Poetische Materialisten

Aber ist es denn einerlei, die oder der Natur nachzuahmen, und ist Wiederholen Nachahmen?

Eigentlich hat der Grundsatz, die Natur treu zu kopieren, kaum einen Sinn. Da es nämlich unmöglich ist, ihre Individualität durch irgendein Nachbild zu erschöpfen; da folglich das letzte allezeit zwischen Zügen, die es wegzulassen, und solchen, die es aufzunehmen hat, auswählen muß: so geht die Frage der Nachahmung in die neue über, nach welchem Gesetze, an welcher Hand die Natur sich in das Gebiet der Poesie erhebe.

Der gemeinste Nachdrucker der Wirklichkeit bekennt doch, daß die Weltgeschichte noch keine Epopöe sei – obgleich in einem höhern Sinne wohl –, daß ein wahrer guter Liebesbrief noch in keinen Roman sich schicke – und daß ein Unterschied sei zwischen den Landschaftgemälden des Dichters und zwischen den Auen- und Höhen-Vermessungen des Reisebeschreibers. – Wir führen alle bei Gelegenheit leicht unser ordentliches Gespräch mit Nebenmenschen; gleichwohl ist nichts seltener als ein Schriftsteller, der einen lebendigen Dialog schreiben kann. Warum ist ein Lager noch kein Wallensteinisches von Schiller, das doch vor einem wirklichen wenigstens nicht den Reiz der Ganzheit voraushat?

Hermes‚ Romane besitzen beinahe alles, was man zu einem poetischen Körper fordert, Weltkenntnis, Wahrheit, Einbildungkraft, Form, Zartsinn, Sprache; da aber ihnen der poetische Geist fehlt, so sind sie die besten Romane gegen Romane und gegen deren zufälliges Gift; man muß sehr viel Geld in Banken und im Hause haben, um die Dürftigkeit, wenn sie in seinen Werken gedruckt vorkommt, lachend auszuhalten. Allein das ist eben unpoetisch. Ungleich der Wirklichkeit, die ihre prosaische Gerechtigkeit und ihre Blumen in unendlichen Räumen und Zeiten austeilet, muß eben die Poesie in geschlossenen beglücken; sie ist die einzige Friedengöttin der Erde und der Engel, der uns, und wär‘ es nur auf Stunden, aus Kerkern auf Sterne führt; wie Achilles‘ Lanze muß sie jede Wunde heilen, die sie sticht. Gäbe es denn sonst etwas Gefährlicheres als einen Poeten, wenn dieser unsere Wirklichkeit noch vollends mit seiner und uns also mit einem eingekerkerten Kerker umschlösse? Sogar der Zweck sittlicher Bildung, den sich der ebengenannte Romanprediger Hermes vorsetzt, wird, da er ihm mit einem widerdichterischen Geiste nachsetzt, nicht nur verfehlt, sondern sogar gefährdet und untergraben (z.B. im Romane für Töchter edler Herkunft und in der Foltergeschichte des widerlichen moralischen Selbst-Kerkermeisters Herr Kerker).

Gleichwohl bereitet auch der falsche Nachstich der Wirklichkeit einige Lust, teils weil er belehrt, teils weil der Mensch so gern seinen Zustand zu Papier gebracht und ihn aus der verworrenen persönlichen Nähe in die deutlichere objektive Ferne geschoben sieht. Man nehme den Lebentag eines Menschen ganz treu, ohne Farbenmuscheln, nur mit dem Dintenfasse zu Protokoll und lasse ihn den Tag wieder lesen: so wird er ihn billigen und sich wie von lauen linden Wellen umkräuselt verspüren. Sogar einen fremden Lebentag heißet er eben darum gut im Gedicht. Keinen wirklichen Charakter kann der Dichter – auch der komische – aus der Natur annehmen, ohne ihn, wie der Jüngste Tag die Lebendigen, zu verwandeln für Hölle oder Himmel. Gesetzt, irgendein wild und weltfremder Charakter existierte, als der einzige, ohne irgendeine symbolische Ähnlichkeit mit andern Menschen: so könnt‘ ihn kein Dichter gebrauchen und abzeichnen.

Auch die humoristischen Charaktere Shakespeares sind allgemeine, symbolische, nur aber in die Verkröpfungen und Wülste des Humors gesteckt.

