»Die Gewalt beginnt, sobald man vor die Tür tritt« ∙ Christine Angots Roman »Die Stadt verlassen« ∙ Revisited

Heute morgen ruft mich Hélène Millau an, die teuerste Floristin der Stadt, auch die mit der besten Ware, den schönsten Sträußen, um zu fragen, ob sie vorbeikommen dürfe. Einen Armvoll roter Rosen von Mathilde, um mich zu beruhigen, die Bestie zu beruhigen, die wilde. Ich denke eher, daß sie es sind, die von der Leine gelassen sind. Ich verspüre niemandem gegenüber mehr eine Begierde, auch nicht gegenüber meinen Opfern. Auch keinen Haß mehr, auch nicht mehr den geringsten Groll, ich habe einfach Lust zu verschwin­den, das ja, ich zögere noch zwischen Paris und einem abgelegenen Dorf in der Auvergne, Murat. Der Gruß an den Blumen spricht von einer gegenseiti­gen Gereiztheit, erst ihrerseits, dann meinerseits, sie sagt no comment, und diese Stadt ist viel zu klein. Die Gereiztheiten dürfen nicht der Gegenstand von Zwietracht sein, viel zu klein, viel zu schnatternd für das nicht immer leichte Leben. Sie endet mit In Freundschaft. Alle sind es, die gegen mich sind, die denken, daß ich das besser nicht hätte sagen sollen, nicht hätte tun sollen, daß ich aufhören möge! Ich hoffe, daß sie aufhören wird, sich diesem Spiel zur Verfügung zu stellen. Ich kann es mir nicht erlauben, daß mich ihre Ratschläge schwächen. Ich sehe sie nicht mehr. Mathilde habe ich einen kur­zen und bündigen Brief geschickt. Heute ist Sonntag, das Wetter ist grau, ich würde mir gerne Eyes wide shut ansehen, nur bloß mit wem, und allein, und wenn ich im Saal auf Marie-Christine treffe, mit ihrer neuen Freundin, die schielt, das kann ich nicht machen. Schon gestern allein auf der Straße, ich fühlte mich dennoch einigermaßen wohl, aufgrund eines Briefs, der mit gut getan hat, dem Inhalt nach: diese von Ihnen selbst gewählte Position am Ab­grund, die einen kollektiven Narzißmus ihnen gegenüber auslöst, woher rührt dieser Anspruch, diese Briefe, und er schiebt ein: Dylan: She’s an artist, she don’t look back. Ach leider doch, unglücklicherweise blicke ich doch zu­rück.

Christine Angot · Die Stadt verlassen

Wo und wann ∙ Ziemlich egal

Wo Literatur entsteht bzw. verlegt wird, ob in Berlin (mittlerweile wahrscheinlich die Stadt mit den meisten Autoren und Verlagen: An Berlin hängen, nach Berlin drängen … alle) oder Bürvenich (ein Dorf am Rande der Eifel, wo es zur Zeit meines Wissens weder einen Autor und schon gar keinen Verlag gibt), ob in Australien, Bulgarien, Chile, Dä­nemark, England, Frankreich, Geor­gien, Honduras, Irland, Jemen, Kambodscha, Luxemburg, Mali, Ne­pal, Österreich, Polen, Ruanda, Schweden, Togo, Uganda, Venezuela, Wales oder auf Zypern, das ist mir immer schon ziemlich egal gewesen. Auch als Kind habe ich naturgemäß Bücher aus anderen Ländern gelesen: Was bloß wäre ich ohne Runer Jonssons Wicki und die starken Männer gewesen …

Gleiches ›Egal‹ gilt für die Frage, wann ein Buch erschienen ist. Die Werbung will mich, un/verständlicherweise, Tag für Tag schwach machen für das neueste Buch, mir suggerieren, daß nur die Romane und Gedichtbücher des aktuellen Jahrgangs von tieferem Interesse für den klugen Leser sein können, aber immer wieder gelingt es mir trotz jener Übermacht, auf Bücher zurückzugreifen, deren Erscheinungsjahr bereits einige Zeit zurückliegt. Im übrigen erscheint mir angesichts der weiterhin steigenden Veröffentlichungswutflut diese Form der Rückzugslektüre nahezu überlesensnotwendig.

