Die Tartarenlegende

 

„Hätte es die Tataren nicht gegeben, ich wäre heute nicht mehr am Leben. Es waren die Nomaden von der Krim, die in dem Niemandsland zwischen der deutschen und der russischen Front lebten. Sie waren mir schon vertraut, denn ich war oft zu ihren Lagerplätzen hinausgegangen und hatte bei ihnen gesessen. Ihre nomadische Lebensweise hat mich sehr angezogen, obwohl ihre Bewegungsfreiheit damals natürlich eingeschränkt war. Dann entdeckten sie mich im Schnee nach dem Absturz meiner Maschine, als die deutschen Suchtrupps schon aufgegeben hatten. Ich war noch bewusstlos und kam erst wieder richtig zu mir nach zwölf Tagen. Die Erinnerungen an diese Ereignisse sind Bilder, die sich mir sehr tief eingeprägt hatten. Ich erinnere mich an den Filz, aus dem die Zelte gemacht waren, an den scharfen Geruch von Käse, Fett und Milch. Sie rieben meinen Körper mit Fett ein, damit die Wärme zurückkehrte, und wickelten mich in Filz ein, weil Filz die Wärme hält.“

Joseph Beuys

 

 

 

Am 4. März 1944 begann die Rote Armee an der Ostfront ihre Frühjahrsoffensive und erzwang in der Schlacht um die Krim den vollständigen Rückzug der deutschen Verbände aus der Ukraine. Während eines Einsatzes, bei dem Schneefall für schlechte Sicht sorgte, hatte Beuys’ Stuka am 16. März 1944, 200 Meter östlich von Freifeld, im Blindflug Bodenkontakt und zerschellte auf dem Boden. Der Pilot starb, Joseph Beuys wurde bei diesem Unfall verletzt. Er erlitt eine Nasenbeinfraktur, mehrere Knochenbrüche und ein Absturztrauma. Von einem deutschen Suchkommando wurde er bei den Trümmern der Ju 87 gefunden und am 17. März 1944 in das mobile Militärlazarett 179 nach Kurman-Kemeltschi eingeliefert, das er erst am 7. April 1944 verlassen konnte.

Der Absturz mit seiner Nachgeschichte diente Beuys als Stoff einer Legende, der zufolge nomadisierende Krimtataren ihn „acht Tage lang aufopfernd mit ihren Hausmitteln“ (Salbung der Wunden mit tierischem Fett und Warmhalten in Filz) gepflegt hätten. Diese Legende, die Beuys’ Vorliebe für die Materialien Fett und Filz erklären sollte und die Beuys in einem BBC-Interview ebenso beschrieb, hat auch sein Biograph Heiner Stachelhaus vertreten.

Weiterführend →

Joseph Beuys hat den Kunstbegriff erweitert. Auch der Literaturbegriff gehört erweitert. Bestand die Modernität des Aphorismus bisher in der Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Es ist Twitteratur.

→ ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.

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