Der Flügelschlag einer Möwe II

Die Baustelle liegt dreißig Kilometer von Triest entfernt am Rand des Naturschutzgebietes, rund herum Wald und gute Luft. Das bekommt man auf einer Baustelle nicht alle Tage geboten. Milo liebt die Natur, besonders Wälder und Berge. Bevor er Antonella kennengelernt hat, ist er an den Wochen­ enden oft wandern gegangen, stundenlang durch den Karst gezogen, auf schmalen, felsigen Wegen, durch Schluchten und an steilen Bergwänden entlang. Das Gehen füllte die Lungen mit frischer Luft und den Kopf mit frischen Gedan­ken. Es machte die Seele sauber, wie duschen den Körper. Als er Antonella kennengelernt hat, war sie ein paar Mal mitge­kommen, aber sie fand nicht so richtig Gefallen daran. Sie wollte am Samstag, wenn sie nicht zur Arbeit ins Kaufhaus musste, lange schlafen und am Nachmittag an den Strand gehen, in der Sonne liegen und abends mit Freunden im Re­staurant essen oder im Kino einen Film ansehen. Aber viel­leicht, denkt Milo, kann er das Kind später dafür begeistern. Dann wird er mit seinem kleinen Sohn oder seiner kleinen Tochter durch die Berge streifen, so wie sein Vater früher mit ihm.

Milo hat das Auto am Rand der Baustelle geparkt und schlägt den Weg zum Mannschaftscontainer ein. Hier oben am Fuße des Karstes ist der Frühling noch zögerlich, aber das sprießende Gras und die jungen Blätter auf den Büschen sind von elektrischem Grün. Der Polier, ein stämmiger Mann Ende vierzig, kommt ihm mit dem neuen Hilfsarbeiter ent­gegen. Ihre gelben Sicherheitshelme leuchten in dem trüben morgendlichen Wetter wie kleine Spielzeugsonnen. Er klopft Milo im Vorbeigehen auf die Schulter. »Ciao. Alles klar?«

»Alles bestens«, erwidert Milo gut gelaunt.

Im Container riecht es nach Schuhen, Plastik und Schweiß, das erinnert ihn an den Turnsaal der Schule, in der seine Familie und er damals, als sie nach Italien gekommen sind, drei Wochen lang untergebracht waren.

Die Männer ziehen sich um, der kleine Rumäne sieht müde aus wie ein Kind. Mit seinen sechzehn Jahren und sei­nem schmächtigen Körper ist ihm die Arbeit auf der Baustel­le zu schwer, und der Schlaf in der Nacht reicht nicht aus, um sich davon zu erholen. Das sieht man ihm an. Aber er wird sich daran gewöhnen. Ernesto, der drahtige Zimmer­mann aus Umbrien mit dem kurzgeschorenen dunklen Haar erzählt einen Witz. Die Männer lachen. Milo tauscht seine guten Jeans, den Pullover und die Schuhe gegen die Arbeits­hose, einen Kapuzen­-Sweater, die Sicherheitsstiefel und den Schutzhelm. Eine Jacke braucht er nicht, das Wetter ist eini­germaßen warm, wenn auch bewölkt, aber es sieht jetzt nicht nach Regen aus. Das ist gut.

Der gelbe Raupenbagger steht vor der Baugrube, dort, wo er ihn am Vortag abgestellt hat. Mit Schwung klettert er hinauf und startet die Maschine.

