Varenna

 

Wo ich schon immer war

 

Hier lief ich vor langer Zeit zu meinem allerersten Rendezvous. Hier fiel ich aus dem Nest und stieg zum Himmel auf, hier brachen mir die Schwingen und wurden von allein wie-der heil.

Es gibt Orte, an denen man immer schon war und kennt jeden Stein, ohne ihn jemals zuvor gestreift zu haben.

Orte wie Traumgeburten.

Tauben spielen mit Licht. In einem schmalen Streifen Winterblau liegen alle Möglichkeiten beschlossen. Hier wurden Schlachten verloren und bestanden. Hier geschah alles, was in einem Menschenleben geschehen kann und muss. Der See verschluckt es dann und schweigt sich zu-künftig darüber aus. Jeder muss seine Er-fahrungen selber machen, heißt es am trockenen Land.

Varenna im Mai, zur Glyzinienblüte. Fülle und allerhöchste Gefahr.

November. Milchlicht, undurchdringliche Weiße. Uralte Fährschiffe gleiten lautlos über den See wie leichte Boote aus Papier. Man möchte auf ihnen im Nebelgrau verschwinden und plötzlich wieder auftauchen, in Bellagio, Menaggio, Cadenabbia. Unsichtbar werden. Unbekannten Menschen ihre Geschichte auf den Leib schnei-dern. Fragen nach Sinn und Ziel aufwerfen und  wieder verwerfen. Der See ist tief und weiß um den ewigen Sog einander widerstrebender Be-gehrlichkeiten.

Um 1937 bezog Mr. Reginald Simpson, ein en-glischer Kaufmann im Ruhestand, in Varenna Quartier. Der Handel mit Südfrüchten hatte ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht, der einem behaglichen Lebensabend entgegensehen konnte, als er plötzlich von einer unerklärlichen Unruhe befallen nach dem Süden getrieben wor-den war, wo er das Leben in zwiespältigeren Varianten als den ihm bisher bekannten erfahren sollte. Die fremde Landschaft betörte und ver-störte ihn und bescherte ihm schließlich auf dem Baluardo, einem Aussichtspunkt hoch über dem Comer See, einen spektakulären Tod vor einer Theaterkulisse.

Sein Ort hatte ihn gefunden, und er hatte, eine helle Blüte im Knopfloch, einverständlich ge-nickt, ohne zu begreifen wie alles  eigentlich ge-kommen war.

Im selben Jahr schrieb Vladimir Nabokov in Paris seine Erzählung Wolke, See, Burg, die im Umland von Berlin spielt und in der es darum geht, dass ein kleiner russischer Angestellter bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung eine Gesellschafts-reise gewinnt. Als geborener Eigenbrötler zögert er zunächst, seinen Gewinn anzunehmen und entschließt sich erst in letzter Minute, die Reise tatsächlich anzutreten. Mit dem unfehlbaren Instinkt grober Wirklichkeitsmenschen erkennen seine Reisegefährten in ihm auf den ersten Blick das geborene Opfer und beginnen also damit, sich auf seine Kosten zu amüsieren und ihn auf jede erdenkliche Weise zu drangsalieren und lächerlich zu machen. Die umständliche Eisen-bahnfahrt entwickelt sich zu einem wahren Alb-traum, der sich erst in jenem Augenblick löst, in dem die kleine Gruppe endlich ihren Be-stimmungsort erreicht.

Wolke, See, Burg. So einfach ist das Glück.

Hier möchte Nabokovs bescheidener Protagonist

für immer bleiben.

„Freunde“, rief er, nachdem er  von einem neuerlichen Spaziergang am Seeufer zurückgekehrt war,“ Freunde, ich verabschiede mich von Euch. Ich habe vor, für immer hierzubleiben. Ihr werdet unsere ge-meinsame Reise ohne mich fortsetzen müssen. Ich komme nicht mit. Ich fahre nirgendwo mehr hin. Lebt wohl.“ 

Doch das Glück ist bekanntlich eine Schimäre, und so prügeln die Reisegefährten denjenigen, der seinen Lebensort endlich gefunden hatte, am nächsten Tag unter wüsten Beschimpfungen zum Bahnhof und damit in seine alte Existenz zurück.

