In Bayern gehen die Uhren anders…

Wenn der Physiker Eduard Heisenthal 2018 in München in den Zug steigt und nach einigen Stunden im Bayerischen Wald ankommt, dann hat seine Reise 112 Jahre gedauert und zwar in rückwärtiger Zeitrechnung, denn in Walbach schreiben wir das Jahr 1906. Natürlich ist es keine normale Bahnreise, doch eigentlich vollzieht sich die Fahrt durch Bayern wenig spektakulär, bei der Zeitreise in diesem Lokal-Science Fiction geht es lediglich darum, die aufeinander wartenden Züge zu besteigen, vorausgesetzt Eduard hat bei der Anfahrt zum Münchener Hauptbahnhof mit seinem PKW die Säule in seiner Tiefgarage einmal umrundet. Denn nur mit diesem Einstieg gelingt der Weg durch das „Mausloch“, eine Art Raum-Zeit-Tunnel, dessen Name am „großen Bruder“ Wurmloch orientiert ist.

Soweit die gut verständlichen Fakten für den Nicht-Science Fiction Kenner. Die Story, die nun folgt, spiegelt das interessante Zusammentreffen zweier Bayerischer Gesellschaften wieder, nämlich die der konservativen Dorfgemeinde in Walbach im Jahr 1906 und die des hypermodernen München.

In Walbach trifft Eduard auf die alleinstehende und gehbehinderte Bäuerin Kreszentia Haberstroh und die beiden entdecken sehr schnell beim gemeinsamen Schachspiel auf dem Hof die gegenseitige Zuneigung für einander. Kreszentia ist eine ungewöhnlich aufgeweckte und intelligente junge Frau, deren Lebensumstände sie geistig und künstlerisch unterfordern, deren körperliche Ansprüche sie aufgrund ihrer Gehbehinderung andererseits nicht gewachsen ist. Zeit für eine Einladung nach München, die die ahnungslose Frau gerne annimmt.

Es macht Spaß zu lesen, wie Kreszentia  auf die Neuerungen der modernen Technik reagiert.

Jede Verkehrsampel, jede farbige Glühbirne, jedes Reklameplakat und jede achtlos weggeworfene Bierdose war für sie etwas nie dagewesenes. Am faszinierendsten aber fand sie die Menschen, diese ungeheuer verschiedenen Menschen! Zum ersten Mal in ihrem Leben sah Kreszentia Männer und Frauen mit schwarzer Hautfarbeoder mit asiatischen Gesichtszügen. Zum ersten Mal sah sie Mädchen und Frauen, die Hosen trugen, rauchten oder am Steuer eines Autos saßen. Zum ersten Mal sah sie, dass sich zwei Menschen auf offener Straße küssten oder das sich zwei Männer an den Händen hielten. Förmlich geschockt war sie von der großen Zahl der Übergewichtigen jeden Alters. S. 98

Der Geldautomat hat es ihr besonders angetan, während Autos und Computer mit erstaunlicher Gelassenheit betrachtet werden. Schon nach wenigen Tagen ist Kreszentia auch mental in München angekommen und kann mit Hilfe von Eduard die Errungenschaften der neuen Zeit nutzen.

Eine Hüft-OP kuriert ihren Gehschaden, ein Implantat den fehlenden Schneidezahn und schon bald wird aus der humpelnden Bäuerin eine attraktive und moderne Frau. Gelungen sind die mundartlichen Formulierungen, mit denen sie die jeweiligen Situationen kommentiert und so gewinnt sie nicht nur das Herz der Leser, sondern natürlich auch das von Eduard. Doch der fühlt sich von der technisch weitgehend unbeleckten Welt  der vorletzten Jahrhundertwende angezogen und möchte per Mausloch ganz nach Walbach übersiedeln.

Wie sollen sich die Liebenden entscheiden und wer soll seine angestammte Zeit verlassen? Fragen die zum Nachdenken anregen – die Lösung des Problems kommt sehr unvorhergesehen und gemäß guter SF. Auch wenn die Zeitreise der beiden Protagonisten fiktiv ist, so sind die Herleitungen  wissenschaftlich gut begründet, so könnte es sein. Daneben gelingt Herbert Becker ein lebendiges Bild des Dorflebens in Walbach im Jahr 1906 und die unverstellte Sicht auf unsere Zeit aus einer ganz anderen Perspektive.

 

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Die erstaunliche Reise der Kreszentia Haberstroh, Lokal-Science Fiction von Herbert Becker. SüdOst Verlag im Heimat battenberg gietl Verlag, 2017