Zu den Dingen selbst?

– Werbung für eine Wissenschaft von den erlebbaren Zusammenhängen –

 Die Natur und ihr Inventar

Porträt Werner Mikus

In der christlich mittelalterlichen Zeit „las man im Buch der Natur“, wenn man sich Wissen schaffend mit ihr befasste. Es gab eine feste Ordnung und die darin enthaltenen Dinge der Natur. Der Mensch dieser Zeit räumte diesen Dingen nur in soweit ein eigenes Wirken und Zusammenhängen ein, als es sich aus der Schöpfung im Ganzen ableiten ließ.

Keineswegs billigte man den Dingen aber eine eigene Natur zu, die vielleicht nur mit neuen, gleichsam unchristlichen Mitteln zu erschließen war und vom Inhalt her dem Bild einer göttlichen Schöpfung widersprach (die Inquisition passte schon darauf auf! Der Mittelpunkt der Schöpfung drohte ja im 17ten Jahrhundert durch einen neuen Blick auf die Himmelsmechanik verschoben zu werden und dem Interpretations-System der kirchlich organisierten Wissenschaft drohte zumindest eine ungeheuere Relativierung.

Hin zu den Dingen selbst – die Versuchung in der Neuzeit

Heute fragen wir uns: Wie genau ist die jeweilige Sache beschaffen, wie ist ihr Zusammenhang, wie funktioniert sie, damit ich sie nachbilden, nachbauen kann. Unter welchen Bedingungen entstehen bestimmte Dinge und unter welchen verschwinden sie wieder? Darum ging es dem Menschen des christlichen Zeitalters weniger. Die Beschaffenheit der Dinge schien festzustehen. Sie drückte den Plan Gottes aus, den man im wesentlichen zu kennen glaubte und der sich in bestimmten universalen Gesetzen mustergültig zum Ausdruck brachte. Forschung war also eine Art von Inventur machen in einer Schöpfung, die so groß war, dass man noch nicht alles darin kennen konnte.

In der Wende zur Neuzeit und mit dem Entstehen der Naturwissenschaft, war man nun aber versucht, den Dingen selbst und ihren inneren Zusammenhängen eine Bedeutung zu geben, mit der Konsequenz, von einem alten Bild der Wirklichkeit wegrücken zu müssen, das von einer Wirklichkeit erzählt, die nur auf einer einzigen, von Gott gegebenen Ordnung, aufgebaut ist. Giordano Brunos Idee von den unendlich vielen Welten bringt die Brisanz dieser Versuchung vielleicht am besten ins Bild: Man konnte sich im Geiste seiner Ideen fragen, ob wir nicht vielleicht von mehreren, ganzheitlichen Ordnungsmustern in der Welt ausgehen sollten, die gleichsam nebeneinander existieren und dennoch in der einen unendlichen Wirklichkeit ihren Auftritt haben, in der auch wir leben und uns Gedanken über die Dinge machen.

Die halbherzige Hinwendung zu den Dingen

Die Vitalität der Bewegung „Hin zu den Dingen“ hielt aber nicht lange vor. Eine Ersatzordnung für die alte Ordnung der Dinge wurde schnell gefunden: Descartes Zweiteilung der Welt in die Natur des Geistigen und die des Materialen hatte das geschafft, unter Mithilfe der mathematischen Beschreibung der Gravitation (Newton) die ja das Zusammenhalten von Himmels-Geschossen berechenbar machte (und auf so einem saß der Mensch nach Verlassen des alten Denkens ja). Die Verheißung dieser neuen Ordnung war: Wir können im Buche der Natur (egal vom wem geschrieben) weiterlesen. Wir wissen jetzt, dass es in der Sprache der Mathematik geschrieben ist und daher dürfen wir hoffen, eines Tages alle Zusammenhänge dieser EINEN Ordnung (aber woher konnte man wissen dass es EINE war) gefunden zu haben.

Diejenigen, die den Impuls dennoch weiter spürten, nach neuen Zugängen zur Wirklichkeit und ihrer möglicherweise verschiedenen Naturen zu suchen, wurden schnell mit einem Pantheistischen Denken zusammengebracht. Einem solchen Denken ging es dann eher darum, sich Gott ein bisschen größer zu denken als bisher, sich ihn z.B. als einen Gott von unendlich vielen Welten vorzustellen – wobei es am Ende dann doch wieder auf dieses göttliche EINE einer Ordnung hinauslaufen sollte (so konnte man Giordano Bruno jedenfalls auch interpretieren).

