sich selbst heimatlos ist«3. »Heidengeist, christlich Herz« ist eine von Amiels unzähligen Selbstcharakteristiken. Das christliche Herz, der Wille zum Leben, klammert sich an jedes teuere Erbe, jedes ehrwürdige Wort, will wollen, will hoffen, will glauben. Der heidnische Geist, die Erkenntnis, drängt zum Pessimismus, zum Quietismus, zum Nirwana. Sie ringen miteinander, und jede Kraft und Begabung, Schärfe des Blicks und Macht der Dialektik, deutsche Philosophie und universalistische Bildung, wirken mit, diesen Kampf qualvoller zu gestalten. Hundertmal beginnt der Wille eine ohnmächtige Beweisführung, sich selbst zurückzuzwingen in die verlorene Naivetät, sich zum Vorurteil, zur Nation, zur Individualität zurückzuzwängen, hundertmal schlagen die Wogen eines alldurchschauenden, trostlosen Erkennens über dem wankenden Gebäude von erstorbenen Begriffen zusammen: »Nada« klingt es aus, »Nirwana«, »Nichts«, »Leere«. Das Herz will Folgerungen aus Urteilen, aus »Wahrheiten« ziehen, an die der Kopf nicht mehr glaubt: daraus kann nur Krankheit entstehen, wie aus einem körperlichen Mißverhältnis. Aber die dumpf empfundene Krankheit ist nicht die schlimmste; erkannt erst wird sie doppelt gefühlt; es entspinnt sich eine furchtbare Wechselwirkung zwischen Objekt und Subjekt des Erkennens, zwischen dem Ich, das leidet, und dem Ich, das leiden zusieht. Pascal war vielleicht nie so elend, als da er das Wort schrieb: »Die Krankheit ist des Christen natürlicher Zustand«, und hundert ähnliche Worte hat Amiel über sich geschrieben. Und er leidet so viel, daß er wirklich groß wird, groß durch die »Gabe des Leides«4, wie ein anderer durch eine starke Leidenschaft, durch irgend etwas Wirkliches und Tiefes. Je höher die Gedanken kreisen, ins Jenseits von Gut und Böse, von Genuß und Qual, desto banger tastet das wunde Herz nach Güte; olympische Klarheit und jedes ruhige, halkyonische Sein schmerzt ihn wie eine Roheit: Goethe hat »wenig Seele, ihm fehlt der glühende Edelmut« … Schopenhauer »entbehrt jeder menschlichen Milde, jeder Sympathie« … Taines Geist empfindet er wie etwas Rauhes, Verletzendes, Unedles.

Trostsuchend bei Wissenden, tastet er in der Erfassung der Wissenschaften von Grad zu Grad: »so scheint die Weltgeschichte dem ersten Blick nichts als Unordnung und Zufall, dem zweiten Logik und Notwendigkeit, dem dritten ein Gemisch von Notwendigkeit und Freiheit, bei der vierten Prüfung weiß man nicht mehr, was man denken soll« … und das gilt für jede Wissenschaft wie für die eine. Hier kein Trost, weil keine Wahl; er kann sich nicht entscheiden, nicht entsagen. Ein Fluidum, das keine Temperatur zu kristallisieren vermag: es wird endlich verdampfen. »Wie ein Traum, der beim Morgengrauen zittert und verweht, so verweht von meinem Bewußtsein aufgelöst in Luft all meine Vergangenheit, all meine Gegenwart. Reisen, Pläne, Bücher, Studien, Hoffnungen, alles verwischt sich in meinem Denken.« Er sieht sich selbst zerfallen zu. »Ich vergesse noch mehr, als ich vergessen werde. Lebendig sinke ich sanft in den Sarg. Ich empfinde wie den ungestörten Frieden des Nichtseins und die wogende Ruhe des Nirwana; vor mir, in mir wogt der Strom der Zeit, gleiten unfühlbar die Schatten des Lebens« … er hört, »wie die Tropfen seines Lebens in den Abgrund rieseln« … Er ist der Ruhe so nahe, daß ihn jede starke Willensäußerung, den Willenlosen, mit mitleidigem Schmerz erfüllt: betrunkene Bauern, lärmend in der Nacht, werden ihm zum ekelhaften Bild der im Trug der Maja befangenen Kreatur; sie johlen und kreischen … »Hört ihr, was auf dem Grund dieser Freude liegt? Ein Echo des Satans, die Versuchung sich zum Mittelpunkt zu machen, zu sein wie Elohim, die große Empörung!« … »moi affranchi par le rire, libre comme un démon, moi maître de moi, moi pour moi!« So haben Heilige die Welt angeschaut. Heilige der Thebaïs und des Ganges, Heilige aller Geschlechter, aller traurigen Geschlechter, die Nein sagten zum Leben.

19. April 1881: »Accablement … langueur de la chair et de l’esprit …

Que vivre est difficile, ô mon cœur fatigué!«

Ein paar Tage später ist Henri-Frédéric Amiel gestorben.

***

Fragments d’un journal intime, von Henri-Frédéric Amiel. Ausgewählte Auszüge seines Tagebuchs, kurz nach seinem Tod von Fanny Mercier publiziert. Die deutsche Übersetzung von Rosa Schapire erschien 1905 im Piper Verlag (München und Leipzig).

Über Amiels Gedichtsammlungen: »Grains de mil«, »Jour à jour«, »Les Etrangères«, »Penseroso« … näheres in Edmond Scherers Biographie, als Vorrede zum Tagebuch Amiels, und Paul Bourgets Essay über Amiel (»Nouveaux essais de psychologie contemporaine«).

Hugo von Hofmannsthal 1910 auf einer Fotografie von Nicola Perscheid

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Im Alter von achtundzwanzig Jahren verschafft sich Hofmannsthal mit dem Brief des Lord Chandos ein Ventil, seinem Zweifel an der Sprache Raum zu verschaffen. Der Sprache traut er jedenfalls nicht länger zu, den Zusammenhang von Ich und Welt herstellen zu können.

 Hugo von Hofmannsthal über Gedichte.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

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