Mondsüchtig

Es gibt Künstler, die verkörpern in ihrem Werk die Vergänglichkeit allen menschlichen Strebens. Der in Düsseldorf lebende Dirk Weißhuhn gehört zu ihnen. Als Zeichner versteht er sich darauf, den menschlichen Körper in eine symbolische Ordnung zu überführen, ohne die obszönen Lust am Fleischlichen kalter Zeichenhaftigkeit zu unterwerfen. Sein Oeuvre hat nicht nur in seiner thematischen Geschlossenheit etwas Organisches; im besten Sinne fungiert es selbst wie ein parasitärer Organismus, der nach Belieben an formalästhetische Konstruktionen anschließen kann.

Wenn man nicht aufpasst, kann man sich rasch zwischen den Fronten verlaufen und versehentlich im falschen Schützengraben landen.  Weißhuhn hält nichts vom Fraktionszwang. Er will sich seinen eigenen Kosmos zusammenbasteln. Vorbilder sind klar zu benennen. In den Werken von Breughel und Bosch findet Weißhuhn die wirkungsmächtige Mixtur aus Völlerei, Debilität und satanischer Versuchung, weshalb er seinerseits mit Verve und Witz eine radierte Version der sieben Todsünden präsentiert. Bei Callot entdeckt er zudem die Elemente einer handfesten Grausamkeit mit phantastischen Einschlägen. Schließlich zeigt ihm Goya, wie sich Gewalt mit Ironie zu paaren vermag, wenn die Körper in seltsame Schieflagen fallen. Hier redet das Dunkle; der Trieb der Seelen, die im Diesseits gefangen bleiben; die menschliche Komödie der Vergeblichkeit, die der hintersinnig satirische Blick auch als eine Endlosschleife der commedia dell’arte in Szene setzt. Das Andere aber ist das Licht. Ohne Vorgaben. So hat er den Kubismus, Orphismus und Futurismus organisch seiner Kunst einzuspeisen gewusst – und beginnt auf der Leinwand ein ausgeklügeltes Rhythmußpiel, in dem sich die Körperlichkeit zunehmend in Lichtstrahlen und Farblinien auflöst. Zudem hatte er aus der überbordenden Sehnsucht nach dem Ursprünglichen allerlei Exotismen in seinen synkretistischen Werken verschmolzen.

In einer Szene, die auf hybride Formen und forcierte Schaueffekte setzt, erscheint eine Kunst nach Maß und Zahl, ein Streben nach Klarheit und Reduktion wenig zeitgemäß. Konzentriert kann man diese bei  Weißhuhns DVD »Selene« betrachten: Am Anfang ist der Punkt – das Selbst. Das Zentrum um das sich alles dreht. Umgeben von einer Fläche auf deren äußeren Begrenzung das Ich kreist. Im äußersten Bezirk befindet sich das strahlende, patriarchale Bewusstsein noch in der kollektiven Ganzheit eingebunden, eher blendend als sehend.

Die schiefe Ebene leitet die dritte Dimension ein, die durch das Zentrum den Wendepunkt ermöglicht. Dieses wissende Zentrum in seiner Unendlichkeit und Losgelöstheit dem Göttlichen verwandt, gebiert den Helden durch die Vertreibung aus dem Paradies. Durch Intuition beflügelt, klammert er sich an das gerade Naheliegendste, an einen der achtgliedrigen Sonnenstrahlen, welche die schiefe Ebene strukturiert. Kaum zu sich gekommen, flieht er auf die gerade den Weg kreuzende Mondsichel und schaut aus sicherer Entfernung der sich zu einem Kreuz verjüngenden Sonnenscheibe zu. Selbstlos damit beschäftigt, den behütenden Schoß der Mondsichel zu erreichen, erschaut er nicht die sich mit einer Wolke in die Handlung einführende Mondgöttin Selene, welche, geradewegs und von meinem Helden unbeachtet, sein weiteres Schicksal voraussagt. Wie ein Ariadnefaden wird die sich ewig wandelnde Wolke seinen Helden begleiten. Sich gerade auf seine neue Umgebung besinnend, formiert sich aus der ewigen Wolke ein gewaltiger, zorniger und mit dem strafenden Wurfgeschoss bewaffneter Gottvater Zeus.

Blitzartig Feuer speiend vertreibt er zum zweiten Male, durch die Vollmondphase der Selene beschleunigt, den paradiesischen Zustand des Helden. Durch Psyche benamt, dringt er in das Reich des Lichtes und des Schattens ein. Grell und laut wirkt das kollektive Bewusstsein, das nun das Ich des Kämpfers erweckt. Sich narzistisch sonnend, dann eher gekränkt, gebiert er sein eigenes Tier. Die Sonne überstrahlt die Erkenntnis und nach der Geburt folgt die Verwundung.

Der vermeintliche Feind ist ein sich wandelnder Lügner. Ein Zauberer des Lichts. Ein Künstler der Gestaltung und Umgestaltung, der den Angriff, den Schmerz in Lust und Tanz vereint, den Tod dem Leben näher bringt. Durch die Einsicht gestärkt, verlässt er “Selene” wieder, verletzt und wird verletzt, ruht in sich, sein Selbst durchkreuzend, und stirbt den Märtyrertod. Sein inneres Tier wiederum durchkreuzt dieses Vorhaben und stürzt ihn vom Opferaltar und macht sich ihn zueigen: “Das Monster sollst du inwendig spüren, Zeus gewandt im Zeus–Gewandt. Durch die Sicht der Hände versteinert das Urtier. Durch das Kreuz wirkt er beschattet und bewaffnet, verleibt sich das Schwert ein und wird Selbstmöder. Augenblicklich fühlt er nur noch und verwünscht das Licht und wird zum Schatten seiner Selbst. Der Kämpfer kann sich nicht mehr ertragen und entflieht. Nichts ist mehr, Alles ist endlich. Endlich!

Dirk Weißhuhn versteht die Seh– und Zeigemaschine als Gesellschaftsmaschine, und er konstruiert selbst eine. Es ist die zurückhaltende Formensprache, die höfliche, aber bestimmte Art, dem Betrachter nahe zulegen, sich von der Gier nach erkennbaren Gegenständen und tosender Action schleunigst zu distanzieren. Medien sind Hüllen, die Inhalte transportieren. Dann kam das Zeitalter der so genannten ‘Neuen Medien’ und man verbreitete die Ansicht, daß die Hüllen die Inhalte sind. Als sich die Euphorie darüber abgekühlt hatte, blieb als Resterkenntnis, daß die Hüllen sich Inhalte zumindest schaffen: Jedes Medium eröffnet seine eigene Phantasie. Die Freiheit von existenziellem Determinismus erlaubt es demgegenüber Weißhuhn, sich der Existenz zuzuwenden, Menschen und die Gegenstände, mit denen sie sich umgeben, aufmerksam wahrzunehmen, ein feines Spiel von Licht und Schatten über seine Welt zu werfen, das sie weder verklärt noch verdüstert. Der Artist ironisiert sein eigenes Handwerk, indem er die Ebene der Wirklichkeit aufs Heftigste mit jener des Phantastischen kreuzt – Surrealismus avant la lettre; ein mutwilliger Kommentar zur Produktivität, so diese erst ihren Namen verdient, wenn sie die Wege der schlichten Nachahmung verlassen hat, ein Ergebnis von Farbe und Licht. Aber sie verwirklicht sich zugleich teils gegenständlich, teils imaginativ in den Motiven. Ein Hauptmotiv ist der Blick in den Spiegel – doch schon Rimbaud lehrte: je est un autre.