Wo Lampenfieber erwartet wird, wird der Frage danach in den meisten Fällen stattgegeben. Natürlich sei man aufgeregt, verkünden Starlets auf flimmernden Bildschirmen, das gehöre einfach dazu. Interviews backstage, gefilmte Rituale, die Offenbarung von Aberglauben in Form von Mineralsteinen und Plüschtieren, dazu Schweißhände, erhöhter Puls, Irritation der Blase oder des Darms, vermitteln dem nicht beteiligten Zuschauer das Gefühl von einem intimen Hintergrundbericht. Die Aufgeregtheit, Vorfreude, Spannung, das Bewusstsein der unausweichlichen Situation, bevor es losgeht – fühlbare Sinnbilder und enthüllende Symbole für Lampenfieber. Das verbalisierte Thema vermittelt eine Nähe, die subjektiver nicht sein kann. Das Subjektive, dazu in der Reflexion über das Selbsterlebnis, ist wohl noch verstärkt und erhöht, wenn die Empathie eines verständnisvollen und offenen Geistes zweifellos gegeben ist und dieser bestätigt, das Erlebte nachfühlen zu können. Die Abhandlung über das Thema sagt mehr aus über den Fragesteller und den voyeuristischen Interessierten als sie an Information oder Anteilnahme hergibt. Der Befragte selbst wird darin entblößt, dass er die gängige Frage nach dem Lampenfieber überhaupt stellt. Je mehr er sich darauf versteift, desto mehr rückt er den Fokus auf das Lampenfieber, das zunächst wie ein abstraktes Konstrukt daherkommt. Doch der Fokus auf dem Lampenfieber bedeutet alsbald den Fokus auf denjenigen, der das Lampenfieber im Geiste miterlebt, beziehungsweise mitzuerleben anstrebt.
Er gibt so der Erwartung des Außenstehenden viel Gewicht und schmeichelt in dieser Situation beiden Parteien, dem Fragenden und dem Befragten. Dabei entfernt er sich vom Eigentlichen. Nehmen wir das Beispiel eines Musikers und einem Konzert. Der Musiker ist zunächst Subjekt [oder Subjekt A], der als solcher die Bühne betritt und später verlässt. Während er sich jedoch auf der Bühne der Musik hingibt, transformiert er in die Musik. Er tut dies so sehr, sodass er dadurch im optimalen Fall zum Objekt A wird. Er verschwindet hinter der Musik, gibt ihr Vorrang und Raum. Er vergisst sein Subjekt, wird somit als Objekt A zum Werkzeug und setzt sich einer größeren Macht aus. Die hier übergeordnete Musik selbst ist von vornherein Objekt B, das der Umwandlung des Subjekts ins Objekt A bedarf. Objekt B, die Musik, benötigt die vollen 100% des Objekts A, der Transformation, beziehungsweise dieses, 100% des Subjekts. Die Existenz des Lampenfiebers indes, wohnt im Subjekt (nicht im Objekt) inne, das die Konzentration zurück auf sein Subjekt lenkt. Der Energiefluss ist hier in rein reflexiver Form gegeben: Das Subjekt in der Betrachtung des Subjekts. Die Möglichkeit jedoch, sich in Objekt A zu versetzen, schmälert das selbstreflexive Empfinden nicht nur, sondern blendet es sogar aus. Was wiederum den Effekt hat, dass das Lampenfieber in dem Moment nicht gespürt wird. Denn weder Objekt A noch Objekt B können gleichzeitig zu 100% mit dem Subjekt existieren, wenn dieses ebenfalls zu 100% zugegen ist. Objekt A ist die Umwandlung des Subjekts. Hat diese Umwandlung stattgefunden, hat sich auch das allfällige Lampenfieber transformiert und ist mit der Umwandlung über Objekt A ins Objekt B sodann wieder verschwunden.