Die Versuchung, die Dinge selbst zum Sprechen zu bringen, ihren eigenen Hinweisen auf die Wirklichkeit zu folgen und so einen methodisch immer besseren Zugang zu ihnen zu entwickeln, verlor sehr bald ihre Anziehungskraft angesichts der Verheißung einer über die Mathematik erreichbaren maximalen Sicherheit im Aufschließen der Wirklichkeit.

Man wollte jetzt soviel von der materialen Natur der Wirklichkeit (res exensa) erforschen wie eben nur möglich und glaubte sich im methodischen Vorgehen noch nie so sicher wie jetzt, wo man doch von einer Natur ausgehen konnte, die in der Sprache der Mathematik geschrieben und damit prinzipiell zu entschlüsseln war. Das Mathematische wurde zentral in den Rahmen eines Verfahrens gestellt, das wie ein Generalschlüssel für die Erschließung aller Zusammenhänge zur Verfügung stand (grob: Operationalisierung als Methode).

Was war aber der Preis für das Verheißungsvolle?

Zu allen Phänomenen, die in irgendeiner Weise mit der Seele, dem Denken und dem Geist etwas zu tun hatten, konnte auf diese Weise kein Zugang gefunden werden. Selbst so zeitnahe Denker wie Kant waren davon überzeugt, dass der menschliche Geist, (wie er sagte) sich der wissenschaftlichen Untersuchung entziehe weil das Denken eine Funktion der Seele sei und diesem deshalb auch keine mess- und überprüfbaren Parameter zugeordnet werden könnten.

Die Methode war also ein Hindernis für die Erforschung bestimmter Zusammenhänge. Die Methode musste ja nicht an den Dingen selbst erst entwickelt werden, sondern war für den Forscher wie von außen vorgegeben, ähnlich wie der Geist im dualistischen Weltbild in die materialen Dingen wie von außen hinein gegeben war, als etwas Fremdes, das sich nicht an der Sache selbst erst entwickeln musste.

Ein Hin zu den Dingen durch das Experiment

Die Neuzeit begann also mit der Versuchung, den Blick umzukehren: Statt von der Sicherheit einer göttlichen Ordnung auf die noch unbekannten Dinge der Natur zu schauen, traute man sich jetzt vom Kleinen, das man sich genauestens beschauen konnte, auf das Große zu schließen. Und das war die Geburtsstunde des Experiments. Die in Geist und Materie  aufteilende Ersatzordnung die ja sehr bald gefunden war, hinderte nicht daran. Im Gegenteil, das Schließen vom Kleinen auf das Große ließ sich mit der neuen Ordnung ganz gut verbinden. Das wissenschaftliche Experimentieren wurde eine Erfolgsgeschichte. Es brachte tatsächlich näher an die Welt der Dinge heran. Allerdings für einen recht hohen Preis: Bestimmte Zusammenhänge mussten vollkommen ausgeklammert werden.

Wieso das so ist, wird deutlich,  wenn wir uns anschauen, wie die Methode aussah und weitgehend auch heute noch aussieht. Dabei geht es um eine Methode, die das Versprechen macht, ein Generalschlüssel für die Erschließung jedweder Zusammenhänge zu sein. Bestimmte Dinge mussten dabei für die Wissenschaft geopfert und weil der Schlüssel dort nicht passte in die Nebenstube einer Geisteswissenschaft geschoben werden, die als eine nicht exakte Wissenschaft galt.

Immerhin entstanden im Zuge der vielen Experimente Protoperspektiven auf eine Wirklichkeit im Ganzen – Vorformen von Perspektiven die das Zeug dazu haben, einen neuen, eigenen Zugang zur Wirklichkeit mit entsprechend eigenen Methoden bereitzustellen (darauf komme ich später noch zurück).

Die generalschlüsselartige Methode als Bremse

Jede Methode will einen eigenen Zugang zu den Dingen herstellen. Dabei müssen aber immer bestimmte Erwartungen erfüllt werden: Die Methode soll Vorhersagen ermöglichen, und die Erkenntnisse sollen sowohl zuverlässig als auch gut nachvollziehbar sein.

