Der Garten der Geschwister IV

 

Gloria zog ihren Mantel an und machte sich daran, Richard im Garten zu suchen. Sie fand ihn vor dem Schuppen, ein Bein angewinkelt, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Er rauchte. Irgendwann würde ihn das Rauchen umbringen. Aber das war jetzt nicht ihre Sorge. 
- Wo warst du? fragte sie.
- Spazieren.
- Das ist nicht dein Ernst!
- Doch. Es ist schön hier.
Richard wandte ihr das Gesicht zu und lächelte.
- Mir gefällt diese Gegend hier, nichts als Wälder und Wiesen. 
Hätte sie ihn nicht so gut gekannt, hätte sie gedacht, er sagte das bloß, um sie zu provozieren. Aber er liebte das Land, die Natur, vor allem wenn es einsam war, und es war ihm egal, in welcher prekären Situation sie sich befanden, er konnte das schlicht und einfach vergessen. Das machte sie wütend. Bevor sie sich entscheiden konnte, ob sie sich mit ihm darüber streiten oder es besser bleiben lassen sollte, vernahm sie die Stimme des Jungen. 
- Hallo, tut mir leid, dass ihr warten musstet.
Gloria drehte sich um. 
- Ich bin Phillip. 
Der Junge kam aus dem Haus auf sie zu, zwei Schritte vor ihnen blieb er stehen, die Schultern leicht hochgezogen, die Hände so tief in die Hosentaschen gesteckt, als hielte er sich darin fest. 
- Clarissa hat mir gesagt, dass ihr eine Autopanne habt, was kann ich für euch tun?
Sein Blick schwamm zwischen Richard und Gloria hin und her wie ein zappeliger Fisch. Das Haar des Jungen war schulterlang und von einem dunkleren Blond, als das seiner Schwester. Er war fast gleich groß wie Clarissa, aber dünner und zarter in seinem Körperbau. Sie sahen einander nicht direkt ähnlich, und doch erkannte man in der Form ihres Gesichtes, im Schnitt ihrer Augen, dass sie aus einer Familie stammten. Er war eindeutig jünger als Clarissa, nicht viel, zwei Jahre vielleicht. Und doch im Vergleich zu Clarissa, die von ihrem Aussehen und der Art, wie sie sich gab, fast erwachsen wirkte, erschien er noch wie ein Kind.
- Unser Tank ist leer. Wir brauchen Benzin, sagte Richard.
- Benzin? 
Der Junge hob die Stimme ein wenig an. Vielleicht war es ein Ausdruck von Belustigung, vielleicht auch nur Ausdruck der Verwunderung über ihre Nachlässigkeit. Er schüttelte entschieden den Kopf.
- Dafür ist es heute zu spät. Ich muss mich jetzt um die Tauben kümmern. Morgen dann. 
- Morgen? fragte Gloria fassungslos.
- Ja. 
- Aber das ist unmöglich, das geht nicht! sagte sie.
Der Junge zuckte mit den Schultern.
- Ihr könnt hier übernachten, wenn ihr wollt.
Richard schnippte den Rest seiner Zigarette zu Boden. 
- Ja. Warum eigentlich nicht! 
Der Vorschlag schien ihm zu gefallen. 
- Wird es euren Eltern recht sein? fragte er den Jungen.
- Ja sicher. Das geht schon in Ordnung.
- Aber das können wir nicht tun, wir müssen heute noch weiter, widersprach Gloria. Sie spürte wie ein halber Tag des Wartens sich in Nichts auflöste.
Richard legte seine Hände auf ihre Schultern.
- Ich habe letzte Nacht kein Auge zugemacht. Ich muss ein bisschen schlafen.
Der Druck seiner Finger ging ihr unter die Haut. 
- Bitte Gloria!
Seine Stimme war so sanft wie das Streicheln seiner Hände, die an ihren Armen herabglitten. Sie sah, dass er müde war, sah die Erschöpfung auf seinem Gesicht. Seine Augen waren schmal und leicht gerötet, darüber konnte selbst das wirbelnde Blau seiner Iris nicht hinwegtäuschen. Sie schwieg. Richard erwartete ohnehin nicht, dass sie zustimmte, er setzte es voraus.