Wechselbad

Haben Sie den Roman Inzest von Christine Angot gelesen? Denn Die Stadt verlas­sen ist besonders für die Leser interessant, die sich mit jenem in Frankreich so vieldiskutierten Buch auseinandergesetzt haben: In Die Stadt ver­lassen schildert/protokolliert Christine Angot in ihrer aus Inzest bekannten Art und Weise – aggressiv, direkt, ei­genwillig, emphatisch, … – die Monate nach der Publikation von Inzest, die ihr ein extremes Wechselbad der Gefühle, Er­fahrungen, Stimmungen bereiten, mit dem sie in dieser nervtötenden Heftigkeit offenbar nicht gerechnet hatte – vielleicht aber hätte rechnen müssen, denn es ist eine Binsenerfahrung, daß die Hyänen an je­der Straßen­ecke warten, um dich zu verfrühstücken, wenn du dich unterstehst, den Mund aufzutun, um an Tabus zu ta­sten.

Mitreißend

Ganz besonders interessant sind die beiden Bücher für Liebhaber französischer Literatur, die sich zudem im zeitgenössischen französi­schen Literaturbetrieb gut auskennen. Zu diesen Lesern gehöre ich nicht, kann deshalb so manche Pas­sage des Buches nicht unbedingt begreifen oder nachvollziehen, was der durchweg mitreißenden Lektüre allerdings keinerlei Abbruch tut, zudem es da natür­lich die vielen Ge­meinsamkeiten mit dem Literaturbetrieb im deutschen Sprachraum gibt, mit der Rolle der Medien, des Fernsehens, der Zeitungen und Zeitschriften, der Kritik, der Be­rufskolle­gen, der Buchhandlungen, der Grossisten, der Leser usw., die mich die meisten Passagen des Buches regelrecht ›fressen‹ lassen.

Oder oder oder

Es wirkt erbärmlich, fortlaufend zu lesen, wie aber auch jeder, der irgend­wie mit dem Buch zu tun hat, ausschließlich Interessen nachjagt und es in letzter Konsequenz nur selten um das Buch Inzest oder dessen Verfasse­rin Christine Angot geht, sondern um voyeuristische Neugier oder Verkaufs­zahlen oder Sendeminuten oder Spalten in der Zeitung oder oder oder. Das widert mich immer wieder so an, daß ich das Buch weglegen will, was ich natürlich nicht tue, denn Die Stadt verlassen mit seinem kapriziösen Stil ist nicht weniger als durch und durch fesselnd.

Oder doch?

Christine Angot bewältigt Welt durch Sprache, macht persönliche Erlebnisse durch die Verwand­lung in Sprache zum allgemeinen Thema, offenbart scho­nungslos persönliche Schwächen bzw. Abhängigkeiten, die sie als typische Schwächen bzw. Abhängigkeiten zahlreicher Mitglieder westlicher Gesellschaften entlarvt. Daß die 1959 geborene Christine Angot (die in Die Stadt verlassen das Schicksal der Autorin von Inzest fortlaufend mit den Schicksalen der Tragödien von Sophokles bzw. dem Epos des Homer verknüpft) so sehr betont, daß es nur im Ausnahmefall ›echte‹ Freunde im Leben gebe, ist eine Erkenntnis, für die man aller­dings kein Buch mehr schreiben muß. Oder doch?

Nach Paris

Nach langwierigem Hin und Her (und auch aus Rücksicht auf die Toch­ter) erfolgt der Wohnungswechsel von Montpellier nach Paris. Bitte lesen Sie selber, wie es nach monatelangen öffentlichen und internen Schlammschlachten, für die sich selbst populäre Schriftsteller nicht zu schade waren, dazu kam.

 

 

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Christine Angot, Die Stadt verlassen, Roman, aus dem Französischen von Christian Ruzicska, 187 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Tropen Verlag, Köln 2002.

Christine Angot, Inzest, Roman, aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Colette Demoncy, 186 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Tropen Verlag, Köln 2001.