Die Wissenschaft der Neuzeit hatte sehr schnell ein Vorgehen entwickelt, welches wie ein feststehendes und genormtes Verfahren das wissenschaftliche Tun bestimmte. Dabei geht es um eine Methodik, die mit dem Anspruch auftritt, in jedem Bereich wissenschaftlichen Forschens der passende Schlüssel zu sein. Sie versteht sich also wie ein Generalschlüssel. Dreh- und Angelpunkt sind das so genannte Operationalisieren und das Erfüllen einer (formallogisch) widerspruchsfreien Form des Schließens. Wenn dieser methodische Schlüssel zur Untersuchung einer Sache nicht passt, ging und geht man auch heute noch davon aus, dass es sich bei der Sache nicht um einen Gegenstand der Wissenschaft handelt (die Wissenschaft im engeren Sinne ist damit gemeint, die empirische Wissenschaft).

Die Methode funktioniert wie folgt:

(1.) Eine komplexe Frage wird (im Rahmen einer wissenschaftlichen Bearbeitung) so lange umgeformt, bis sie auf eine Aussage heruntergebrochen ist, in deren Mitte etwas Abzählbares steht.

(2.) Von der Form her muss die Aussage außerdem widerspruchsfrei sein, widerspruchsfrei im Sinne der formalen Logik Aussagenlogik).

(3.) Das Abgezählte wird in ein mathematisches Modell überführt und mit einem normierenden Modell verglichen (Beispiel: die konkrete Häufigkeitsverteilung mit der Normalverteilung = Glockenkurve).

(4.) Die Ergebnisse aus dem mathematischen Modellvergleich werden zurückübersetzt in die komplexe Frage des Anfangs, um die es in der Untersuchung geht.

Durch das Runterbrechen auf Aussagen, die im Kern etwas Abzählbares enthalten, zwingen wir die Zusammenhänge der von uns untersuchten „Natur“ in einfache, wiederholbare Muster hinein. Wenn es aber um die Natur der bildhaften Zusammenhänge geht, kann das verheerende Folgen haben. Aus dem Erleben eines „sich Öffnens“ kann dann z.B. eine Metapher werden, die zum Grundmuster eines Behälters gehört. Man stelle sich vor, es gehe um das „sich öffnen“ eines neuen Weges im Denken eines Menschen, der vielleicht sogar ein Rundweg ist, einer der wieder in sich zurücklaufen kann. Wie schnell wären wir hier durch das Operationalisieren zu einer Falschbeschreibung der tatsächlichen Verhältnisse „genötigt“, ohne davon im engeren Sinne etwas mitzubekommen. Das Beispiel geht auf eine Metaphernanalyse zurück, in der zum Zwecke der Abzählbarkeit alle Metaphern zur Beschreibung des Seelischen auf drei Grundmuster zurückgeführt werden mussten: der Behälter, die Verknüpfung und die Kraft. Man kann sich gut vorstellen, welche weitgehenden Vorannahmen mit diesem Grundmuster bereits vor jedem Abzählen über das Seelische getroffen sind. Das ist erschreckend, weil es hier vor dem Hintergrund eines vorzüglichen Beschreibens in Metaphern (also in Gleichnissen und Bildern) geschieht.

Provozierende Erfahrung am Gegenstand der modernen Psychologie

Seelische Prozesse sind motiviert durch Widersprüche. Freud machte über die ganzen Jahre seines psychologisch orientieren Forscherlebens hinweg ein einziges großes Experiment. Mit einem Verfahren, der „Psychoanalytischen Kur“ (und das war sein großes Labor), konnte er zeigen, dass seelische Widersprüche, wenn sie nicht zugelassen sondern in ihrer Existenz wie geleugnet behandelt wurden, zu Beeinträchtigungen mit Krankheitswert führten. Der Beweis war folgendermaßen aufgebaut: Wenn in der psychoanalytischen Kur die seelisch wirksamen Widersprüche ernst genommen und in dem gelebten Alltag ohne verleugnende Strategien einbezogen werden konnten, verschwanden die Merkwürdigkeiten und die sogenannten Störungen. Bestimmte Krankheiten erwiesen sich durch dieses Experiment als Symptom für eine nicht angemessen einbezogene Widersprüchlichkeit der seelischen Natur: Setzte die laufende Analyse die Widersprüche wieder in ihr angestammtes Recht zurück, verschwanden auch die Störungen.

Freud erforschte eine für die Wissenschaft bisher unbekannte Natur, die sich natürlich nicht mit der generalschlüsselartigen Methode erforschen ließ. Dennoch entwickelte er ein verantwortliches oder anders gesagt, ein „stimmiges“ Vorgehen. Dieses kann als Vorgestalt gesehen werden für eine neue und andere Art, wissenschaftlich mit den Dingen dieser besonderen Natur umzugehen. Seine besondere Leistung dabei bestand darin, alles, was ihn interessierte, in komplexen, bildhaften Zusammenhängen zu beschreiben. Das zeigt sich auch in seinen theoretischen Schriften für die er mit dem Goethepreis ausgezeichnet wurde.

