Zwischenruf aus dem Maschinenkeller der Digitalisierung

Kritische Anmerkungen zu Schule und Digitalisierung, zur Bertelsmann-Stiftung und zur Digitalisierungskritik

Rücken Sie bitte ein Stück zur Seite, hier unten wird gearbeitet. Oder besser, machen Sie doch gleich woanders Ihr Geschäft ….

Ich arbeite im Keller. Und irgendwo über mir schwebt die öffentliche Debatte um das Themenfeld Bildung, Schule, Digitalisierung. Ebenso wie ich arbeiten viele andere engagierte Menschen daran, unser Bildungssystem besser zu machen, es fit zu machen für die Zukunft, die – in allen gesellschaftlichen Bereichen – wesentlich durch Informationstechnologien und Digitales mitbestimmt sein wird.

Was ich mache, ich bin einer von zwei operativen Chefs des größten Onlinedienstes für die Bereitstellung von digitalen Bildungsmedien in Deutschland. Der Mediendienst EDMOND NRW versorgt alle allgemein- und berufsbildenden Schulen in NRW – zusammen etwa 6.500 Schulen – mit digitalem Content zu allen Unterrichtsfächern. Solche Mediendienste sowie weitere Bildungsserver gibt es in allen 16 Bundesländern, betrieben von der öffentlichen Hand, von Ländern, Kommunen und Kommunalverbänden. Ungefähr seit der Jahrtausendwende, also schon eine ganze Weile.

Viele meiner medienpädagogisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen sind auch Mitglieder der GMK, der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur, die sich dadurch auszeichnet, dass zu den Veränderungen gemeinsam konstruktiv kritische und differenzierte Ansätze und Standpunkte sowie politische Forderungen entwickelt werden.

Und erst Dienstag kehrte ich zurück vom Halbjahrestreffen einer bundesweiten Facharbeitsgruppe, die sich seit den 90ern mit Fragen der Dokumentation und Distribution von Bildungsmedien auseinandersetzt.

Aber eigentlich gibt es uns gar nicht. Zumindest in den sogenannten Leitmedien. Unsereins wird äußerst selten mal zu Podiumsdiskussionen eingeladen und schon gar nicht in die einschlägigen Polit-Talkshows im TV. Und zwar weil die Bereitschaft zu polarisieren bei uns sehr selten ist. Das passt nicht in die Dramaturgie solcher Talkrunden und Podien.

Wir sind Medienpädagogen und Digitalmaschinisten, Kanalarbeiter in den medialen Kellern der Bildungseinrichtungen. Und wir verändern die Welt – im Auftrag der öffentlichen Hand und nach geltender Gesetzeslage.

Wenn ich könnte, wenn ich dürfte, ja wenn ich denn mal eingeladen würde, ich könnte reihenweise virtuelle Ohrfeigen verteilen. Sachlich und wissenschaftlich begründet, gern auch mal polemisch, aber immer mit beißender Rhetorik. Und zwar in drei Richtungen.

Erstens, mir blutet das Herz ob der Ahnungslosigkeit mancher „Fach“-PolitikerInnen. Die lassen sich von diversen Verbänden und Interessengruppen die Ohren vollpusten mit digitalem Marketinggequatsche. Drei Punkt Null, Vier Punkt Null, Fünf Punkt Null. Und reden selten bis gar nicht mit den eigentlichen Betroffenen.

Zweitens könnte ich vor Wut aus der Hose springen ob des Hirnchen waschenden Agenda-Settings durch z.B. die Bertelsmann-Stiftung.

Dort wird mit einer schon bewundernswerten Ausdauer und dem Bewusstsein eine – wie auch immer geartete – „Elite“ zu sein, die es grundsätzlich besser weiß, seit Jahrzehnten neoliberale Ideologie-Injektion betrieben.

Und die Injektionsnadeln zeigen auf die politischen Gremien. Sie sind meist mit „wissenschaftliche Studie“ verschleiert, „Ideologie“ steht nicht drauf. Parallel dazu werden diese Studien von einschlägigen Medien – die nicht selten eine Nähe zum Konzern, zur Bertelsmann SE & Co KgaA, aufweisen – kräftig orchestriert.

„Wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung sagt“ – wo ich ergänzen würde – Null Null Fünf mit der Lizenz zum Klugscheißen. Oder besser: Ideologie scheißen, denn klug ist das nie, allenfalls klug gemacht. Im Sinne neoliberaler Zielvorstellungen.