Man erlaube mir noch einige Beispiele von unpoetischen Repetierwerken der großen Weltuhr. »Brockes irdisches Vergnügen in Gott« ist eine so treue dunkle Kammer der äußerlichen Natur, daß ein wahrer Dichter sie wie einen Reisebeschreiber der Alpen, ja wie die Natur selber benutzen kann; er kann nämlich unter den umhergeworfenen Farbenkörnern wählen und sie zu einem Gemälde verreiben. – Die dreimal aufgelegte Luciniade von Lacombe, welche die Geburthelferkunst (welch ein Gegen- oder Widerstand für die Poesie!) besingt, so wie die meisten Lehrgedichte, welche uns ihren zerhackten Gegenstand Glied für Glied, obwohl jedes in einige poetische Goldflittern gewickelt, zuzählen, zeigen, wie weit prosaische Nachäffung der Natur abstehe von poetischer Nachahmung. –

Am ekelsten aber tritt diese Geistlosigkeit im Komischen vor. Im Epos, im Trauerspiel versteckt sich wenigstens oft die Kleinheit des Dichters hinter die Höhe seines Stoffs, da große Gegenstände schon sogar in der Wirklichkeit den Zuschauer poetisch anregen – daher Jünglinge gern mit Italien, Griechenland, Ermordungen, Helden, Unsterblichkeit, fürchterlichem Jammer und dergleichen anfangen, wie Schauspieler mit Tyrannen –; aber im Komischen entblößet die Niedrigkeit des Stoffs den ganzen Zwerg von Dichter, wenn er einer ist.13 An den deutschen Lustspielen – man sehe die widrigen Proben, noch dazu der bessern, von Krüger, Gellert und andern in Eschenburgs Beispielsammlung – zeigt der Grundsatz der bloßen Natur-Nachäffung die ganze Kraft seiner Gemeinheit. Es ist die Frage, ob die Deutschen noch ein ganzes Lustspiel haben, und nicht bloß einige Akte. Die Franzosen erscheinen uns daran reicher; aber hier wirkt Täuschung mit, weil fremde Narren und fremder Pöbel an sich, ohne den Dichter, einige poetische Ungemeinheit vorspiegeln.

– Die Briten hingegen sind reicher – obgleich derselbe ideale Trug der Auslandschaft mitwirkt; und ein einziges Buch könnte uns von der Wahrheit überführen. Nämlich Wallstaffs polite Gespräche von Swift malen bis zur Treue – die nur in Swifts parodierendem Geiste sich genial widerspiegelt – Englands Honoratioren gerade so gemeingeistlos ab, wie in den deutschen Lustspielen unsere auftreten; da nun aber diese Langweiligen nie in den englischen erscheinen: so sind folglich über dem Meere weniger die Narren als vielmehr die Lustspielschreiber geistreicher als bei uns. Das Feld der Wirklichkeit ist eben ein in Felder geschachtes Brett, auf welchem der Autor so gut die gemeine polnische Dame als das königliche Schachspiel, sobald er in einem Falle nur Steine, und im andern Figuren und Kunst, spielen kann. Wie wenig Dichtung ein Kopierbuch des Naturbuchs sei, ersieht man am besten an den Jünglingen, die gerade dann die Sprache der Gefühle am schlechtesten reden, wenn diese in ihnen regieren und schreien, und welchen das zu starke Wasser das poetische Mühlenwerk gerade hemmt und nicht treibt, indes sie nach der falschen Maxime der Natur-Affen ja nichts brauchten, als nachzuschreiben, was ihnen vorgesprochen wird. Keine Hand kann den poetischen, lyrischen Pinsel fest halten und führen, in welcher der Fieberpuls der Leidenschaft schlägt. Der bloße Unwille macht zwar Verse, aber nicht die besten; selber die Satire wird durch Milde schärfer als durch Zorn, so wie Essig durch süße Rosinenstiele stärker säuert, durch bittern Hopfen aber umschlägt.

Weder der Stoff der Natur, noch weniger deren Form ist dem Dichter roh brauchbar. Die Nachahmung des erstern setzt ein höheres Prinzip voraus; denn jedem Menschen erscheint eine andere Natur; und es kommt nun darauf an, welchem die schönste erscheint. Die Natur ist für den Menschen in ewiger Menschwerdung begriffen, bis sogar auf ihre Gestalt; die Sonne hat für ihn ein Vollgesicht, der halbe Mond ein Halbgesicht, die Sterne doch Augen, alles lebt den Lebendigen; und es gibt im Universum nur Schein-Leichen, nicht Schein-Leben. Allein das ist eben der prosaische und poetische Unterschied oder die Frage, welche Seele die Natur beseele, ob ein Sklavenkapitän oder ein Homer.