In Berlin begibt sich der kleine Russe unver-züglich zu seinem Chef, um die Kündigung einzureichen. Seine Begründung ist ebenso schlicht wie das Glück, das er fand und wieder verlor: Er sähe sich nach den Vorfällen der ver-gangenen Tage außer Stande, der Menschheit noch länger anzugehören. Seinem Chef bleibt keine andere Wahl, als das Gesuch anzunehmen.

Seinen Ort finden.

Einen großzügigen Flecken Erde, dessen alte Mauern förmlich darauf warten, Liebespaaren als Schutzwall zu dienen. Alte Sehnsüchte formten dem kalten Stein ein Menschenherz aus Tränen und Traum. Elegante Villen, in deren weit-läufigen Parks englische Adlige unter impo-santen Magnolien einst ihr Leben verträumten. Vergangene Wirklichkeiten, die ihre Schatten bis weit in die Gegenwart hinein werfen und sie in ein ewig heiteres Frühstück im Freien verwandeln.

Metaphysische Mattigkeit.

Schiffen und Menschen lange nachschauen, mageren englischen Ehepaaren mit hellen Hütchen, stattlichen Amerikanern in kurzen Hosen und bequemem Schuhwerk, wie sie einen Lebensnachmittag lang, unbegreiflich für sich selbst, immer langsamer werden.

Ein Mensch namens Eros hat seinem an-spruchsvollen Gott einen Tempel der Schönheit errichtet, ein kleines Café, das Tagträume be-flügelt. Nirgends sonst ist der Blick über den See so verführerisch, der Wunsch so übermächtig, die Zeit ohne sie füllen zu wollen einfach ver-gehen zu lassen.

Hier möchte man bleiben und darf nach den ungeschriebenen Gesetzen der Welt nicht blei-ben, denn Varenna ist eine Metapher und wie jede Metapher auf Sand gebaut.

Nicht anders als der Angestellte aus Nabokovs Erzählung, der unglückliche Reginald Simpson, dem der Süden zur Offenbarung und zum Ver-hängnis wurde und alle diejenigen, die um Aus-wege aus ihrer existentiellen Mattigkeit ringen, müssen wir am Ende alle in die Wirklichkeit zurück.

Nach einem Tag, der genau so einfach und kom-pliziert, genauso lang und kurz ist wie ein ganzes Menschenleben, verschwinden die Protagonisten der ewigen comédie humaine einer nach dem an-deren hinter jenem verschlissenen Vorhang, dessen staubige Schwere sich Nacht um Nacht zwischen unser wirkliches und unserer wahres Ich senkt, um am nächsten Morgen sein  unabgegoltenes Versprechen umso nachdrück-licher zu erneuern und den Blick auf die ganze Fülle wieder freizugeben. 

Denn nichts ist entschieden, und nichts geht verloren. Alles kann wiedergefunden werden, solange Trost und Kraft reichen und unsere Sehnsucht ungehemmt begehrt, heißt es dazu in Gerhard Köpfs wunderbarem Romanerstling Innerfern aus dem Jahre 1983, einer Hommage an die unstillbare Sehn-sucht, die den Menschen eigentlich erst zum Menschen macht.

 (2014)

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Es finden sich in dem Buch sehr persönliche Geschichten zu teils eher unbekannten Orten, abseits von Klischees und sattsam Bekanntem. Man spürt den Ort hinter der Geschichte eher, als das man ihn durch Informationen erlesen könnte. Italien bietet sich dafür natürlich an: man kennt es, weiß einiges darüber, hat schon ein Gefühl dazu. Dazu passt auch die Gestaltung und Benennung als Postkarten, die ja dem Zuhausegebliebenen die Gefühle des Reisenden vor Ort schildern. Und dabei spricht die Autorin verschiedene Facetten Italiens an – ganz persönliche Erinnerungen genauso, wie Beobachtungen zum Umgang mit Italiens faschistischer Vergangenheit.

 

Postkarten aus Italien, Kurzprosa von Stefanie Golisch, fza verlag 2015