In der Folge wird die öffentliche Debatte schön eingegrenzt von den Agenda-Leitplanken, die die Stiftung gesetzt hat. Und im akustischen Backing der Debatte säuselt ein Chor mehr oder weniger leise die Themen von Privatisierung und Ökonomisierung – in der Bildung. In der Absicht, dass sich diese hintenrum in die Hirnchen schleichen.

An anderer Stelle – aber zeitlich passend – werden dann seitens des Mutterkonzerns oder seiner vielen Töchter Dienstleistungsangebote an die öffentliche Hand gemacht.

Und da die Stiftung 76,9% des Kapitals des Konzerns hält und den Status der Gemeinnützigkeit besitzt, werden kräftig Steuern gespart. Eine steuerbefreite unternehmensverbundene Reformwerkstatt, die operativ arbeitet, d.h. selbst ihre Themen setzt. Mit der Lizenz zur Politikbeeinflussung.

Und die nicht gezahlten Steuergelder fehlen dann, z.B. bei der Ausstattung von Schulen, WLANs, kaputte Toiletten, etc.

Ja und dann gibt es noch die Digitalisierungskritiker. Wichtige Impulse und Positionen in der gesellschaftlichen Debatte um die Bildung von Morgen. Sollte man meinen.

Denn drittens beteiligt sich eine relativ laute Stimme der Digitalisierungskritik an profaner Polarisierung und überdeckt damit differenziertere Standpunkte – das Bündnis für humane Bildung. Hier versammelt sich ein illustrer Kreis von respektablen Persönlichkeiten, meist aus universitären Kontexten.

Ich möchte diesen Personen beileibe keine Elfenbeinturm-Mentalität unterstellen, doch für einige, nicht alle, steht fest, die waren nie im Keller. Zumindest erwecken sie den Eindruck. Oder der Keller interessiert einfach nicht.

Sprecher des Bündnisses ist Ralf Lankau, Hochschullehrer in Offenburg. Er bemüht sich wiederholt, in seinen Texten und Vorträgen eine breitere Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass er nicht nur von Kybernetik nichts versteht, sondern noch nicht einmal weiß, was dieser Begriff überhaupt bedeutet.

Ich glaube ihm. Matthias Burchardt, Uni Köln, tutet leider in dasselbe Horn.

Im Juni hatte ich eine Begegnung der dritten Art mit Lankau. Er hielt einen Vortrag auf einer Veranstaltung der GEW. Ich schrieb darüber.

Seitdem nenne ich mich übrigens ganz offensiv auch „Kybernetiker“. Und das fühlt sich wirklich gut an. In Deutschland gibt es diesen Abschluss zwar nicht, aber ich habe in Physik diplomiert im Fachbereich Biophysik. Und promoviert habe ich an einer medizinischen Fakultät – über Irgendwas mit neuronalen Netzen. Und die werden ja – wieder – zur Kybernetik gerechnet. Also kann ich mich – mit einigem Recht – Kybernetiker nennen. Und arbeiten tue ich auch noch als Medienpädagoge! Da muss ich ja schon mit dem Leibhaftigen im Bunde sein – und das zudem im Keller, im Kanal, im Untergrund! Buuuh!

Denn nach Lankau vertritt die Kybernetik ein deterministisches Menschenbild, steckt mit dem Behaviorismus unter einer Decke und hat das Ziel, ganze Gesellschaften zu steuern und zu manipulieren.

„Bis heute setzt das kybernetische Denken Kommunikation als Signalübertragung (bzw. Nachrichtenübermittlung) gleich mit Mensch und Gesellschaft als steuerbaren Maschinen. Es findet sich in Kommunikationsmodellen der Nachrichtentechniker Shannon und Weaver ebenso wie bei den Behavioristen mit ihren Input-Output-Systemen (I-O-S) oder dem »programmierten Lernen«, das unterstellt, man könne das Lernen von Menschen programmieren und steuern wie Maschinen.“

[Ralf Lankau, Kein Mensch lernt digital, Weinheim, Basel 2017, S.48]

Unfassbar. Das ist ein so großes Durcheinander, dass es kaum lohnt, das aufzudröseln.

Und Matthias Burchardt von der Uni Köln spricht von der monströsen Präsenz digitaler Endgeräte in unseren U-Bahnen. Smartphones als Menschen kontrollierende „kybernetische Exoparasiten“.

[Anmerkung für Philosophie-Interessierte: Und im Hintergrund klappert leise und rhythmisch Heideggers Ge-Stell, gell?]

Auf meinem Weg zu und von der Arbeit fahre ich täglich S-Bahn und Bus. Und ich sehe Menschen, die Musik hören und Menschen, die lesen, auf Smartphones und Ebook-Readern. Und fast ebensoviele in Büchern, teilweise sehr dicken Büchern, Magazinen und Zeitungen. Aus Papier.

Aber vielleicht ist meine Wahrnehmung ja nicht so selektiv. Oder anders selektiv. Der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec schrieb einmal: „Den Blick in die Welt kann man auch mit der Zeitung versperren.“

Yep. Tue ich auch oft. Zeitung lesen morgens in der S-Bahn. Auf dem Smartphone. Das stört den Sitznachbarn nicht so. Beim Aufklappen einer Papierzeitung wie z.B. dem großformatigen Wochenblatt DIE ZEIT wäre das wohl anders. Mein Ellbogen in des Nachbarn Rippen. Oder so.

Achja, die Mediengeschichte. Ein weiteres Mitglied des Bündnisses ist der Neurologe Manfred Spitzer. Ein gefeierter Guru der Digitalisierungskritik. Wie das so ist mit Gurus, die haben meist ein Label und ein Geschäftsmodell.

Bei den Indern war das die Erleuchtung, als Trainingsprogramm für westliche Sinnsucher und westliche Dollars, bei Spitzer die Digitale Demenz, analog auf Papier und für Euros.

Lankau sagt, es gibt keine digitale Bildung, Spitzer sagt, es gibt digitale Demenz.

Öhm, ja. Wenn Lankau recht hat, hat Spitzer unrecht. Oder umgekehrt.

Ich sage, Lankau hat recht. Der „Begriff“ „digitale Bildung“ hindert uns. Am Begreifen. Er liefert weder einen Erkenntnis- noch einen Bezeichner-Gewinn. Es ist einfach nur ein riesiger sprachlicher Unfall.

Davon gibt es so einige. Die neuronalen Netze, die als Simulationsalgorithmen auf Rechnern laufen, müssten eigentlich neuromorphe Netze heißen. Denn die neuronalen Netze sind eigentlich biologische Netze und in unseren Köpfen.

Aber egal, solche sprachlichen Verkürzungsunfälle ziehen sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte. [Und wurden nicht selten zum Gründungsakt für ganze „Religionen“ und Ideologien.]

Ähm, wo war ich, ach ja, Mediengeschichte. Manfed Spitzer zeichnet vor allem eins aus, eine völlig ahistorische und damit auch unwissenschaftliche Betrachtungsweise. Wie er dazu kommt, weiß ich nicht, er soll ja mal Philosophie studiert haben. Dort lernt man sowas jedenfalls nicht.

Denn die zu ihrer Zeit jeweils neuen Medien – und Geräte – waren immer des Teufels. Die Geschichte weiß das.

Ob aber Spitzer weiß, dass er sich in guter, ja in geradezu erlesener Gesellschaft befindet? Platon, Shakespeare? Platon kritisierte die Schrift als das Gedächtnis schädigend! Wir wissen das aber nur, weil er das aufgeschrieben hat! Shakespeare kritisierte den Buchdruck, warum, habe ich gerade keinen Bock zu schreiben, das kann aber bei McLuhan nachgeschlagen werden. [1]

Spitzer vergleicht gerne die Synapsen und auch das ganze Gehirn mit einem Muskel, der zu trainieren ist. Der Vergleich hinkt. Gewaltig. Muskeln können ruhen, das Gehirn arbeitet immer, sogar im Schlaf. Das schließt aber nicht aus, dass man es auch trainieren kann.

Das werden unsere Ahnen auch gemacht haben. Beim Produzieren von Faustkeilen, die eine Hand schlägt mit einem Stein, die andere hält einen Stein, haben wir uns wahrscheinlich zu Einhändern, bzw. Rechtshändern gemacht. Ohne es zu wollen.

Wir haben uns immer – mit Technik, mit Medien – selber umgebaut. Das gehört zum Wesen des Menschen. In gewisser Weise sind wir unsere Technik.

Zurück zur Schule.

Julia Behrens ist bei der Bertelsmann-Stiftung verantwortlich für den Monitor Digitale Bildung, der letztes Mal kurz vor der Bundestagswahl erschien, mit Blick auf die über den Digitalpakt angekündigten „Wanka-Milliarden“. Ich schrieb dazu.