Vorschläge für eine konsequente Hinwendung zu den Dingen

Wenn wir unsre Methoden an den Sachen selbst entwickeln und ausrichten wollen, müssen wir genau wissen was der Gegenstand unserer Wissenschaft ist. Wollen wir uns nicht hinter einer Methode verstecken, die mit dem Versprechen blendet, für alle Gegenstände der Wissenschaft gleichermaßen richtig zu sein, dann geht es nur auf diese Weise: Anschauen, was die eigene Sache ist und dann genau prüfen, was dieser Sache methodisch gerecht wird. Dabei geht es darum, eine Perspektive zu formulieren, die den Kern des eigenen wissenschaftlichen Tuns und Interesses heraushebt.

Für die Physik würde das bedeuten, dass sie sich als Wissenschaft von den  raumzeitlichen Zusammenhängen versteht. Auch Qualitäten wie z.B. die Wärme werden raumzeitlich beschrieben und als solche erforscht. Die Wärme hängt physikalisch von den raumzeitlichen Verhältnissen ab, und wird in der Physik auch auf diese hin und nicht anders etwa beschrieben: Also geht es bei dieser Qualität um die Bewegung der Moleküle, die an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit zu beobachten sind.

Für die Mathematik würde es bedeuten, dass sie sich als Wissenschaft von den formalisierenden Zusammenhängen versteht: Eine Vierfachheit z.B. ist für sie ein Zusammenhang formalisierender Art, in welchem die Wirklichkeit auf die inneren Verhältnisse einer Wiederholbarkeit hin beschrieben wird (z.B. wenn es darum geht, im Vierfachen das doppelte von einem Zweifachen zu sehen etc.)

Die Perspektive einer Wissenschaft beschreibt Zusammenhänge, die selbst wiederum unter sich  zusammenhängen und dabei Gesetzescharakter annehmen. In der Physik kennen wir z.B. das Gesetz der Energieerhaltung, oder das der zunehmenden Entropie. In der Mathematik kennen wir z.B. das Gesetz der Gruppe, dem zufolge vier Bedingungen erfüllt sein müssen damit ein System mit der Leistung gegeben ist, in sich Operationen mit Objekten zu erlauben.

Beide Methoden, die der Mathematik und die der Physik, haben ihr Eigenes, was sich nicht in die eine oder andere Richtung auflösen lässt. Weder ist die Mathematik die Quelle aus der das das raumzeitliche Geschehen entsteht, noch ist das Raumzeitliche der Ort, aus dem sich die formalisierenden Zusammenhänge zwingend „ableiten“ lassen. Sie stellen je eine eigene wissenschaftlich erschließbare Welt her, welche die Existenz der anderen überformt , ohne das die eine die wahre und die andere nur die abgeleitete sei. Wenn wir auf die eine statt die andere  Perspektive hin beschreiben, dann deshalb weil eine der Perspektiven für das interessierende Ereignis und seinen Zusammenhang die Führung hat.

Jede Wissenschaft, die von den Dingen her auf die Welt schaut, hat also einen eigenen Zugang zu der ganzen Wirklichkeit. Sie schneidet nichts ab von der Realität sonder nimmt alles und übersetzt es in ihre eigene Perspektive. Die so begründeten Wissenschaften überlappen sich daher mit anderen, ebenbürtigen Blicken auf die Wirklichkeit, aber keine dieser Wissenschaften ist eingelagert in der Perspektive einer anderen.

Daher müssen die Methoden des angemessenen Umgangs innerhalb dieser Wissenschaften auch an den Sachen selbst entwickelt werden und sollten nicht von draußen an die Zusammenhänge herangetragen werden. Dabei entstehen in Methode und Inhaltlichkeit parallele, eigene Welten.

Psychologie als die dritte im Bunde

In der Psychologie sehe ich eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit gefunden, die ebenso einen Blick auf das Ganze der Wirklichkeit wirft. Aber nur dann wenn wir ihren Gegenstand in den erlebbaren Zusammenhängen sehen.

Die gängige Festlegung der Psychologie auf das Erleben und Verhalten würde den Blick auf einen endlichen Phänomenbereich begrenzen so wie es in der Geographie, der Linguistik oder auch in der Musikwissenschaft z.B. gegeben ist. Die erlebbaren oder bildhaften Zusammenhänge stellen dagegen einen  perspektivischen Blick auf das Ganze der Wirklichkeit dar.