-  Ich hole noch unsere Sachen aus dem Auto, sagte er.
Gloria blickte ihm nach, wie er den Weg zum Auto einschlug. Sie erinnerte sich nicht daran, wann sie aufgehört hatte, ihm zu trauen. Der Garten begann im Schatten des späten Nachmittags zu erstarren. Es war schlagartig kühl geworden. Die Frühlingswärme des Tages war zu dünn und flüchtig gewesen, als dass sie es vermocht hätte, sich nachhaltig gegen die Jahreszeit durchzusetzen. Die Kälte durchdrang ihre Haut, ihr Fleisch. Sie war zu leicht angezogen. Die Uniformbluse der Versicherungsgesellschaft war gut für überheizte Büroräume. Sie wickelte sich in ihren Mantel. Aber auch der pflaumenblaue Wollstoff wärmte nicht ausreichend gegen die Kälte, die von außen wie von innen kam. Richard hatte ihr diesen Mantel gekauft. Er liebte die Farbe Blau, weil sie gut zu seinen Augen passte, und er mochte die toten Farben nicht, die Gloria gerne trug. Er fand, sie standen ihr nicht, machten sie blass und unscheinbar. Er hatte recht, Gloria konnte es selbst sehen, wenn sie sich im Spiegel betrachtete. Und trotzdem liebte sie diese Farben, das sandige Beige, das steinerne Grau, das erdige Braun, das stumpfe Rostrot, das gedämpfte Ziegelorange, sie gehörten zu ihr. Sie hatte sie immer getragen. Früher hatte ihre helle Haut, ihre haselnussbraunen Augen, ihr blondes Haar perfekt damit übereingestimmt und waren leuchtend zur Geltung gekommen. Heute verschwand sie in diesen Farben, ohne Konturen, ohne Kontraste. Trotzdem griff sie beim Kleiderkauf stets zu einer lehmfarbenen Bluse, einem kamelbraunen Rock, einem eierschalfarbenen Schal. Das strahlende Blau, das leuchtende Rot, das schillernde Grün gehörten anderen. Sie waren ihr zu laut, zu fordernd, auch wenn sie die stumpfe Blässe ihrer Haut und ihres Haares zu einem verzweifelten Leben erweckten, das reizvoll erscheinen mochte. Sie konnte den Mantel nicht sonderlich leiden. Sie trug ihn Richard zuliebe. 
- Willst du meine Tauben sehen? fragte der Junge. 
- Ich mache mir nichts aus Tauben.
- Aber ich möchte sie dir gerne zeigen.
- Warum?
- Nur so.
Er lächelte auf berechnende Weise scheu und liebenswürdig.
- Komm mit! Sie werden dir gefallen.
Gloria wollte die Tauben nicht sehen. Die Tauben am allerwenigsten. Aber sie wollte auch nicht hier im Garten herumstehen, oder in der Küche sitzen. Das einzige, was sie sich wünschte, war von hier fort zu kommen. Und daran war fürs Erste ohnehin nicht zu denken. Der Junge stand da und wartete. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, ihr die Tauben zu zeigen. Sie verstand nicht viel von Kindern, aber sie verstand, wenn jemand etwas von ihr wollte. Und sie wusste nicht recht, wie sie sich dagegen verwehren sollte.
- Gut, sagte sie also, gehen wir. 
Sie folgte ihm ins Haus, die Treppe hinauf in das erste Stockwerk. Das dunkel gebeizte alte Holz knirschte unter ihren Schritten. Es roch nach Moder und altem Mauerwerk. Ein Geruch, der wie ein feiner Schleier über dem ganzen Haus lag. Oben angelangt führte Phillip sie über den Flur.
- Das ist mein Zimmer, sagte er im Vorbeigehen auf eine geschlossene Tür weisend.
- Und das daneben gehört Clarissa.