Der Polier studiert den Bauplan und gibt den Männern Anweisungen. Sie nicken. Er macht Milo mit der Hand Zei­chen, dass es losgeht. Die Baugrube ist zehn Meter breit und soll dreißig Meter lang werden. Hier wird ein neues Touris­tenzentrum entstehen. Ein Drittel haben sie bereits ausge­hoben. Milo bringt den Bagger in Position und legt seine Hände links und rechts an die Joysticks. Er führt den Aus­leger nach vorne und senkt ihn auf den Boden. Die Zäh­ne der Doppelschaufel bohren sich in die Erde, mit einem Hebeldruck schließt er sie, dann hebt er den Ausleger und schwenkt ihn nach links, löst den Biss der Schaufel und lässt die Erde auf den Aushubhaufen neben der Grube fallen. Der Polier und Mahad, der Somalier, stehen daneben und  sehen ihm zu. Mahad ist Flüchtling, so wie Milo einer gewesen ist, aber ein neuer, er ist erst vor zwei Jahren von Afrika übers Meer gekommen in einem Boot, das die  italienische Marine aufgegriffen hat. Mahad hat Glück gehabt, dass er bleiben durfte. Aber vielleicht hatte er auch die richtige Geschich­te. Geschichten von Armut oder Verfolgung haben sie alle, die nach Europa kommen, aber wenn es nicht die richtige Geschichte ist, müssen sie trotzdem wieder zurück. Mahad ist ein guter Bauarbeiter und er hat Erfahrung. Früher hat er auf einer Großbaustelle in Mogadischu gearbeitet. Mehr von seiner Geschichte will er nicht erzählen, und hier auf der Baustelle will auch keiner mehr darüber wissen. Das Unaus­gesprochene ist ein Sicherheitsabstand für alle Seiten. Jeder behält sein Leben für sich. Das, was man teilt, ist die Arbeit, man tauscht sich darüber aus und macht ein paar Witze. Das ist es dann auch und es ist genug.

Milo war acht Jahre alt, als er 1992 mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester von Bosnien über Slowenien nach Italien kam. Über Nacht ließen sie alles zurück, das Land, das Dorf, das Haus. Ein Nachbar und seine Frau nahmen sie mit dem Auto mit. Die Mutter wollte nicht weg, wollte war­ten auf den Vater. Aber der Vater kam nicht zurück. Nicht imMai und nicht im Juni. Der Vater war auf keiner Liste. Auf keiner Liste der Lebenden, auf keiner Liste der Toten. Als die Korps der serbischen Freischärler anrückten, drängte der Nachbar die Mutter, sie müsse, wenn schon nicht um ihrer selbst willen, den Kindern zuliebe fliehen, das wäre sie ihnen schuldig. Hier war nichts mehr sicher, kein Haus, kein Dorf, kein Fleck im ganzen Land. Jeden Tag konnten sie kommen, das Haus anzünden, die Männer verschleppen, die Frauen und Kinder erschlagen.

Der Nachbar fuhr sie durch das zerschundene Land. In Kroatien trennten sich ihre Wege, die Mutter meldete sich mit den Kindern bei einer Hilfsorganisation. Sie kamen für vier Tage in ein Flüchtlingslager, danach wurden sie weiter nach Slowenien geschickt in einem überfüllten Zug, einge­pfercht mit zweitausend anderen Kriegsflüchtlingen, alten Menschen, Frauen und Kindern. Es war Sommer und heiß. Sie saßen zusammengedrängt in den Abteilen, lagen in Ge­päcksnetzen, kauerten in den Gängen. In Slowenien durften sie nicht bleiben, der Zug wurde in Ljubljana durchgewun­ken. Endstation Triest. Im Turnsaal einer Volksschule schlie­fen sie auf Klappbetten und zerpflückten die Tage in kleine Hoffnungsschnipsel. Nach ein paar Wochen erhielten sie Be­scheid, dass Italien ihnen vorübergehend Asyl gewährte. Sie bekamen eine Wohnstelle in der Nähe des Hafens zugewie­sen, die sie mit einer anderen Frau und deren drei Kindern teilten. Milo und seine Schwester kamen in eine italienische Schule, wo sie anfangs kein Wort verstanden, und Milos Mutter fand Arbeit als Zimmermädchen in einem Hotel.

Milo gewöhnte sich im Laufe eines Jahres gut in Italien ein, es fiel ihm leicht, die Sprache zu erlernen, er schloss Freundschaft mit Schulkollegen, und das Essen schmeckte ihm auch. Er fing an Schweinefleisch zu essen, Spaghetti alragù, Prosciutto und Salsiccia, Speisen, die er bei seinen neu­en Freunden zu Hause kennenlernte. Seine Mutter schüttelte darüber den Kopf, aber sie verbot es ihm nicht. Sie waren keine strenggläubigen Moslems, trotzdem hätte sie selbst nie­ mals Schweinefleisch gekocht und schon gar nicht gegessen.