Erlebbare Zusammenhänge sind immer bildhafter Natur. Diese Feststellung erleichtert es das perspektivisch Ganze dieser Blickrichtung besser nachvollziehen zu können: Alles hat eine bildhafte, gleichnishafte Natur, auf die hin wir die Wirklichkeit beschreiben können, und zwar ohne dabei etwas auslassen zu müssen. Damit haben wir eine Perspektive in die hinein sich alles übersetzen lässt.

Wir können feststellen, dass sich nach fast 100 Jahren Erfahrungen unter einer Protoperspektive für diese gleichsam neue Wissenschaft, sich eigene Gesetzlichkeiten erkennen lassen (dabei geht es um Forschungen, die vor Allem auf das Verhalten und Erleben ausgerichtet waren und weniger auf die bildhaften Verhältnisse direkt). Dass es in dieser neuen Wissenschaft auch um ein eigenes Methodenbewusstsein zu gehen hat, davon ist bisher noch nicht so viel zu hören gewesen. In der bildanalytischen Psychologie z.B. ist schon ein Anfang gemacht.

Sicherheit im eigenen, wissenschaftlichen Handeln müssen wir wo anders finden als in dem Wissen darum, vermeintlich die wahre Methode, den Generalschlüssel für alles gefunden zu haben. Nach Ansicht der Bildanalytischen Psychologie geht es darum, den Stimmigkeitssinn  für eine wissenschaftliche Arbeit zu kultivieren: Stimmig muss das erklärende Bild am Ende einer Untersuchung sein und stimmig auch die Abstimmung der Schritte untereinander, in welchen das Befragen einer Wirklichkeit und das Modellbilden bei gleichzeitig laufender, gegenseitiger Korrektur stattfindet.

Einer so verstandenen neuen Wissenschaft und Psychologie (oder Bildanalytik) geht es darum, erlebbare Zusammenhänge als solche zu beschreiben, und nicht etwa als zeitlich- räumliche oder als formalisierende. Außerdem will sie Gesetze finden in ihren eigenen Zusammenhängen (Zusammenhänge zweiter Ordnung also), die nicht aus den raumzeitlichen oder formalisierenden Grundverhältnissen etwa abzuleiten sind. (Gestaltschließung, Verkehrung, Umstülpung oder Inversion von Verhältnissen etc.). Dabei ist klar, dass die erlebbaren Zusammenhänge z.B. auch immer in den raumzeitlichen Verhältnissen stattfinden und umgekehrt natürlich auch.

Die Zusammenhänge von Raum und Zeit z.B. haben dabei aber keine erklärende Wirkung, auf die Entwicklung und auf die Voraussagbarkeit des erlebbaren oder bildhaften Geschehens. Eine Beispiel: Jemand ärgert seinen Gegenüber. Für die Vorhersage und für ein Verstehen des Geschehens spielen die zeitlichräumlichen Verhältnisse hier kaum eine Rolle: Nicht wie oft hintereinander jemand etwas Böses sagt, „zählt“, sondern eher, welches Selbstbild vielleicht angegriffen wird und wie der Angriff genauer aussieht? Ist er direkt oder auf eine besonders raffinierte Weise vorgebracht, also indirekt. Was unterstellt der Angreifende genau und welche Bedeutung hat das für den Angegriffenen. Lässt der Angreifer ihm eine Chance, den Angriff abzuwehren. Lässt er ihn zu Wort kommen oder legt er sofort nach. Wie auch immer, das Raumzeitliche hat hier eine nur sehr marginale Bedeutung für ein Verständnis des Ärgerns – wie wir es uns gut denken können.

Bildanalytik als radikale Umkehr des Blickes (weg vom System hin zu den Dingen)

Das „Hin zu den Dingen“ und das Schauen von dem Ding aus auf das Ganze, das ist eine Forderung die von der neuen Wissenschaft der erlebbaren Zusammenhänge besonders deutlich vertreten wird. Das liegt daran, dass die bildhaften Zusammenhänge jeweils die Potenz in sich tragen, Gleichnis zu werden für die ganze Wirklichkeit und dass sie selber jeweils eine mögliche Perspektive auf das Ganze sind.