Zwischen den beiden nebeneinander liegenden Zimmern hing an der Wand ein schwerer, rostbrauner Vorhang aus einem steifen, festen Stoff. Phillip schob ihn zur Seite. Dahinter lag eine mit Tapeten verkleidete Feuertür aus Eisen. Er öffnete die Tür, und über eine schwindelerregend steile und schmale Wendeltreppe kletterten sie auf den Dachboden. Beim Geräusch ihrer Schritte flatterte Unruhe in den Taubenschlägen auf. Es war dunkel, das spärliche Licht der einsetzenden Abenddämmerung, das durch die Dachluke fiel, versickerte in der Düsterkeit des Raumes. Gloria konnte die Vögel nicht sehen, hörte nur das aufgeregte Gurren. Es stank nach Tieren und Pisse, sie hielt den Atem an. Phillip tastete nach dem Lichtschalter. Ein dünnes, rosiges Licht glomm auf. 
- Das sind sie, sagte er stolz. 
Gloria war überrascht. Sie hatte erwartet, dass der Junge eine besondere Art von Zuchttauben oder Brieftauben hielt. Das was sie hier jedoch sah, war nichts anderes als ein Dutzend ganz gewöhnlicher Tauben. 
- Es sind Wildtauben, erklärte er, als hätte er ihre Gedanken erraten, ich habe sie selbst gefangen.
- Wie kann man Tauben fangen?. 
- Es gibt da verschiene Methoden. Aber meistens fange ich sie mit dem Netz. Ich spanne das Netz über eine Vorrichtung, die ich extra dafür gebaut habe, und lege darunter Futter als Köder aus. Wenn sie kommen und fressen, peng, fällt das Netz auf sie herunter, und ich habe sie.
- Und das klappt? Sie entwischen dir nicht?
- Doch. Oft. Sehr oft sogar. 
Wenn er lachte ging eine kleine Sonne auf in seinem Gesicht. Gloria fühlte sich in seiner Gegenwart weniger befangen, als in Clarissas Gegenwart. 
- Man muss Geduld haben. Dann hat man auch hin und wieder Glück, sagte er.
Er entriegelte die Versperrung  des ersten Verschlages, öffnete die Gittertür einen Spalt breit und schob seine Hand hinein. Die Vögel gerieten in Bewegung, sie hüpften und flatterten durcheinander. Ein paar Tauben drängten sich im hinteren Teil des Käfigs zusammen, die anderen, Neugierigen und Mutigen wagten sich weiter nach vorne. Eine große, braune Taube hackte mit dem Schnabel nach Phillips Hand. Kein Laut des Schmerzes oder der Überraschung kam über seine Lippen. Er zog auch die Hand nicht fort, sprach nur beruhigend auf das Tier ein. Die Taube jedoch pickte weiter wie besessen auf ihn hin. Blut tropfte von seinen Fingern und seinem Handrücken, als er die Futterschüssel und die Wasserschüssel aus dem Verschlag herausnahm.
- Sie ist ziemlich aggressiv, bemerkte Gloria. 
Er riss einen langen Streifen von eine Rolle Toilettepapier ab und wickelte ihn um seine Hand.
- Sie ist ein Er. Und er verteidigt nur sein Revier, erklärte er ihr.
Er riss noch ein Stück Toilettepapier von der Rolle ab und wischte die Schüsseln sauber. Auch aus dem zweiten Käfig holte er die Schüsseln heraus. Nachdem er sie gesäubert hatte, füllte er aus zwei Jutesäcken verschiedene Arten von Körner ein und schenkte Wasser aus einer Plastikflasche in die Tränken. 
- Und was machst du mit all diesen Tauben? fragte Gloria.
- Das siehst du ja. Ich kümmere mich um  sie. Ich füttere sie und halte sie sauber.
- Das könnten sie in Freiheit auch selbst besorgen, entgegnete Gloria.
Sie bedauerte sie nicht, weil sie eingesperrt waren, aber sie sah auch keinen Sinn darin, sich Vögel in Käfigen zu halten.
- Sicher. Aber ich kann sie hier beobachten und kennen lernen. Ich untersuche ihr Verhalten, ihre Angewohnheiten. Sie haben alle etwas gemeinsam, sie sind Tauben und verhalten sich wie Tauben, aber darüber hinaus sind sie sehr verschieden. Jede von ihnen ist anders, jede hat ihren eigenen Charakter.
- Aber warum gerade Tauben?
- Weil sie leicht zu zähmen sind. Sie haben weniger Scheu als andere wilde Vögel. Ich liebe die Tauben, und sie lieben mich.
Glorias Blick wanderte unwillkürlich zu der braunen Taube.
- Ich hatte nicht den Eindruck, dass der da dich besonders liebt.
Der Vogel trippelte in vorderster Reihe vor dem Gitter des Käfigs auf und ab und behielt sie aus wechselnder Profilperspektive unablässig wachsam im Auge.
Phillip lachte.
- Ich habe dir schon gesagt, er ist nicht böse. Er ist bloß der Chef da in seinem Käfig, und er will, dass das keiner vergisst. Er ist schön und stark und das weiß er, das zeigt den anderen Tauben und mir. Er will einfach Eindruck schinden.
- Trotzdem ist er mir nicht gerade sympathisch, sagte Gloria.
In diesem Augenblick flog der Vogel auf, schlug mit den Flügeln krachend gegen das Gitter. Gloria wich erschrocken zurück, stieß mit den Hüften an den Tisch, auf dem der Junge die Futterschüsseln und Wassertränken abgestellt hatte. Das Wasser schwappte auf den Tisch und eine Futterschüssel fiel klirrend zu Boden. Sie bückte sich nach der Schüssel, aber Phillip  kam ihr zuvor.
- Es tut mir Leid. Entschuldige.
Sie hasste Vögel. Sie waren ihr unheimlich. Dem Jungen war ihre Furcht nicht entgangen.
- Keine Angst, beruhigte er sie, er tut dir nichts. Er fürchtet sich vor dir mehr als du vor ihm.
- Ja, ich weiß, erwiderte Gloria, er mag es bloß nicht, wenn man schlecht von ihm spricht. Nicht wahr?
Phillip grinste.
- Siehst du, du hast schon dazu gelernt. 
- Darauf kann ich verzichten. Danke.
Der Junge breitete die Arme aus.
- Aber deshalb bist du doch hier.
- Was meinst du damit?
- Du bist hierher gekommen, um etwas zu lernen. Aber was es ist, weiß ich nicht.
- Du machst dich über mich lustig!
- Nein. Wirklich nicht. Ich schwöre es. Clarissa sagt, dass nichts zufällig geschieht, dass es immer einen Grund gibt, weshalb man an einen bestimmten Ort ist, oder einen bestimmten anderen Menschen trifft. Verstehst du?
- Ja, sagte sie, zum Beispiel weil man Benzin braucht. Oder hast du das vergessen?
- Nein, ich habe es nicht vergessen, antwortete er.
Phillip füllte das verschüttete Futter und Wasser nach und stellte Futterschüsseln und Wassertränken in die Käfige zurück. Zärtlich sprach er auf die Tauben ein, lockte sie mit Futterstückchen, streichelte ihre Köpfchen, ihr Gefieder. Auch der wilde Täuberich schien besänftigt. Mit kleinen, spitzen Schnabelhieben hatte er seine Nachbarn von der Futterschüssel weggescheucht, und kostete nun seine Überlegenheit aus. Gloria traute ihm immer noch nicht, sie hoffte er würde bloß nicht entkommen. 
- Sieh mal!
Phillip schlüpfte behutsam seine Hand in den Käfig und zog eine zarte, weißgraue Taube heraus.
- Das ist Loretta, sagte er. 
Still und unbeweglich kauerte die Taube in seiner Hand. Nur der kleine, gewölbte Brustkorb bebte im Takt ihres schnellen Herzschlages. Mit zwei Fingern liebkoste er ihren Hals. Das Täubchen ließ es sich gefallen, teilnahmslos, ohne Anzeichen von Wohlgefallen zu zeigen.
