Anno Domini 1933

 

 

Er hielt an einer Straßenecke.

Bald wuchs um ihn die Menschenhecke.

 

Sein Bart war schwarz, sein Haar war schlicht.

Ein großes östliches Gesicht,

 

Doch schwer und wie erschöpft von Leid.

Ein härenes verschollnes Kleid.

 

Er sprach und rührte mit der Hand

Ein Kind, das arm und frostig stand:

 

»Ihr macht es krank, ihr schafft es blaß;

Wie Aussatz schmückt es euer Haß,

 

Ihr lehrt es stammeln euren Fluch,

Ihr schnürt sein Haupt ins Fahnentuch,

 

Zerfreßt sein Herz mit eurer Pest,

Daß es den kleinen Himmel läßt —«

 

Da griff ins Wort die nackte Faust:

»Schluck‘ selbst den Unflat, den du braust!

 

Du putzt dich auf als Jesus Christ

Und bist ein Jud und Kommunist.

 

Die krumme Nase, Levi, Saul,

Hier, nimm den Blutzins und halt’s Maul!«

 

Ihn warf der Stoß, ihn brach der Hieb.

Die Leute zogen mit. Er blieb.

 

Gen Abend trat im Krankenhaus

Der Arzt ans Bett. Es war schon aus. –

 

Ein Galgenkreuz, ein Dornenkranz

Im fernen Staub des Morgenlands.

 

Ein Stiefeltritt, ein Knüppelstreich

Im dritten, christlich-deutschen Reich.

 

 

 

***

Gertrud Kolmar ( * 10. Dezember 1894 in Berlin; † vermutlich Anfang März 1943 in Auschwitz) war eine deutsche Lyrikerin.

1917 erschien ihr erster Gedichtband unter dem Pseudonym Gertrud Kolmar. Das Pseudonym erklärt sich aus der Herkunft ihres Familiennamens von der Stadt Chodziesen in der damaligen preußischen Provinz Posen, die 1878 in Kolmar umbenannt worden war. Ab Ende der 1920er-Jahre erschienen einzelne ihrer Gedichte in literarischen Zeitschriften und Anthologien. 1934 wurde ihr zweiter Gedichtband Preußische Wappen im Verlag Die Rabenpresse von Victor Otto Stomps publiziert. Diese Veröffentlichung brachte den Verlag auf eine Liste unerwünschter Verlage des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, von dem er dann boykottiert wurde. Kolmar durfte ab 1936 nicht mehr unter ihrem Künstlernamen publizieren, sondern nur noch unter ihrem Familiennamen Chodziesner.

Ihr dritter Gedichtband Die Frau und die Tiere, der im August 1938 im Verlag Erwin Löwe erschien, wurde nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 in Zusammenhang mit der Auflösung der jüdischen Buchverlage verramscht. Die Familie Chodziesner wurde infolge der verschärften Verfolgung der jüdischen Bevölkerung noch im November 1938 zum Verkauf ihres Hauses in Finkenkrug und zum Umzug in eine Etagenwohnung in einem sogenannten „Judenhaus“ in Berlin-Schöneberg gezwungen.

Ab Juli 1941 musste Gertrud Kolmar Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten. Ihr Vater wurde im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und starb dort im Februar 1943. Gertrud Kolmar wurde am 27. Februar 1943 im Verlauf der Fabrikaktion verhaftet und am 2. März 1943 im 32. sogenannten Osttransport des RSHA ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Von den etwa 1500 Berliner Jüdinnen und Juden, die in diesem Zug am 3. März 1943 in Auschwitz ankamen, wurden nach der Selektion an der ‚Alten Rampe‘ 535 Männer und 145 Frauen als „arbeitsfähige“ Häftlinge registriert und in das Lager eingewiesen. Die übrigen etwa 820 Deportierten dieses Zuges, darunter Gertrud Kolmar, wurden nicht als Häftlinge registriert und vermutlich sofort nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet.

Gertrud Kolmar, von deren Werk zu Lebzeiten relativ wenig erschien, gilt heute als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Nach eher konventionellen Anfängen fand sie in ihren Gedichten vor allem ab Ende der Zwanzigerjahre zu einem eigenen, unverkennbaren Ton, geprägt von großer sprachlicher Virtuosität und Expressivität, unter gleichzeitiger Beibehaltung traditioneller Formen. In ihrem Werk herrschen Natur- und Frauenthemen vor, oft ins Mystische und Hymnische gesteigert.

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.