Jeder bildhafte, und das meint „jeder erlebbare“ Zusammenhang trägt die Potenz in sich, selbst zum Zentrum eines Verstehens zu werden und damit zu einer Interpretation der Dinge, eigentlich aller Dinge die sonst noch bestehen. Nehmen wir z.B. eine Tasse (sagen wir, eine Tasse, als Gebrauchsgegenstand verstanden), dann können wir in ihr ein Gleichnis sehen, was sich auch auf alles mögliche Andere wie eine Deutung desselben beziehen lässt. Das gelingt, weil auch die seelische Natur einer Tasse ein Bildverstehen hat, sich also nach einem Gleichnis oder Bild versteht.

Nehmen wir das Beispiel der Tasse, dann haben wir es mit einem „kleinen, raumschaffenden Aufschub zu tun, der sich uns innerhalb eines Übergangs, der auf Zufuhr ausgerichtet ist, anbietet. Gehen wir mit diesem Bild nun an die Wirklichkeit im Ganzen heran, dann können wir von ihm aus auch etwas über diesen Aufsatz (oder bildanalytischen Appetizer) sagen: Er bietet die Möglichkeit, in einem Prozess, in welchem es darum geht sich eine Vorstellung vom Denken der Bildanalytischen Psychologie zu machen, einen kleinen raumschaffenden Aufschub zu erhalten, der es erlaubt, erst einmal vorschmecken zu können, um sich in einem nachfolgenden, weiteren Zugreifen dann mit der interessierenden Materie auseinanderzusetzen. Wir haben also die Möglichkeit, es mit dem Aufsatz so zu halten wie es der Gebrauchsgegenstand Tasse mit dem Menschen und einem Getränk zu halten versteht. Denken wir nur an die Analogien zu der Möglichkeit, die eine Tasse bietet: ein Getränk kann auf eine annehmliche Weise zu sich genommen werden und das heißt mit einer bestimmten Kultur, nicht überstürzt sondern portioniert und mit einem eventuellen Hinzubringen bestimmter, dem individuellen Geschmack entsprechender Zutaten (Zucker, Milch o.ä.).

Das heißt: In einer derart konsequent verstandenen Wissenschaft der Psychologie oder Bildanalytik, werden die Dinge selbst zur Lehre. Die Tasse z.B. sagt uns von ihrer eigenen Natur ausgehend etwas über die Bedeutung dieses Appetizers aus, der von ihnen grade gelesen wird. Das erinnert an einen Satz, der Goethe zugeschrieben wird. „Die Phänomene selbst sind die Lehre“. Geht es bei Goethe aber wirklich darum? Schaut man sich die zugrunde liegende originale Aussage von Goethe an, bemerkt man gleich, dass hier die allgegenwärtige Ordnung der Natur gemeint ist mit ihren Grundgesetzen, die sich nach Goethes Denken, überall zum Erscheinen bringt –  und so auch an dem Ort des uns blau erscheinenden Himmels von dem Goethe in seinem Beispiel spricht: „Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“ Dieser letzte Teil des Satzes „Sie selbst sind die Lehre will eine Psychologie, welche die  erlebbaren Zusammenhänge zum Gegenstand hat aber ernst nehmen. Die Dinge als Bilder und Gleichnisse verstanden sind nicht nur Ausdruck VON einer Ordnung (Goethe wie auch im  Pantheismus z.B.) sondern auch Formel FÜR eine Ordnung und so versuchen sie sich auf alles Mögliche zu übertragen!

Dieses Denken finden wir in Nietzsches Formel vom „Wille zur Macht“ wieder, mit der er sagen will, dass alle Zusammenhänge Bild fürs Ganze werden wollen, dass eben alles den „Willen“ oder das Streben dazu hat. Nietzsche bringt diesen Gedanken in ein drastisches Bild, wenn er sagt [den Anhängern des Islam sei geraten, es nur als ein Gleichnis zu nehmen]: Gott sei tot, denn dieser habe sich totgelacht, weil ein anderen Gott aufgestanden sei und behauptet habe, dass er der EINE und Einzige sei.

Weniger ist mehr – aber es gelingt uns nicht immer…

Die Leidenschaft, „hin zu den Dingen“ lebt besonders in der Wissenschaft und Methode von den erlebbaren Zusammenhängen wieder auf. Natürlich gehört dazu auch die Bereitschaft, einem von der Wissenschaft in uns verwöhnten Sicherheitsbedürfnis und Anspruchsdenken entgegenzutreten, mit neuen Konzepten und einem mutigen „weniger ist mehr“. Und vielleicht ist mir der vorliegende Text, der ja eigentlich nur eine kleine bildanalytische Anregung sein sollte, aus einem ganz ähnlichen Grund etwas in die Länge geraten. ;-)