- Sie ist meine Lieblingstaube. Ist sie nicht wunderschön?
Er hielt Gloria die Taube hin, wie eine Kostbarkeit. 
- Sie wirkt zumindest friedlich, sagte sie ausweichend.
- Sie ist ein sanftes und kluges Geschöpf. Ich habe sie vor zwei Jahren als Junges aus einem Nest geholt und aufgezogen. Deshalb ist sie so anhänglich.
Gloria fand, dass die Taube weniger anhänglich als apathisch aussah. Aber sie verkniff sich die Bemerkung. Die Zuneigung der Tauben zu dem Jungen erschien ihr äußerst fragwürdig, aber seine Liebe zu ihnen war echt, auch wenn sie grausam war. Er kramte ein Stück Weißbrot aus seiner Hosentasche und hielt es der Taube hin.
- Komm mein Kleines friss! Sieh mal, ich habe dir einen besonderen Leckerbissen mitgebracht. Nur für dich allein.
Er murmelte leise, kosende Worte über das Köpfchen der Taube, die so weich und flaumig in seiner Hand saß. Sie rührte sich nicht, machte keinerlei Anstalten das Brot zu beachten, geschweige denn auch nur ein Krümelchen davon mit dem Schnabel herauszupicken.
- Sie frisst seit einer Woche nicht, sagte Phillip bekümmert, und ich habe noch nicht herausgefunden, was ihr fehlt.
Vielleicht hatte sie ihr Leben einfach satt, dachte Gloria. Der Junge küsste die Taube und setzte sie vorsichtig in den Käfig zurück. Sie glitt von seiner Hand und humpelte ungelenk in eine Ecke des Käfigs, in der sie sich niederließ. Sie lahmte auf einem Bein. Die anderen Tauben, die sich immer noch Körner aufpickend um das Futter scharrten, beachteten sie nicht.
- Ist sie verletzt? fragte Gloria.
Obwohl sie Vögel nicht mochte, empfand sie einen Anflug von Mitleid mit diesem Tier. Die Taube tat ihr nicht unbedingt Leid, weil sie aus dem Nest geraubt worden war und in diesem düsteren Dachbodenverschlag ihr Leben verbrachte, auch wenn Gloria sich nicht vorstellen konnte, dass ihr das gefiel. Sie tat ihr bloß Leid, weil sie so ausgeschlossen war, in sich selbst abgeschlossen inmitten des geschäftigen Umtriebes ihrer Artgenossen.
Phillip schüttelte den Kopf.
- Ich habe keine Wunde entdeckt, ich glaube auch nicht, dass ihr Bein gebrochen ist. Und auch wenn ihr Bein gebrochen wäre, würde sie fressen. Tauben sind zäh, die geben nicht so leicht auf.
- Und wenn sie es doch tun? 
Er zuckte mit den Schultern.
- Dann sind sie sehr krank, in dem Fall ist ihnen ohnehin nicht mehr zu helfen. 
Gloria sah, dass ihm die Vorstellung Kummer bereitete. Sie hätte ihm gerne etwas Tröstendes gesagt, aber es fiel ihr nichts ein, was sie ihm zu der kränkelnden Taube hätte sagen können, weil es ihr gleichgültig war, ob sie starb. Von ihr aus hätten alle diese Tauben hier sofort tot umfallen können.
- Sie wird schon wieder in Ordnung kommen, sagte sie lahm.
Sie wusste nicht, ob er es ihr abnahm, oder ihre geheuchelte Anteilnahme durchschaute. Vielleicht entschied er sich auch nur, es für das zu nehmen, was es war, ein Bemühen nett zu sein.
- Ja, sagte er, das hoffe ich. Bis jetzt ist mir erst eine Taube hier gestorben. Sie war schon krank als ich sie gefangen und hergebracht habe. Es ist mir nur nicht gleich aufgefallen. Aber die anderen Tauben haben es sofort bemerkt. Sie spüren das Kranke und Schwache und sondern es aus. Sie haben ihr das Leben schwer gemacht. Eines Morgens lag sie tot im Käfig. Sie war nicht von selbst verendet, die andere haben sie umgebracht.
