Deutungshoheit über einen virtuellen Raum

 

Der erste Blick auf den handlichen, in blau-weiß gefassten Gedichtband löst gewisse Erwartungen aus, denn der Titel assoziiert plötzlichen Stimmungsumschwung, lunare Einflussnahme auf einen psychischen Zustand und das Erstaunen darüber, ob man das „Laune nennen kann.“ Also ein witziges Beispiel für postmoderne Spielereien, denen Marlene Breuer unter dem Stichwort ‚Ockhams Manchete‘ eine lakonische Garnierung verliehen hat: „Kopackis Gedichte haben den Charakter von Schnappschüssen, der Beobachter hält sich an einem Detail auf oder erzählt etwas Banales so, dass es Bedeutung bekommt.“ Und das alles nach dem Prinzip des Ockhamschen Rasiermessers, womit der Leser auf die Gedichte eingestimmt werden soll: Also von mehreren möglichen Erklärungen ist die einfachste Theorie vorzuziehen. Nun denn, greifen wir in dem in fünf Abschnitte eingeteilten Gedichtband nach dem Rasiermesser, Pardon, Machete, und suchen zunächst nach den Schnappschüssen:

  • Abschnitt: ‚Launen‘. Die jeweiligen Minigedichte tragen in Klammern markierte Überschriften, deren Aussagen unvollständig sind, gleichsam mit einer Machete verkürzt. Nur das letzte Gedicht hat einen Zusatz: ‚nach Brecht‘. Ist das ein Hinweis auf das „Wort der Fischer“, das nicht angezweifelt werden darf?
  • Abschnitt ‚Leute‘. Es sind Texte, die namentlich genannten Bekannten, vielleicht auch Freundinnen und Freunden gewidmet sind, darunter auch einer gewissen Vera, „eine Priesterin des kalten Feuers“.
  • Abschnitt ‚Gedichte vom König‘. Es handelt sich dabei um viele Könige, die unterschiedliche Bezeichnungen tragen wie „ein Hund“, der Vater des lyrischen Ichs, ein dunkelgrüner König, ein gewisser „Niemand“, der an Paul Celan erinnern soll, und vier Könige von Sardinien, obwohl es doch – laut Statistik -seit dem 12. Jahrhundert fast 100 sardische Könige und Vizekönige gegeben hat, von denen die meisten unter italienischer Obhut ihr Regiment ausüben durften. Doch gemach, gemach, in dem Gedicht „Der König von Sardinien III“ zeichnet sich eine historische Relativierung ab: der König „spielte … sein Gambit: /Karthagos Passat/ gegen die finsteren Reihen Roms“. Alles klar für den Leser? Ockhams Machete hat wieder eine Schneise in die Geschichte Sardinien geschlagen!

4./5. Abschnitt: Dort geht es endlich auch um die ‚anderen Launen‘ und um ‚lichte Räume. Erzählt hier jemand etwas Banales, was letzthin Bedeutung erhält? Mir ist nur der lyrische Kuss in Erinnerung geblieben, wo der Lyriker einer gewissen Karen empfiehlt „Ein Mund …, der nicht klugredet, / Geht auf Zehen. Holt sich ein Tröpfchen Süße. Nimmt es in beide Lippen …“. (S:59) Gibt es ein einprägsames Beispiel für die oben angekündigte flatternde Ungewissheit, die Bedeutung annimmt. Im letzten Gedicht „Falter“ erhält ein nicht näher bezeichneter Schmetterling die Deutungshoheit über einen virtuellen Raum, in dem die Liebe über die Nüchternheit des öden Alltags siegt. Also doch noch ein Schnappschuss, der Licht in das Dunkel der Ungewissheit bringt?

Andrzej Karpecki, (Jg. 1959) promovierter Germanist, renommierter Übersetzer aus dem Deutschen und dem Polnischen, Essayist, Redakteur der angesehenen Warschauer Literaturzeitschrift „Literatura na świecie“, Autor einiger auf Deutsch erschienener Gedichtbände, liefert mit der vorliegenden Auswahl aus seinem lyrischen Schaffen einen breit gefächerten Einblick in sein Schaffen, in dem phantasiegeladene Schattenbilder dem aufmerksamen Leser leider nur vage Konturen anbieten. Also bisweilen nur launenhaft, was nicht erstaunlich ist.

 

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Bisweilen andere Launen, Gedichte von Andrzej Kopacki. Aus dem Polnischen von Marlene Breuer und Jakob Walosczyk, Berlin (foto TAPETA) 2017

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