Der Körper als Wahrzeichen unserer Endlichkeit?

 

Wesentliche Phänomene unserer Körperwelt sind seit mehr als dreißig Jahren einem beunruhigenden Wandel ausgesetzt. Gesichtsplantationen, Geschlechtsumwandlungen, Eingriffe in die äußeren Konturen unserer Leiber. sogar das Clonen des Menschen ist möglich geworden – ist der Körper des modernen Menschen, wie Michela Marzano behauptet, zu einem risikoreichen Spielplatz unseres Willens geworden? Die seit 2010 an der Université Paris Descartes lehrende Moralphilosophin mit den Forschungsschwerpunkten ‚Menschlicher Körper und sein ethischer Status’, ‚Sexuelle Ethik’ und ‚medizinische Ethik’ wirft der abendländischen Philosophie vor, sie habe sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mit der Realität des Körpers nur aus sehr fragmentierten Perspektiven auseinandergesetzt. Erst die Phänomenologie (Jean-Paul Sarte „Das Sein und das Nichts“, Paris 1943) habe eine „echte Revolution“ eingeleitet, indem sie die klassische Sicht des Körpers einem Modell gegenüberstellt, das zwar noch instrumentale Ziele verfolge, aber die dualistische Betrachtung des Körpers überwinde.

Wie der zweipolige Status des menschlichen Körpers, begrifflich gefangen in seiner Existenz als materielles Objekt und als dessen Erscheinungsform, nach Marzano aufgelöst werden kann, erfolgt in fünf konzeptionellen Schritten. Der Dualismus und seine Etappen bilden den Auftakt, in dem die tradierten, philosophisch begründeten Vorstellungsinhalte vom Körper skizziert werden. Sie münden in die operativ durchgeführte Veränderung der Oberfläche eines obsoleten Körpers, der nach Orlan „eine neue Identität ausdrücken kann, der nicht mehr von den ‚Entscheidungen der Natur’ abhängt oder von denen des ‚Zufalls’“. (S. 34) Für die französische Konzept-Künstlerin Orlan, die sich zwischen 1990 und 1993  einer Reihe von Schönheitsoperationen unterzog, ist die Haut nach Ansicht von Marzano „nur ein Hindernis, das es aufzureißen gilt, um anderen Menschen den Zugang zu dem zu erlauben, das normalerweise nicht zu sehen ist.“ (S. 35) Doch Orlan ginge es nicht nur um das Niederreißen der Barrieren zwischen Innen- und Außenwelten. Ihr eigentliches Ziel sei, „nach der Dekonstruktion, die Rekonstruktion ihres Bildes und die Schaffung einer neuen Identität.“ (S. 37) Das damit verbundene Risiko definiert Marzano mit dem Verweis darauf, dass Orlan sich gegen die Diktatur der Gene wende und dem Glauben an deren Vorherbestimmtheit abschwöre. Andererseits pflege sie die Logik des „sowohl – als auch“, wonach eine Entscheidung auch reversibel sei. Eine weitere Implikation ihres waghalsigen Handelns bestehe in der Leugnung eines äußeren Spiegels, der durch ihren eigenen Blick ersetzt wird.

Die folgende historische Rückblende unter dem Titel ‚Vom Monismus zur Phänomenologie’ erfasst eingangs den metaphysischen Monismus Spinozas. Er betrachtete den Körper als komplexes, gut organisiertes Instrument, für das zum Beispiel der Affekt sich in einer sogleich körperlichen und psychischen Realität entfalte. Eine ganz andere Ausprägung fand der Körper des Menschen in der materialistisch ausgerichteten Philosophie von La Mettrie. In „L’homme-Machine“ (1747) wurden psychische Phänomene unter körperliche Prozesse subsumiert. La Mettrie sah sich nach Marzano als konsequenter Cartesianer, der den Descartes’schen Mechanismus folgerichtig zu Ende gedacht habe. Einen radikalen Bruch mit der philosophisch dualistischen Tradition von Körper und Seele habe Friedrich Nietzsche vollzogen, für den jede Erkenntnis von den Sinnen ausgehen müsse. Somit betrachtete er den lebendigen Leib als Ausgangspunkt für sein philosophisches Denken.