Das Lampenfieber ist eine vergängliche und unter Umständen nur kurzweilige Angelegenheit, die potentiell jeden ergreifen kann, solange dieser es zulässt und somit nicht dazu in der Lage ist, ganz ins Objekt B zu transformieren. Sich vom Subjektiven ins Objektive zu bewegen, ist Subjekts Entscheidung und bestimmt schiebt das eine oder andere Subjekt den Wechsel absichtlich auf die allerletzte Sekunde hinaus, um dadurch seinem Körper besonders viele Stresshormone abzuverlangen. Adrenalin als Kick, der zur Wachheit und Klarheit verhilft, welcher der Garant dafür sein kann, dass man die Mittel alle präsent hat, wenn das Objektive ins Zentrum rückt und das Sein anstrebt.
Die Umwandlung ins Objekt A verlangt dem Subjekt ab, dass er sich dem Objekt A im Optimum maximal hingibt, und wenn nicht natürlich, dann mit aller Konzentration, Kraft und Vertrauen. Wenn das Subjekt dazu nicht imstande ist, beziehungsweise, wenn einer der genannten Faktoren nicht ganz ausgeschöpft wird oder gänzlich wegbleibt, wird auch Objekt B nicht zum Vollen ausgeschöpft sein können. Da es sich hier um eine äußerst subtile und delikate Beziehungsform handelt, die sich vor allem zwischen den drei Elementen Subjekt, Objekt A und Objekt B, abspielt, wird es der Rezipient, also der außenstehende Zuhörer, der Qualität, hier am Beispiel Musiker, der Musik nicht anmerken, wann das eine Element ins nächste transformiert ist, sofern ein bestimmtes Qualitätsmaß ohnehin gegeben ist. Sogar der berühmte Funke wird sich einstellen und auf den Rezipienten hinüberspringen können – vor allem dann, wenn dieser nicht neutral zugegen ist, sondern sich emotional absichtlich darauf einstellt, dass ihn die Magie erreicht – selbst dann, wenn der Funke zwischen dem Machenden und dem Gemachten, also zwischen Objekt A und Objekt B ausbleibt.
Aber nur im Falle der absoluten Harmonie wird jene wahre Kraft mit Suchtpotential wachgerufen, die sich weder über das Prädikat genügend definiert, noch über den Willen eines Außenstehenden. Die wahre Kraft aus der Sache heraus wird in einem möglichst ungebrochenen Flusslauf zum allerharmonischsten Erlebnis führen. Ob auf aktiver oder passiver Ebene bleibt das, was den zauberhaften Komplott ausmacht unvergessen, wenn dem Objekt B alle Potentialität gegeben ist, um in seiner Ganzheit zu strahlen. Gibt sich das Subjekt als Subjekt auf, erblindet es sozusagen in seinem Sehvermögen, wird aber sodann über das Objekt A (schärfend) sehend und über Objekt B erkennend. Das Subjekt benötigt das Objekt B nicht nur als Vision und Zielrichtung, sondern um als Subjekt auf der Bühne weder austauschbar zu sein, noch um als Subjekt die jahrzehntelange Disziplin, Enttäuschung bis zur Frustgrenze, die das Musizieren mit sich bringt, allzu deutlich zu offenbaren. Ins Gewand des Objekts A geschlüpft, gelingt dies einfacher und ebnet den Weg zum Objekt B.