- Wie scheußlich!
- Für uns ist es vielleicht scheußlich, aber nicht für sie. Es ist ihr Instinkt.
Er streckte das Brotstückchen, das er immer noch in der Hand hielt durch das Maschengitter des Käfigs. Loretta beobachtete ihn still aus ihrem Winkel heraus, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Eine andere Taube machte sich an dem Leckerbissen zu schaffen, zog ihn mit dem Schnabel durch die Maschen des Gitters hindurch, legte ihn sich zu Füßen und zerpflückte ihn. 
- Bist du jetzt enttäuscht? fragte Phillip.
- Nein.
- Doch du bist enttäuscht.
- Nein, ich habe mir nichts Besseres erwartet.
Sie dachte, dass es seltsam war, mit welchen Dingen sich Kinder in diesem Alter beschäftigten. Auch ihr Bruder hatte, als sie Kinder waren, ein eigenartiges Interesse an Tieren gehabt. Er hatte alles mögliche an Tieren gesammelt, Spinnen und Käfer, Frösche und Mäuse. Gloria hatte nie herausgefunden, was er mit ihnen angestellt hatte. Er hatte sie angeschleppt und in Gläser, Schachteln oder Käfige gesteckt. Nach einiger Zeit waren sie auch wieder verschwunden, eben so plötzlich wie sie aufgetaucht waren. Gloria hatte nie nachgeforscht was aus ihnen geworden ist. Und da war noch der Wellensittich gewesen, den ihr Bruder eines Tages nach Hause gebracht hatte. Jener Vogel, der sie bis heute in die Tiefe ihrer schlimmsten Träume verfolgte. Sie empfand auf einmal das Gurren der Tauben, das Scharren ihrer Krallen, das Schlagen ihrer Flügel als unerträglich. Sie musste es auf der Stelle loswerden, aus den Augen, den Ohren bekommen. 
- Ich brauche frische Luft, sagte Gloria.
Sie wollte kein Wort mehr hören über Tauben, deren Aufzucht und Verhaltensweisen. Es brachte sie auf schlechte Gedanken. Phillip sah zu ihr herüber als suchte er nach einer Erklärung für ihre plötzlich umgeschlagene Stimmung, aber sie hatte keine Lust irgendetwas zu erklären.
- Gut, sagte er, dann gehen wir. Ich bin hier fertig für heute.
Er versicherte sich, dass die Türen der Käfige ordentlich geschlossen waren.
- Die Käfige säubere ich morgen. Eigentlich hatte ich es mir für heute vorgenommen, ich mache das alle drei Tage, ich bin da normalerweise sehr genau. Sauberkeit ist wichtig, um Krankheiten und Ungeziefer zu vermeiden. Aber wenn schon einmal Besuch kommt, dann kann man eine Ausnahme machen. 
Er wartete bis Gloria die Wendeltreppe hinuntergestiegen war, dann löschte er das Licht und folgte ihr.
- Wir haben in diesem Haus nicht oft Besuch, und jedem zeige ich auch nicht meine Tauben.
Sie drehte sich um.
- Und warum ausgerechnet mir?
- Weiß nicht.
Er wich ihrem Blick aus, starrte auf den Boden.
- Ist nur so ein Gefühl.
Aus Neugierde hätte Gloria zwar schon gerne gewusst, was für ein Gefühl das war, aber sie verzichtete darauf es herauszufinden, weil sie aus einem unbestimmten Grund, den Eindruck hatte, dieses Gefühl würde sich wie eine langgehegte Bedrohung vor ihr aufrichten.

 

***

Auszug aus dem Roman Garten der Geschwister. Roman von Patricia Brooks, Molden 2006

Weiterführend

Lesen Sie auch das Porträt der Autorin. Ein Kollegengespräch mit Patricia Brooks finden Sie hier.