Parallel zur Entfaltung der Lebensphilosophie zeichnet Marzano die Entwicklung der Phrenologie nach, die am Ende des 19. Jahrhunderts erste Erfolge bei der Erforschung des Gehirns aufweisen konnte. Sie schlugen sich in den nobelpreiswürdigen Ergebnissen von Golgi und Cajal mit der Entdeckung der Zellen des Nervensystems nieder. Die Herausstellung der phänomenologischen Arbeiten von Edmund Husserl, der „eine wahrhafte Philosophie des Fleisches“(Marzano) entwarf, überrascht insofern, als er in seinen „Cartesianischen Meditationen“ das System des transzendentalen Idealismus in den Mittelpunkt seines Denkens stellt und ungeachtet dessen den Körper als Subjekt bewertete. Auf der Grundlage von Maurice Merleau-Pontys Vorstellung von der gegenseitigen Durchdringung von Körper und Welt und Emmanuel Levinas origineller Sicht auf den Körper als unablösbare Verbindung von Körperlichkeit und Affekten setzt sich Marzano mit Krankheit als Fehlfunktion des Körpers auseinander. Auf die damit aufgeworfene Frage nach der Reaktion des Körpers auf Transplantationen von Organen, die als Eindringlinge in den körperlichen Organismus die Suche des Ich nach Identität auslösen, antwortet die Autorin im dritten Kapitel. Es handelt sich dabei um die Stellung des Körpers zwischen Natur und Kultur, eine schwierige Positionsbestimmung, die Marzano so definiert: “Einerseits leben die Körper, sterben, essen, schlafen und empfinden Schmerz oder Freude, völlig unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Funktion. Andererseits sind sie Teil einer sozialen und kulturellen Wirklichkeit und ihre Bewegung wird nicht zuletzt von Erziehung und Gesellschaft bestimmt.“ (S. 81) Wesentliche Einflüsse auf die theoretische Festlegung des Körpers erzielte der Konstruktivismus durch die Arbeiten von Michel Foucault, der den Körper als Text definierte, und durch Donna Haraway, die in ihrem „Manifest für Cyborgs“ (Frankfurt a.M. 1995) den Körper als Hybride von Maschine und Organismus sieht, die das Geschlecht transzendierend den Text aller beherrschten, ausgebeuteten „Natur“-Körper neu schreibe. Solche immaterielle Kunstwesen sind seit den späten 1970er Jahren auch in Spielfilmen von David Cronenberg („u.a. “Spider“, „Parasiten-Mörder“) als transformierte Körper präsent. Die sich verschärfende theoretische Debatte zwischen Reduktionisten (Mensch als Naturwesen) und Konstruktivisten (Mensch als Konstrukt der Kultur) beleuchtet Marzano am Beispiel von Sexus und Gender, um mit Verweisen auf Judith Butlers These vom aufgezwungenen Geschlecht und Teresa de Lauretis’ queer theory – als Dekonstruktion des Systems vom biologischen bzw. sozialen Geschlecht – das am Ende des 20. Jahrhunderts breite Spektrum von Körperdefinitionen zu erläutern.

Und der Körper als Wahrzeichen unserer Endlichkeit? Die Reduktion des Menschen auf seinen Körper gehört für Marzano zu „den dunklen Seiten der Materie“. Sie sind auch verbunden mit den Vorstellungen von Abschaum und Unreinheit, die sadistische Einzeltäter wie auch rassistische und terroristische Regime zur Unterwerfung ihrer Opfer unter ihre Menschen und Rassen auslöschende Ziele stellen. Mit Begriffen wie Auslöschung der Identität, Qual des Daseins, eisiger Blick und zerstückelte Körper umreißt die Philosophin die Auswirkungen des körperlichen und psychischen Martyriums, dem Millionen von Menschen während des nationalsozialistischen Terrorregimes ausgesetzt waren.

Das abschließende Kapitel ist dem sicherlich kompliziertesten Bereich menschlicher Existenz gewidmet: der Sexualität und der Subjektivität. Es mündet in die an Sigmund Freud orientierte psychoanalytische Bewertung des menschlichen Begehrens, „das uns begrifflich macht, was es heißt, auf die Antwort des Anderen zu warten und dabei im Körper dieses tiefe Gefühl des Unvollständigeins und der Ohnmacht zu empfinden.“ (S. 115) Marzano gelingt es, ausgehend von der tradierten Vorstellung einer herrschaftlichen Objektivierung im Umgang mit dem/der Anderen – dem Objekt der Begierde –  ein intersubjektives Beziehungsgefüge zu schaffen, in dem die Nacktheit, die Preisgabe des Körpers zu einer gegenseitigen Anerkennung führen kann. Vorausgesetzt, die an diesem sexuellen Verhältnis Beteiligten sind sich ihres doppelten Empfindens bewusst: dem Lustgewinn und ihrer Verlorenheit.

Wie unauslotbar dieses Wechselverhältnis ist, verdeutlichen nicht nur ihre abschließenden Ausführungen zu Entfremdung und gegenseitiger Achtung, in denen die Ängste der Sexualpartner in der ständigen Dialektik zwischen Haben und Nicht-Haben virulent werden. Ganz zu schweigen von den homosexuellen und transsexuellen Beziehungsfeldern, auf die sich Michela Marzano (noch) nicht hinauswagt. Fußend auf ihren tradierten psychonalytisch und phänomenologisch verankerten Betrachtungen, legt sie mit ihrer historisch argumentierenden, hochsensiblen Bewertung der gegenwärtigen körperlichen Transformationen ein in jeglicher Hinsicht verständliches und spannendes Werk über unseren Körper vor. Dabei verbindet sie hochkomplexe theoretische Konstrukte mit empirischen Fakten und poetischen Visionen.

 

 

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Philosophie des Körpers von Michela Marzano, aus dem Französischen von Elisabeth Liebl. München (Diederichs) 2012. 142 S., 16,99 €. ISBN 978-3-424-35080-7.