Postkartenarten

Wie all die Jahre zuvor hatte er sich auch in diesem Urlaub ganz eindeutig und fest vorgenommen, einen ganzen Haufen Postkarten aus der Ferne zu schreiben. Mehr aus einem Gefühl der Tradition als der Pflicht, mehr aus Trotz, denn aus Lust am Verfassen banaler Urlaubsprosa oder ausgefeilter Reiselyrik. Es geht schließlich beim Verschicken solcher Post nicht in erster Linie um den Text.

Der Brief will bestehende oder sich entwickelnde Ansichten oder persönliche Befindlichkeiten dezidiert und vor allem kommentierend mitteilen, die meist nur für einzelne Personen bestimmt sind. Er ist reine Privatsache, wenn einmal von jenen Postsendungen abgesehen wird, welche für Produkte oder Servicedienstleistungen werben, gar dem Konsumenten die Rechnung für seinen Verbrauch präsentieren. Man denke nur an die großen Briefwechsel der Literaturgeschichte, die sich durchaus neben persönlichen Mitteilungen zu längerfristigen theoretischen Abhandlungen zu ästhetischen oder humanistischen, zu ideologischen oder wissenschaftlichen Projekten ausweiten konnten. Schillers Briefe etwa, Grundlage so mancher Gedankengänge vieler Künstler, Philosophen und Literaten. Oder Kafkas Brief an den Vater, der berühmte Chandosbrief von Hugo von Hoffmannsthal, der allerdings tatsächlich nur reine Literatur ist, trotzdem Auswirkungen auf das Nachdenken über die Wirkmechanismen der Sprache hatte und hat.

Die Postkarte allerdings will Grüße übermitteln, zeigen, dass man an den Anderen oder die Andere denkt. Auch wenn sie von einigen wenigen Künstlern als Mail-Art missbraucht wurde. Selbst im Zeitalter minütlich verschickter SMS-Nachrichten und Botschaften aus dem Zwischennetz der digitalen Kommunikation ist die Begreifbarkeit der Karte, die im Briefkasten liegt, etwas ganz Besonderes. Neben den wohl gemeinten Grüßen werden fast standardisiert die üblichen Fakten und Daten übermittelt, die sich wohl jedes Jahr wiederholen. Da schreibt es sich über hervorragendes oder miserables Wetter, Sonne oder Regen. Die Verfasser befassen sich in gedanklichem Schmatzen mit dem Essen und neu entdeckten (alkoholischen) Getränken. Sie schildern in knappen Sätzen von Aktivitäten und Beschreibungen allgemeiner Wohlbefindlichkeit im gewählten Ferienparadies. Höhe der bewältigten Berge, Bläue des Himmels und des Wassers, vielleicht von der Gewalt des Wellengangs. All dies war Herrn Nipp wohl bewusst. Mehr wollte er auch gar nicht.

Vor einigen Jahren hatte ein Soziologe (Und ich meine nicht Diana Bauer, die auch ein Buch über Postkarten verfasst hat. Der Name ist leider nicht mehr bekannt, kann aber sicher mit einiger Geduld gegoogelt werden.) für seine wissenschaftliche Dissertation (ja, das ist eine Tautologie, ich weiß) hunderte, wenn nicht tausende von Postkarten aus den letzten hundert Jahren gelesen, studiert und festgestellt, dass sich die Menge geschriebener Wörter verändert hatte. Von ehemals fast 240 Wörtern, die in winziger Schrift auf die Schreibfläche gequetscht wurden, hatte sich die Zahl bis heute auf rund 60 bis 80 geschrumpft. In dieser Arbeit wurde auch die allmähliche Verflachung stilistischer wie inhaltlicher Varianz auf das Schärfste nicht kritisiert, sondern dargestellt. Dies alles ein Spiegelbild unserer Kultur und Gesellschaft – ja, das ist auf jeden Fall der Untergang der abendländischen Kultur. Und auch dies sei vermerkt: die Gesellschaft wird immer bequemer und lascher. Zehn Zeilen mit großen krakeligen, je höchstens zehn Wörtern sind einfach genug. Die Schreibmuskeln sind einfach nicht mehr so trainiert wie früher. Und wer will das ewig gleiche denn eigentlich lesen?

Die Bilder sind viel wichtiger – Projektionsfläche unserer Träume und Sehnsüchte. Zu diesem Zwecke hatte sich Herr Nipp gut zehn Karten besorgt, für jeden Adressaten eine andere. Die Tante sollte mindestens sechs gerahmte Bildchen mit zentralem Schriftzug bekommen. Der Freund aus Berlin den gröbsten Sonnenuntergangskitsch, er würde die distanzierte Selbstironie schon verstehen. Die Verflossene würde um ein sachliches Panoramamotiv bereichert. Jedes Motiv verbindet zwei grundlegende Gedanken: die Selbst- und die Fremdaussage.

Allerdings hatte er bis zum vorletzten Tag wegen der permanenten Aktivitäten keine Zeit zum Schreiben gefunden. Er setzte sich also auf die Terrasse seines Panorama-Ansitzes und betrachtete die gewählten Karten, war zufrieden. Sein älterer Bruder würde die Abbildung eines Klettersteiges erhalten, den sie gemeinsam vor über zwanzig Jahren geschafft hatten. Auch als Aufforderung der zukünftigen Wiederholung. Mit Bedacht klebte er die inzwischen selbstklebenden Briefmarken auf. Heute muss der Urlauber nicht mehr an den Papierfetzen herumlecken, nicht wissend, welche Schadstoffe der Kleber enthält.

Da die vorherige Wanderung sehr anstrengend gewesen war, glitt sein Zustand langsam aber stetig in einen des Schlummers über den Karten hinüber. Wie jedes vorige Jahr würde er die Karten also mit nach Hause nehmen und sorgsam in die Kiste legen. Dort fanden sich auch die unbeschriebenen, dafür brav mit Wertzeichen beklebten Bildkarten der letzten Jahre, auch aus einer Zeit, als es noch Lira und Franc gab.

 

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421