Wenn da nicht diese immer wiederkehrenden Träume ge­wesen wären, vom Fluss und den Leichen, die Erinnerung an den Gestank der Verwesung, der bei Südwind zu ihrem Dorf heraufgezogen war, die Ungewissheit über den Verbleib des Vaters, die allmählich zur Gewissheit wurde, dass er nicht mehr zurückkommen würde, hätte Milo sich in der neu­en Heimat glücklich gefühlt. Und manchmal, wenn er die Vergangenheit ausblendete, war er es auch. Triest war eine freundliche Stadt und besonders der Hafen hatte es Milo angetan. Stundenlang konnte er rund um die Anlage strei­fen und die großen Schiffe, die Lagerhallen, die gestapelten Frachtcontainer, die Lastfahrzeuge, Hubanlagen und Kräne, die die Schiffe beluden und die Ladungen löschten, beobach­ten. Später einmal, wenn er erwachsen war, wollte er auch solche gewaltigen Maschinen steuern, und er stellte sich vor, dass sein Vater stolz auf ihn wäre.

In der Mittagspause sitzen sie im Mannschaftscontainer zu­sammen und packen das mitgebrachte Essen aus. Milo geht kurz hinaus vor die Tür und ruft Antonella an. Sie klingt erschöpft und kurzatmig, aber sie sagt, es gehe ihr gut, sie komme gerade vom Einkaufen und müsse sich nur ein we­nig ausrasten, am Abend wolle sie Fisch kochen, sie habe Branzino gekauft. Darauf freut Milo sich. Sie sind jetzt drei Jahre verheiratet, als er sie kennenlernte, dachte er nicht, dass  Antonella die Frau war, mit der er sein Leben verbringen wollte. Er hat zwar nie eine bestimmte Vorstellung davon ge­habt, wie eine Frau aussehen oder sein sollte, aber er hat sich immer zu großen blonden Frauen mit heller Haut und was­serfarbenen Augen hingezogen gefühlt. Antonella ist hübsch, aber genau das Gegenteil. Sie reicht ihm gerade bis zum Kinn und hat braune Augen und dunkelbraunes Haar. Er hat sie in einem Club an der Bar angesprochen, weil sie da stand und lächelte und die Blonde, auf die er ein Auge geworfen hatte, gerade mit einem anderen auf der Tanzfläche flirtete. Anto­nella war lebhaft und lachte gern, das gefiel ihm. Sie tanzten und er lud sie auf einen Mojito ein und dann auf einen zwei­ten. Er küsste sie an diesem Abend, weil es stimmig war, aber er versuchte nicht, sie zu verführen. Antonella war es, die ihn mit nach Hause nahm. Die Leidenschaft und Lust, die in dieser Nacht zwischen ihnen aufflammte, überraschte ihn. Er wollte Antonella danach wiedersehen, überprüfen, ob es ein zweites Mal so sein konnte, und sie waren nicht voneinander enttäuscht.

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Leseprobe aus: Der Flügelschlag einer Möwe, Roman von Patricia Brooks. Verlag Wortreich, 2017

Als Tati und Stefan auf der Maturareise in Italien eines Nachts Zeugen einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Männern werden, bei der einer der beiden getötet wird, nimmt ihr Leben – und das sämtlicher direkt oder indirekt daran Beteiligten – einen anderen Verlauf. Während Tati von bösen Träumen verfolgt wird, findet Willi das Fundament für seine Zukunft und die fünfzehnjährige Rosanna begibt sich auf die komplizierte Reise zu sich selbst. Noch 28 Jahre später, als ein Baggerführer bei Arbeiten auf einer Baustelle ein Skelett ausgräbt, streift auch ihn der Flügelschlag der Möwe.

Weiterführend

Wir verleihen Patricia Brooks für ihr erzählerisches Werk in 2016 den KUNO-Prosa-Preis, lesen Sie hier die Begründung. Ein Kollegengespräch mit Patricia Brooks finden Sie hier.