In Rücksicht der nachzuahmenden Form stehen die poetischen Materialisten im ewigen Widerspruch mit sich und der Kunst und der Natur; und bloß, weil sie halb nicht wissen, was sie haben wollen, wissen sie folglich halb, was sie wollen. Denn sie erlauben wirklich den Versfuß auch in größter und jeder Leidenschaft (was allein schon wieder ein Prinzip für das Nachahm-Prinzip festsetzt) – und im Sturme des Affekts höchsten Wohllaut und einigen starken Bilderglanz der Sprache (wie stark aber, kommt auf Willkür der Rezension an) – ferner die Verkürzungen der Zeiten (doch mit Vorbehalt gewisser, d.h. ungewisser Rücksicht auf nachzuahmende Natur) – dann die Götter und Wunder des Epos und der Oper – die heidnische Götterlehre mitten in der jetzigen Götterdämmerung – im Homer die langen Mordpredigten der Helden vor dem Morde – im Komischen die Parodie, obgleich bis zum Unsinn – in Don Quixote einen romantischen Wahnsinn, der unmöglich ist – in Sterne das kecke Eingreifen der Gegenwart in seine Selbstgespräche – in Thümmel und andern den Eintritt von Oden ins Gespräch und noch das übrige Zahllose. Aber ist es dann nicht ebenso schreiend – als mitten ins Singen zu reden –, gleichwohl in solche poetische Freiheiten die prosaische Leibeigenschaft der bloßen Nachahmung einzuführen und gleichsam im Universum Fruchtsperre und Warenverbote auszuschreiben? Ich meine, widerspricht man denn nicht sich und eignen Erlaubnissen und dem Schönen, wenn man dennoch in dieses sonnentrunkne Wunder-Reich, worin Göttergestalten aufrecht und selig gehen, über welches keine schwere Erden-Sonne scheint, wo leichtere Zeiten fliegen und andere Sprachen herrschen, wo es, wie hinter dem Leben, keinen rechten Schmerz mehr gibt, wenn in diese verklärte Welt die Wilden der Leidenschaft aussteigen sollten, mit dem rohen Schrei des Jubels und der Qual, wenn jede Blume darin so langsam und unter so vielem Grase wachsen müßte als auf der trägen Welt, wenn die Eisen-Räder und Eisen-Achse der schweren Geschicht und Säkular-Uhr, statt der himmlischen Blumen-Uhr, die nur auf- und zuquillt und immer duftet, die Zeit länger mäße anstatt kürzer?

Denn wie das organische Reich das mechanische aufgreift, umgestaltet und beherrschet und knüpft, so übt die poetische Welt dieselbe Kraft an der wirklichen und das Geisterreich am Körperreich. Daher wundert uns in der Poesie nicht ein Wunder, sondern es gibt da keines, ausgenommen die Gemeinheit. Daher ist – bei gleichgesetzter Vortrefflichkeit – die poetische Stimmung auf derselben Höhe, ob sie ein echtes Lustspiel oder ein echtes Trauerspiel, sogar dieses mit romantischen Wundern auftut; und Wallensteins Träume geben dichterisch in nichts den Visionen der Jungfrau von Orleans nach. Daher darf nie der höchste Schmerz, nie der höchste Himmel des Affekts sich so auf der Bühne äußern wie etwan in der ersten besten Loge, nämlich nie so einsilbig und arm. Ich meine dies: immer lassen die französischen und häufig die deutschen Tragiker die Windstöße der Affekten kommen und entweder sagen: o ciel, oder mon dieu, oder o dieux, oder hélas, oder gar nichts, oder, was dasselbe ist, eine Ohnmacht fällt ein. Aber ganz unpoetisch! Der Natur und Wahrheit gemäßer ist gewiß nichts als eben diese einsilbige Ohnmacht. Nur wäre auf diese Weise nichts lustiger zu malen als gerade das Schwerste; und der Abgrund und der Gipfel des Innersten ließen sich viel heller und leichter aufdecken als die Stufen dazu.

Allein da die Poesie gerade an die einsame Seele, die wie ein geborstenes Herz sich in dunkles Blut verbirgt, näher dringen und das leise Wort vernehmen kann, womit jede ihr unendliches Weh ausspricht oder ihr Wohl: so sei sie ein Shakespeare und bringe uns das Wort. Die eigne Stimme, welche der Mensch selber im Brausen der Leidenschaft betäubt verhört, entwische der Poesie so wenig als einer höchsten Gottheit der stummste Seufzer. Gibt es denn nicht Nachrichten, welche uns nur auf Dichter-Flügeln kommen können; gibt es nicht eine Natur, welche nur dann ist, wenn der Mensch nicht ist, und die er antizipiert? Wenn z.B. der Sterbende schon in jene finstere Wüste allein hingelegt ist, um welche die Lebendigen ferne, am Horizont, wie tiefe Wölkchen, wie eingesunkne Lichter stehen, und er in der Wüste einsam lebt und stirbt: dann erfahren wir nichts von seinen letzten Gedanken und Erscheinungen – – Aber die Poesie zieht wie ein weißer Strahl in die tiefe Wüste, und wir sehen in die letzte Stunde des Einsamen hinein.

 

 

 

Jean Paul, Gemälde von Heinrich Pfenninger, 1798

Weiterführend → 

Lesen Sie sowohl den Essay über Jean Paul auf KUNO, als auch feinstes Rezensionsfeuilleton von Wolfgang Schlott.

Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.