Und auch der Spiegel. Die LehrerInnen seien Digitalmuffel hieß es dort. Was eine Unverschämtheit ist.

In einem Video auf der WebSite der Stiftung spricht sie von „Wildwuchs“ und behauptet, dass die Auswahl von Digitalen Medien für Schule schwierig sei, hilfreich wäre – Konjunktiv! – so Frau Behrens „zum Beispiel eine Plattform mit qualitätsgesichertem Material“.

Also das ist schon frech. Anders als bei Lankau, dem ich da „zugute“ halten muss, dass er nicht in den Keller geht und auch sonst nicht recherchiert, gehe ich davon aus, dass Frau Behrens sehr genau weiß, dass es schon lange Länderplattformen für die Bereitstellung von digitalen Medien für Schule gibt und dass das Land Baden-Württemberg seit Jahren eine Kommission besitzt, die diese Medien fachlich und didaktisch begutachtet.

Ich werde darauf noch zurückkommen. Aber schauen wir uns mal die Forderungen des Bündnisses für humane Bildung genauer an. Da gibt es Kritik am schon erwähnten Digitalpakt im Verbund mit einem Forderungskatalog.

Die Schulen sollen sich abkoppeln vom Netz und sich selbst vernetzen, forderte Lankau auf seinem Vortrag am 07.06.2017 auf den Einwurf eines Lehrers hin, der fragte, was er denn tun solle, wenn er im Unterricht mit digitalen Medien arbeiten will.

Wie gesagt, Lankau war nie im Keller, sonst würde er wissen, dass es diese Vernetzungen schon lange gibt, und zwar betrieben von der öffentlichen Hand.

Und Frau Behrens leugnet diese Plattformen, weil, das unterstelle ich jetzt mal, der B-Konzern es in Zukunft selbst machen will, Konzepte dafür schon längst in der Schublade hat. Sonst hätte er sich ja nicht beim US-Anbieter Udacity eingekauft.

Hier mal die Forderungen der Gründer des Bündnisses für humane Bildung zur Fragestellung „Welche (Hoch)-Schulen wollen wir?“:

1. Schulen und Hochschulen in Deutschland sind Bildungseinrichtungen in humanistischer und demokratischer Tradition. Sie sind vom Menschen her zu denken, nicht von technischen Systemen und deren Entwicklungszyklen. Nötig sind mehr Lehrkräfte, Mentoren, Tutoren, nicht Hardware.

Ach, wo zielt das hin, und wer will das im Ernst bestreiten? Für mehr Lehrkräfte sind wir doch alle, oder? Weiter oben warf ich Spitzer eine ahistorische Betrachtungsweise vor. Diese spiegelt sich auch hier in der 1. Forderung des Bündnisses.

Denn wie sieht‘s mit der Vergangenheit unserer Schulen aus? Wir kommen aus, bzw. leben noch in einer gesellschaftlich-ökonomischen Formation, die man die Industriegesellschaft oder den industriellen Kapitalismus nennt. Und die sich verändert hin zu einem Etwas, für das wir noch keinen richtigen Namen haben, das aber oft hoffnungsvoll als Informations- und Wissenschaftsgesellschaft bezeichnet wird.

Mit nur ein wenig Überlegung lässt sich feststellen, dass das alte deutsche dreigliedrige Schulsystem der Industriegesellschaft hervorragend angepasst war. Wie Vilém Flusser scharf bemerkte, waren die Hauptschulen dafür da, diejenigen Menschen auszubilden, die die Maschinen bedienen, die Realschulen bildeten Diejenigen aus, die die Maschinen reparieren und die Gymnasien waren zuständig für die Ausbildung Derjenigen, die Maschinen konstruieren.[2]

Hat mal jemand aus dem Bündnis die Vergangenheit unseres Schulsystems, seine Geschichte kritisch in den Blick genommen? Offensichtlich nicht, denn dann wäre aufgefallen, dass trotz dieser zweckgebundenen Ausrichtung des Schulsystems genügend Lehrkräfte den Menschen, den Schüler, die Schülerin im Blick hatten und einen gut Teil Bildung, humanistische Bildung, Bildung als Selbstzweck und nicht als bloße ökonomische Notwendigkeit vermittelt haben. Zumindest an meinem Gymnasium war das so. Mit allen Imponderabilien, die so eine Schulzeit mit sich bringt ;-), denn ideal ist nix. Und Verwerfungen gab es auch. Ohne Zweifel.

