Enzyklopädie der Toten

 

Der 1935 in Subotica an der jugoslawisch-ungarischen Grenze als Sohn einer serbisch-orthodoxen Montenegrinerin und eines ungarischen Juden geborene Danilo Kiš, 1989 in Paris als renommierter Dichter, Essayist und Schriftsteller verstorben, übernimmt in der europäischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts in mehrerer Hinsicht eine besondere Funktion. Wie Ilma Rakusa, die Interpretin und Teil-Übersetzerin seines Werkes in ihrem Nachwort herausstellt, war Kiš ein formbewusster Autor, der „Form als Suche nach einem archimedischen festen Punkt im uns umgebenden Chaos; Form als Gegengewicht zur Desorganisation der Barbarei und irrationalen Willkür der Instinkte,“ (S. 894) bewertete. Seine tiefen seelischen Verwundungen nach dem traumatischen Verlust des Vaters, der 1944, wie die meisten ungarischen Juden, nach Auschwitz deportiert wurde, sowie Einsichten in das verbrecherische Wesen stalinistischer Praktiken in seinem Geburtsland erwiesen sich als die wesentlichen Sujets seiner Romane. Beide empirisch verdichteten Erlebnisfelder bildeten seit Ende der 1960er Jahre den schriftstellerischen Kern seines Schaffens. Dabei beschäftigte ihn, wie Rakusa festhält, der Holocaust „nicht nur als historische Hypothek, sondern als Teil der Familiengeschichte.“ (S. 894). Stalinistische Willkür in der titoistischen Machart erlebte Kiš nach dem Erscheinen seines Romans „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ (1976). Er wurde zum Gegenstand eines literarischen und zugleich politischen Prozesses gegen den Autor, der diesen bewog, nach Frankreich zu emigrieren.

In dem vorliegenden „Familienzyklus“, der aus fünf Romanen mit unterschiedlichen Erzählerpositionen besteht, geht es in der Trilogie („Frühe Leien“, „Garten. Asche“, „Sanduhr) um „die Rekonstruktion einer beschädigten Kindheit, um die Hommage an den in Auschwitz umgekommenen Vater und um ein Memento an das vom Nationalsozialismus zerstörte jüdische Mitteleuropa“ (Rakusa). Der vierte Text, „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“, im Untertitel „Sieben Kapitel ein und derselben Geschichte“, setzt sich aus einer spezifischen Perspektive mit Opfern der Stalinschen Terrorwelle in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre auseinander. Er ist, wie Joseph Brodsky in seinem Vorwort schreibt, „wie ein langes dramatisches Poem“ (S. 556) gebaut, in der  „der Prozeß der Verwandlung russischer Geschichte jener Zeit in die neue Mythologie unserer Zivilisation voll im Gange“ (S. 553) ist. Und diese ideologische Verblendung führte dazu, dass Danilo Kiš aus Belgrad emigrieren musste, obwohl keine seiner Personen in dieser fiktionalen Dokumentation jugoslawischer Herkunft waren. Vielmehr sind die Personen der Handlung treu ergebene kommunistische Revolutionäre aus anderen ost- und ostmitteleuropäischen Staaten, wie z.B. der Russe Boris Dawidowitsch Nowskij, der während der Terrorwelle 1936 bis 1940 in die Fänge des NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) geriet, der Sabotage beschuldigt wurde und im sibirischen Norilsk auf der Flucht vor seinen Wächtern sich das Leben nahm. Dieser Nowskij taucht im letzten Kapitel noch einmal auf, als er dem regimetreuen Verseschmied und Übersetzer A.A. Darmolatow 1933 einen Kuraufenthalt in Suchumi ermöglicht. Darmolatows Lebenslauf dient als Muster für eine Überlebensstrategie in der Stalin-Diktatur, in der auch ein Mitläufer, von Spitzeln umgeben, von psychischen und körperlichen Leiden gequält, dennoch, wie der Erzähler als Augenzeuge bestätigt, zu spätem Ruhm als angeblicher Übersetzer des berühmten Versepos  „Bergkranz“ von Petar Petrović Njegoš kommt.

Der umfangreichste Text des Familienzirkus trägt den Titel „Enzyklopädie der Toten“. Seine auf rund 180 Seiten abgedruckten zehn Geschichten schließen mit einem Post Scriptum, in dem der Autor seine narrativen Konstrukte vorstellt: „Alle Geschichten in diesem Buch stehen mehr oder weniger im Zeichen eines Themas, das ich metaphysisch nennen würde; seit dem Gilgamesch-Epos gehört die Frage des Todes zu den obsessiven Themen der Literatur.“ (S. 879) Was Danilo Kiš, anschließend an den in seinen Romanen offenbar engen Bezug von religiösen und weltlichen Themen mit dem Verweis auf Goethes „West-östlicher Diwan“ zur Deutung seiner „Enzyklopädie“ einbringt, präzisiert Ilma Rakusa in ihrem Nachwort: „Gegenüber Religion und kirchlicher Religiosität hatte Kiš seine Vorbehalte– und es gehört zu den Paradoxien seines Lebens, das ihm in Belgrad ein pompöses orthodoxes Begräbnis ausgerichtet wurde  -, doch der Glaube, mit seiner gegen das Vergessen  gerichteten Kunst der Vergänglichkeit trotzen zu können, erfüllte ihn zutiefst.“ (S. 905) In den tiefsten Schichten seines Bewusstseins sei er von einem metaphysischen Furor getrieben gewesen. Dabei habe er „im künstlerischen Akt die wohl einzige Möglichkeit des Widerstands und der ‚Transparenz‘“ (S. 906) gesehen.

Es gehört zu besonderen Vorzügen des Sammelbandes, dass dessen Herausgeberin nicht nur eine hervorragende Interpretin des umfangreichen Werkes von Danilo Kiš ist, sondern den „leidenschaftlichen Polemiker und hochsensiblen Melancholiker“ auch in dessen Pariser Exil erlebt hat. Diese beiden Eigenschaften tragen – gemeinsam mit ihrer editorischen und übersetzerischen Tätigkeit – dazu bei, dass der Carl Hanser Verlag mit finanzieller Unterstützung mehrerer europäischer Kulturfonds eine Publikation vorweisen kann, die einen besonderen literarischen Beitrag zur Aufklärung pathologischer Wahnsysteme in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts leistet.

 

 

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Familienzirkus. Die großen Romane und Erzählungen von Danilo Kiš. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ilma Rakusa. München (Carl Hanser Verlag) 2014