Man könnte es auch wie folgt betrachten: Subjekt als Haben, Objekt A als potentielles Vor-Sein, Objekt B als absolutes Ist-Sein. Bezogen auf das Lampenfieber, so ist dieses ein erster Störfaktor, der in die unbedingte Harmonie eingreift und sie gefährdet, wenn es nicht rechtzeitig verschwindet, beziehungsweise, wenn es dem Subjekt nicht gelingt, das Lampenfieber abzustellen. Der Diskurs über das Lampenfieber stellt eine unnötige und damit irrelevante Ebene dar, behindert, um nicht zu sagen verunmöglicht die Sache Objekt B, da es eine subjektive Sprache spricht. Lampenfieber zur Debatte macht ferner die Angelegenheit weder ernster noch aufregender. Noch weniger erklärt es das Resultat. Objekt B verhält sich sächlich, strebt nach der schönsten und harmonischsten Entfaltungsform. Das Lampenfieber als Sekundärthema neben dem eigentlichen Thema, ist ein Blick in die entgegengesetzte Richtung und gibt sich zudem vermeintlich persönlich und nahbar. Es vermittelt dem Außenstehenden den Eindruck, sein eigenes Subjekt eingebracht zu haben und in dieser Beziehung behält er sogar Recht, da ein solcher Dialog zwischen Subjekt 1 (interessierter Außenstehender) und Subjekt 2 (ausübender Musiker) stattfindet. Im schlimmsten Fall zieht Subjekt 1 dem Subjekt 2 die Energie ab, welche nichts als dem Ego dienlich ist. Wenn die Energie jedoch vermindert wird oder ganz abhandenkommt, steht sie Objekt B konsequenterweise nicht mehr im selben Ausmaß zur Verfügung.
Ob es an ihrer Größe liegt oder an jahrelanger Erfahrung: Fakt ist, die sogenannten „ganz Großen“ lassen sich auf das Thema Lampenfieber, wenn überhaupt, nur selten ein, und auch werden sie in diesem Zusammenhang weniger angesprochen, da man bei ihnen möglicherweise eine gewisse Lampenfieberroutine vermutet. Vor ihren Auftritten sind sie oft von unbekümmerter Sachlichkeit und innerer Ruhe, um auf der Bühne dem Eigentlichen im Nu zu Diensten zu sein, ihr Werkzeug perfekt beherrschend und der Sache direkt zugewandt. Kurz und gut; das Ergebnis auf den Punkt bringend. Ein solcher Künstler vermag auch über das Werk oder Werkdokument hinaus zu vermitteln, betreibt aber weder „l’art pour l’art Spiele“ noch stellt er je sein Subjekt über die Sache. Obzwar die Sache ohne Subjekt zweifellos kaum je sein kann, darf sie gleichwohl nicht nur aus subjektiven Teilen bestehen, wenn sie groß sein möchte. Mit diesen ungetrübten Voraussetzungen erfüllen solche Künstler die Erwartung der Zuhörer mit Leichtigkeit und scheinbar ohne Kraftaufwand. Sie wissen für das Werk die Harmonie zwischen den Elementen bestens und in ökonomischer Eleganz und Präzision herzustellen und durch die unmerkliche Transformation, alles in Bewegung, ergo, lebendig zu halten. Sie lassen sich ungetrübt und wörtlich auf das Spiel ein. Dass es nicht an ihrem Alter und damit bedingter Gelassenheit liegt, erkennt man an der Frische und am Fluss ihrer Kunst. Das Inspirierende entfaltet sich und lebt in der Sache auf. Das einzelne Subjekt ist bloß vordergründig der Hauptakteur. Er ist temporärer Träger. Er empfängt die äußeren Eindrücke, überträgt seine eigenen Impressionen, gibt über das Werk unbewusste Bruchstücke dieser Reise weiter. Es bleibt offen, inwieweit das einzelne Subjekt mit all seinen Beweggründen und Erregungen die Sache formt und nach und nach verändert oder ob der kürzeste Weg mit dem geringsten Widerstand der Sache am allerdienlichsten ist. Sprich, die relativ unmittelbare Umwandlung von Subjekt ins Objekt A, dann ins Objekt B und dem Thema Lampenfieber nur am Rande, wenn überhaupt, einen Platz eingeräumt.
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Der Faden im Kopf, Aufsätze und Reflexionen von Joanna Lisiak, 2018, mit Illustrationen von Barbara Balzan 236 Seiten, isbn 978-3-74816-716-7
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Holger Benkel schrieb einen Rezensionsessay über „Der Faden im Kopf„. Lesenswert ist gleichfalls das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verlieh der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.