Von der Sowjetunion lernen heißt…

 

Es sind zwei aus unterschiedlichen Blickwinkeln gewonnene Einsichten in den Zustand der russischen Gesellschaft, die nur vage einer vergleichenden Bewertung standhalten. Und dennoch: obwohl die textuellen Verfahren, die stilistischen Mittel und die Sujets so stark voneinander abweichen, lohnt der Vergleich in mehrerer Hinsicht.

DJ stalingrad alias Piotr Silaev, Jahrgang 1985, bedient sich eines fetzigen Jugendjargons, verbindet hyperrealistische Bilder mit unerwartet eingeschobenen soziologischen Reflexionen über den unerschütterlichen Fortbestand des Sowjetmenschen, der „in engen Wohnungen schweigend altert“. Er schildert Aktionen der Antifa-Bewegung, die gegen die Nationalbolschewisten und die Faschos kämpft. Seine sprachlichen Mittel verweisen auf eine solide philologische Ausbildung, seine Lebenserfahrung ist vom ständigen Umgang mit frustrierten gleichaltrigen Zeitgenossen geprägt, die sich gegen die großstädtischen rechtsradikalen Gruppierungen wehren. Die Handlungsorte wechseln zwischen Moskau, Petrograd und Sankt Petersburg. Brutale Schlägereien, kommentiert mithilfe von Mat-Sprache (Slang, der aus dem Sexualbereich entstand ist), werden abgelöst von Gesprächen über den Zustand der russischen Gesellschaft. Auffällig ist in diesem Zusammenhang das ironische Verhältnis des Erzählers gegenüber dem orthodoxen Glauben. Dieser rasche Wechsel der Aktionsfelder und die Verwendung von Metaphern, Pastiches und neo-expressionistischen Sprachfetzen verweisen auf die Vertrautheit des Autors mit postmodernistischen Textverfahren.

Im Vergleich dazu arbeitet der „radikalste“ brasilianische Erfolgsautor Bernardo Carvalho, Jg. 1960, so sein Verlagslabel, mit konventionellen sprachlichen Mitteln. Er setzt sich aus der sicheren geografischen Distanz mit den schlimmen Auswirkungen der Nationalitätenkonflikte in der Russischen Föderative auseinander. Ausgangspunkt seines in verschiedene Handlungsstränge aufgeteilten plots ist Sankt Petersburg im Jahr 2003, am Vorabend des 300-Jubiläums der Stadt, dessen Jahreszahl der Verlag zum Anlass nahm, aus dem portugiesischen Originaltitel O filho da mae den werbewirksamen Titel Dreihundert Brücken zu texten. In diesem mit mehr als dreihundert Brücken – mit Vororten sogar 500 Brücken –   ausgestatteten Sankt Petersburg trifft Julia Stepanowa nach mehr als zwanzig Jahren auf ihre Schulfreundin Marina Bondarewa, die im Komitee der Soldatenmütter arbeitet. Beide tauschen ihre bitteren Erfahrungen mit  russischen Militärbehörden aus, greifen auf die Erinnerung ihrer Großmütter an die finstere Stalin-Ära zurück, wobei sogar die berühmte Dichterin Anna Achmatowa mit ihren erschütternden Erlebnissen vor dem berüchtigten Leningrader Gefängnis Kresty in ihren Erzählstrom eingebaut wird.

Das den Text vorantreibende Sujet bildet das Schicksal der jungen Soldaten, die im zweiten russisch-tschetschenischen Krieg getötet, verschollen oder auch von ihren Müttern gerettet werden. Beide haben unterschiedliche Motive, um junge Männer aus den Klauen der Militärs zu befreien. Marina, die ihren Sohn aus Tschetschenien zurückgeholt und nun andere Mütter berät; Julia, die kinderlos geblieben ist, möchte den 19-jährigen Wassja, Sohn ihrer Nachbarn, aus einem Militärkrankenhaus in Irkutsk retten. Die zweite Parallelhandlung führt den Leser in ein Flüchtlingslager in Inguschetien an der Grenze zur Tschetschenien, wo Zainap, eine Tschetschenin mit ihrem Enkel Ruslan seit fünf Monaten in einem Zelt haust. Zainap wurde 1944 zusammen mit zehntausenden ihrer Landsleute, wie auch mit anderen nordkaukasischen Völkern, nach Kasachstan deportiert, ein Rachefeldzug Stalins gegen kaukasische Völker wegen deren angeblicher massenhafter Kollaboration mit dem deutschen Militär, das Teile des Kaukasus im Sommer 1942 besetzt hatte. Die in diesem Erzählstrang dargelegten historischen Hintergrundinformationen zeugen von der sorgfältigen Recherche des brasilianischen Autors.