Aber jetzt wird der Teufel des bloßen ökonomischen Zwecks an die Wand gemalt. Dass die kybernetische Steuerung – allein diese Wortkombination schillert zwischen Pleonasmus und Oxymoron – ganzer Gesellschaften das Ziel sein soll.

Mir drängt sich der Gedanke auf, dass in dieser Befürchtung der Kritiker aus dem Bündnis ein ebenso schlechtes Menschenbild steckt wie in denjenigen, die vielleicht im Silicon Valley und ganz sicher bei der NSA solche feuchten Steuerungsträume von Gesellschaften haben. Man pflegt dasselbe Menschenbild.

Ohne mich.

Weiter zur Forderung Zwei:

2. Medien und Medientechnik im Unterricht sind Werkzeuge im pädagogischen bzw. (fach-)didaktischen Kontext. Es sind mögliche Hilfsmittel, um Unterricht und Lernen zu unterstützen. Über den sinnvollen Einsatz von Lehrmedien entscheiden Lehrkräfte aufgrund ihrer Ausbildung und gemäß dem Grundrecht der Lehr- und Methodenfreiheit selbst.

Eine nette Forderung. Tun sie das wirklich? In der Praxis? Dürfen sie das? Also wir verwenden hier in unserer Schule das Mathe-Buch xyz, und ob Sie das Scheiße finden, interessiert uns nicht. So ist es doch, oder? Dass sich mit Hilfe digitaler Medien die Wahlfreiheit der Inhalte vielleicht auch erhöhen könnte, darauf kommen die Kritiker nicht.

Die Nummer 3:

3. Weder Lehrkräfte noch Schülerinnen oder Schüler dürfen verpflichtet werden, Geräte der Medien- bzw. Unterhaltungselektronik wie Tablets, Smartphones u.ä. im Unterricht einzusetzen. Jedes Kind muss ohne Nutzung elektronischer Geräte am Unterricht teilnehmen und Hausaufgaben machen können, ohne benachteiligt zu werden.

Aber ihre Tochter ist natürlich verpflichtet, jedes Mal, wenn sie Latein hat, das 1kg schwere Lateinwörterbuch mit in die Schule zu bringen, also 3mal die Woche. Liebe Leute, das ist jetzt echt kein Scherz. Ich habe neulich im Bus eine junge Frau gefragt, was sie da in der Hand hält – es war nicht das Smartphone – kicher – und ob sie das jedes Mal mitnehmen muss. [Ok, früher gab‘s auch Kinderarbeit, da haben die Kohlen geschleppt.]

Und hier die 4.

4. Daten von und zwischen Schulen und Schülern dürfen weder aufgezeichnet noch für Lernprofile ausgewertet werden. Schülerinnen und Schüler sind juristisch minderjährige Schutzbefohlene, deren Daten nach deutschem Recht geschützt werden müssen. Hier besteht gesetzgeberischer Nachholbedarf noch vor technischen Konzepten.

Ja, einverstanden. Aber der öffentliche Dienst macht das schon eine ganze Weile – entsprechend der Gesetzeslage. Kein Grund, auf uns einzuschlagen. Ich kenne unsere Logfiles.

Aber schauen wir uns doch mal den sogenannten Nachmittagsmarkt des Lernens an, da gibt‘s so Einiges im Netz. Z.B. der Cornelsen-Verlag betreibt eine Lernplattform, die Lerncoachies.

Dort zahlen die Eltern eine Netflix vergleichbare monatliche Gebühr und Töchterchen oder Söhnchen darf dann mit bunten Apps zusätzlich zur Schule lernen. Und das Lernverhalten wird getrackt. Ein Vorläufer der kommenden „learning analytics“. Schaut einfach mal in die Datenschutzerklärung des Verlags. Fallen Jemand die Lücken auf?

Hat das Bündnis da schon mal kritisiert?

Die Nummer Fünf.

5. Bildschirmmedien sind aus Sicht von Kinderärzten, Kognitionswissenschaftlern, Vertretern der Medienwirkungsforschung und der Pädagogik in den ersten Schuljahren nicht lernförderlich. Daher müssen KiTas und Grundschulen in der direkten pädagogischen Arbeit IT-frei bleiben.

Ja klar. Und die Kinderzimmer zuhause sind ja eh schon vollgestopft mit Elektronik. Da wird dann gedaddelt, sorry, nur gedaddelt. Andere Einsatzmöglichkeiten lernen die Kiddies nicht, weil in der Schule soll‘s ja verboten sein. Was Hänschen nicht lernt …

Tolle Idee, wirklich. Hoffentlich bricht dieser bewahrpädagogische Zeigefinger irgendwann mal ab. Wegen Versteifung.

Und die 6.

6. Die entscheidende Medienkompetenz für Bildungschancen wie -gerechtigkeit sind die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. Investitionen in diese Kulturtechniken und eine intensive Leseförderung sind für Bildungsbiografien nachhaltig und emanzipatorisch.

Ja. Das stimmt. Aber das hin-und-her-Übersetzen aus und in Bildsprachen, Filmsprachen vernachlässigen wir dann. Und das Reflektieren darüber. So bleiben unsere medienverstümmelten Kinder dann schön manipulierbar. Auch Drehbücher werden immer noch geschrieben.

Und irgendwie wird in diesen Forderungen im Subtext der Eindruck vermittelt, als ginge es um eine Entweder-Oder-Frage. Leute, geht mal in den Keller, äh, in die Schule. Da wird nach wie vor gebastelt und geklebt. Und neuerdings dampfen auch die Lötkolben und der 3D-Drucker brummt.

Also ich habe keine Sorge, dass z.B. die Haptik verloren geht. Die ist übrigens eminent wichtig gerade für mathematisches Verständnis.

Und hier die 7.

7. Medientechnik im Unterricht ist immer aus pädagogischer Perspektive zu hinterfragen und zu beurteilen: ob und ggf. wann sie altersangemessen eingesetzt werden kann, nicht muss.

Gut. Und welche Lehrkraft tut das nicht? Ich kenne keine. Und ich war neulich noch in einer SCHILF – als Dozent. Ohh, ok, SCHILF = schulinterne Lehrerfortbidung.

Lankau schlägt übrigens gern auf das Hasso-Plattner-Institut ein. Dort wurde in einem Modellprojekt mit 30 Schulen, ein LMS, ein Lernmanagementsystem, eine sogennannte Schulcloud entwickelt. Wer will, kann sich das bei github runterladen. Die Kanzlerin hatte das mehrfach erwähnt. Bundesschulcloud und so. Wanka-Milliarden.

Diese Schulcloud wird nie kommen, bundesweit. Weil es dazu schon lange Länderinitiativen gibt. Und weil das ein universitärer Modellversuch ist. Wenig praxistauglich, schon aus Datenschutzgründen.

Vielleicht sollten Lankau und Merkel mal gemeinsam in den Keller gehen. Obwohl, Merkel muss das nicht. Sie braucht nur bessere „Einflüsterer“.

Und nicht die von der Bertelsmann-Stiftung. Die Bertelsmann-Stiftung braucht kein Mensch. Allerdings brauchen wir die verloren gegangenen Steuergelder. Und zwar für unser Bildungssystem.

Und was wir auch nicht brauchen, ist diese Entweder-Oder-Logik aus den Forderungen des Bündnisses. Dies ist schlecht und das ist gut. Leute, schlagt mal nach unter Tetralemma, Catuscoti oder Urteilsvierkant.

Entweder – Oder – Sowohl-als-auch – Weder Noch. Dann klappt‘s auch mit den Neuronen.

Es geht im Grunde nur um Macht, um Lobbyismus, um die durchgedrehte Idee des Neoliberalismus.
Und um die Verteilungsfrage. Vor allem darauf muss sich Kritik besinnen – und nicht nach Schraubenziehern schlagen. Wirkliches kybernetisches Denken wäre da hilfreich.

Ich gehe dann mal wieder in den Keller, weitermachen und die Welt umbauen.

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Weiterführend →

TRANS- … Reflexionen über Menschen, Medien, Netze und Maschinen. Die Totholz-Variante ist vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich.

Lesen Sie auch das Porträt von Joachim Paul → Ein Pirat entert das Denken


Quellen, sofern nicht verlinkt

[1] McLuhan, H. Marshall: Die Gutenberg-Galaxis – Das Ende des Buchzeitalters. München 1995

[2] Flusser, Vilém; Unsere Schule, aus: Nachgeschichte, S. 109-114, Frankfurt a.M., 1997, Deutsche Erstveröffentlichung (leicht gekürzt) in: Vilém Flusser, Nachgeschichten. Essays, Vorträge, Glossen, hrsg. Volker Rapsch, Düsseldorf 1990 (Bollmann Verlag);
Geschrieben 1981, Veröffentlichung der portugiesischen Fassung unter dem Titel  „Pós-história“ 1982 bei Duas Cidades, São Paulo