Die dritte Parallelhandlung erzählt von Anna. Sie lebt mit Dimitri und ihren zwei Söhnen Roman und Maxim in einer Mietwohnung. Dmitri arbeitet im russischen Innenministerium, dem FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB. Er wird in eine mysteriöse Aktion verwickelt, die ihm seinen gut dotierten Posten im Ministerium kostet. Die Beschreibung dieser Umstände erweist sich als wenig authentisch. Ihre sprachliche Umsetzung ist klischeehaft und wenig überzeugend. Auch die folgenden Erzählabschnitte wirken oft wie eingeschoben, ohne dass der Leser die Kontinuität der Handlung nachvollziehen kann. Manche Abläufe wirken wie Anweisungen für eine Filmszene, da der Erzähler allzu dezidiert bestimmte Gefühle der Protagonisten benennt, andere wiederum zeugen von alltagskulturellen Detailkenntnissen, die in Übereinstimmung mit den Handlungsweisen der Protagonisten stehen.

Im zweiten Kapitel mit dem Titel Die Chimären steht zunächst Andrej im Mittelpunkt der Handlung, der es in den folgenden Passagen oft an Durchsichtigkeit mangelt. Andrej ist Soldat der Roten Armee, ein Rekrut, der aus der Ehe mit einem brasilianischen Exilanten und einer gewissen Olga stammt. Andrej, der von einem Offizier seiner Kompanie erpresst wird, sich selbst wegen seiner homosexuellen Neigungen erpresst fühlt, will nach Sankt Petersburg, wo Marina vom Komitee der Soldatenmütter ihn vor seinem drohenden Einsatz im Krieg gegen die Tschetschenen bewahren soll. Doch sein Schicksal ist ebenso wie das von Ruslan vorherbestimmt und vom Autor bewusst so angelegt. Ruslan wird ebenso wie Andrej ums Leben kommen. Der eine als Opfer von Rechtsradikalen, der andere beim Kriegsdienst im Kaukasus, wie der Leser im Epilog erfährt. Ob der allerdings bis zur Seite 213 vorstoßen wird, ist fragwürdig, denn auch der Rezensent hat im Gewirr der Handlungsfäden die Orientierung verloren. Zuviel stürzt auf ihn ein: Erpressung und Gewalt in der Armee, Fremdenhass, rechtsradikale Gewaltorgien, die Soldatenmütter, der russische Geheimdienst FSB und seine perfiden Praktiken, zerrüttete Familien, Bewertungen der russischen Staatsmacht und sogar noch ein brasilianischer Nebenstrang – zuviel, um daraus einen reißerischen und zugleich überzeugenden Roman zu basteln. Wenn Carvalho, wie auf dem Buchumschlag zu erfahren ist, „ein Kosmopolit (ist), der den brasilianischen Urwald ebenso faszinierend zu schildern versteht wie die Mongolei“, dann bestehen die „Dreihundert Brücken“ vielmehr aus geschickt zusammengestellten bricolages, in denen einzelne Episoden durchaus folgerichtig erzählt werden. Doch wenn sie als durchgehender Text gelesen werden, dann wirken sie wie Versatzstücke, wie Klischees, die die schwer durchschaubaren Mechanismen der russischen Staatsgesellschaft durchsichtig machen sollen. Eine Absicht, die leider nicht überzeugt! Dj stalingrad alias Siljaev hingegen hat mit seinem EXODUS ein überzeugendes Zeugnis einer russischen Underground-Realität abgeliefert. Es hinterlässt authentische Eindrücke von Willkür, Gewalt, Rechtlosigkeit und Brutalität.

Und der Vergleich beider Publikationen?

Wer sich über den schizophrenen Gemütszustand der russischen Gegenwartsgesellschaft informieren will, dem ist, falls er sich nicht an der gewaltgeladenen Sprache des Autors stört, der EXODUS zu empfehlen. Wer Einblick nehmen will in die Auswirkungen der hassgeladenen Nationalitätenpolitik in der Russische Föderative unter Wladimir Putin, der sollte, trotz gewisser Vorbehalte, Carvalhos Roman, eine Mischung aus distanziertem Blick und mutigem Engagement für die Opfer dieser Politik, unbedingt lesen.

 

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EXODUS, DJ stalingrad Aus dem Russischen von Friederike Meltendorf. Berlin (Matthes  Seitz) 2013

Dreihundert Brücken, Roman von Bernardo Carvalho München (Luchterhand) 2013. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner,