Der Faden im Kopf

 

Irgendwann, ganz für mich war das, überkam mich der Gedanke, was wenn doch. Was, wenn all die Ideen, die in meiner Inspirations-Box liegen, doch eines Tages verwirklicht werden? Was, wenn ich die Schachtel einmal ganz bewusst öffne und alles materialisiere, was bisher nur als Entwurf, in Form einer Ideenskizze jahrelang auf dem Papier lag. Eine Bastel-Beschäftigung kam nicht in Frage. Wenn, dann dachte ich spitzbübisch, dann gleich eine Ausstellung! Gedanken flogen durcheinander und in meiner kleinen Anwandlung von Größenwahn und Vorfreude, entstand sofort ein Ausstellungstitel: „Dinge“. So banal wie eindeutig und klar. Ich schrieb „Dinge“ auf ein Blatt Papier, legte es in die Box und klappte sie zufrieden zu. Irgendwann, irgendwann.

Ich habe unzählige von solchen Schachteln mit Dingen, Notizen, Ideen, die irgendwann, irgendwann. Eine Schachtel mit kaputten und einzelnen Schmuckstücken, die zu wertvoll oder zu schön sind, um weggeworfen zu werden, die aber noch repariert werden müssen oder aus denen etwas Neues entstehen soll. Manchmal wünsche ich mir, die Schachtel jemanden, der Interesse haben könnte, auszuhändigen mit Lieferschein, und ein paar Monate später, alles geflickt zurück zu erhalten. Ich habe auch eine Schublade, die eine Art große Schachtel darstellt. Sie ist voll von Stoffen, aus denen man wunderbare Sachen nähen könnte: schicke Innenfutter meiner Übergangsmäntel, Kissen, Tischsets, aparte Gürtel oder Foulards. Auch hier wäre ein kleines Schneiderlein, das meinen Weg kreuzte, von großem Vorteil.

Es gibt Schachteln bei mir mit Kochrezepten, Schachteln mit Reisezielen, solche mit Hotelund Restauranttipps, unzählige Schachteln mit literarischen Ideen. Eine Schachtel ist besonders hoffnungsvoll, da sie einzelne Socken birgt, die vermutlich bis an ihr Ende alleine bleiben werden. Doch bevor ich diese Socken endgültig wegwerfe, möchte ich mich noch einmal vergewissern, ob man nicht doch noch Paare bilden könnte. So das Vorhaben, das einer Extrazeit bedarf, die ich so selten habe. Denn fürwahr habe ich stets Wichtigeres zu tun, als in ollen Socken zu wühlen. Es ist nicht etwa eine Ausprägung von extremer Sparsamkeit, der dieser Schachtel eine Existenzberechtigung gibt, vielmehr treibt mich ein gewisses Prinzip in das System des Sammelns, Ordnens und Aussortierens, und dass es auch Socken in meinem Haushalt gibt, liegt in der Natur der Sache.

Ich bin sicher, dass in fast jeder Wohnung solche Kumulierungen von Dingen vorhanden sind. Irgendwann, irgendwann und vielleicht irgendwer. Möglicherweise könnte man ins Geschäft kommen mit all jenen Leuten, die nicht über solche Umstände verfügen, jedoch viel Zeit vorrätig haben und sie dann das erledigen lassen, was man selbst nicht schafft. Denn diese Schachteln haben die Angewohnheit sich zu mehren und zu wachsen, im Status allerdings pendent zu bleiben. Irgendwann eben.

Erbte jemand diese Schachteln von mir, er müsste sie zu dekodieren wissen. Jede Schachtel verlangt eine andere Sprache und birgt Schätze, die ungeschliffenen Diamanten gleichkommen. Ein Stein ohne Fassung ist noch kein Schmuckanhänger und solange er nicht an meinem Hals baumelt, ist er höchstens der Appetit, den ich auf dieses Schmuckstück habe. Ich habe nicht immer Lust darauf. Manchmal habe ich überhaupt keinen Hunger und manchmal, da versuche ich aus dem Stein ganz andere Dinge zu kreieren, als diejenigen, die sich vordergründig anbieten. Man nennt das Kopfgeburten und manche davon wandern über auf Papier. Das nennt man Skizzen.

Skizzen sind eine schöne Sache. Eine Skizze verbindet mich auch ohne Elaborate mit allen anderen Skizzenmachern dieser Welt. Von Leonardo da Vinci mit seinen kühnen Maschinenentwürfen bis Otto Müller, der eine Zeichnung vom Regal anfertigt, bevor er die Säge ansetzt. Eine Skizze ist mehr als die Möglichkeit und Vorschlag. Sie geht gelegentlich über die Realisierbarkeit hinaus. Ich brauche Skizzen von den Sachen in den Schachteln, die für mich so wertvoll sind, weil die Ausprägungen auf Zeichnungen, mich und meine Ideen größer zu machen vermögen. Skizzen sind Wünsche. Sie können zudem Unsicherheiten dokumentieren oder sind Zeugnisse eines Spieltriebs. Jemand, der meine Schachteln erbte und die Skizzen sähe, er würde das eine oder andere darauf nicht einmal erkennen. Er kannte das Spiel, das ich da spiele, nicht, und es müsste etwas in ihm angelegt sein, damit er lustvoll werden könnte darob. Denn nicht nur die Schachteln bedürfen einer besonderen, auf sie abgestimmten Sprache, auch die Skizzen selbst, und im Grunde alle Ingredienzien, die sich darin befinden, sind auf das Wollen, das Interesse desjenigen angewiesen, der sie öffnet und beginnt die einzelnen Teile vor sich auszubreiten, sich ihnen behutsam anzunähern. Dann aber können Welten aufgehen.

Potentiale sind das, vielleicht mit Ausnahme der Socken, mit denen ich mich seit ich denken kann, umgebe. Potentiale, die erst aktiv herausgeschöpft werden wollen, die nicht mehr als etwas Grundinteresse, liebevoller Zuwendung abverlangen. Nicht immer hatte ich solche schicken Schachteln, die nicht weiter auffallen, da sie dezent in der Farbe und klar in der Form sind. Viele sind im A4 Format, gut aufeinander stapelbar. So verwundert mich selbst nicht wenig, dass ich nicht nur die Socken vergesse, sondern ganz viele dieser Schachteln. Sie verhalten sich diskret und beginnen zu leben erst beim Öffnen des Deckels. Sie verbergen mehr als sie preisgeben, wenn man bloß so hineinschaut. Man muss in sie greifen, auslegen, dechiffrieren. Ansonsten verfehlen sie ihre Wirkung. Die Schachteln sind derart zurückhaltend, dass man nicht bemerkt wie viele es sind. Ich weiß, es sind nicht wenige. Sie haben eine beruhigende Komponente. Zu wissen, dass sie da sind, zu ahnen, was darin ist, besänftigt mein Gemüt, ohne dass sie mir das dringende Gefühl vermitteln etwas tun zu müssen.

Die Schachteln sind Verwandte von Fotografien und Fotoalben, die man irgendwo hat. Man würde diese Alben und Fotos bei einem Brand möglicherweise retten wollen, oder man würde sie nach dem Brand vermissen. Und trotz dieser Verbundenheit und des allgemeinen Kanons über solche hypothetischen Szenarien, kaum setzt man sich in Wirklichkeit hin, um in diesen fotografisch festgehaltenen Momenten zu schmökern oder gedanklich darin zu bummeln. Zu wissen, man könnte, man würde, das genügt. Irgendwann, beim nächsten Liebeskummer. Irgendwann, bei einer Identitätskrise. Irgendwann, irgendwann.

Die Schachtel für die Kunstsachen wurde selten geöffnet und es kamen in den letzten Jahren Dinge hinein, die ich nicht weiter beachtete. Eigentlich befüllte ich sie aus einer gewissen Konsequenz heraus, die mir zu eigen ist. Der Archivar in mir. Die Schachtel ist da, sie steht als Gefäss für diese Kunstschnipsel zur Verfügung und so ist es meine Aufgabe darauf zu achten, nichts an mir vorbeiziehen zu lassen, was man dorthin legen könnte. Ich tat, was ich einst begann: hier ein Bildchen aus einer Zeitung, dort eine Karte. Manchmal Farbkombinationen, die mich beeindruckt hatten, manchmal anverwandte Dinge wie gelungene Kunstbeschreibungen, Titel von Werken, eigene Schnappschüsse, die künstlerisch wertvoll daherkamen.

Die Schwester dieser Schachtel steht im Keller. Sie ist größer und fasst Materialien. Edle, weniger wertvolle. Alles unmethodisch zusammengetragene Einzelteile, die mir im Kontext dieser Schachtel kostbar erscheinen. Kostbar ist ein krummer Nagel, aber ebenso eine glatt geschliffene, grün schimmernde Achatscheibe. Schön finde ich ein Stück Wandputz von einem Kloster, so wie ich auch eine formvollendete Koralle für sehr apart halte. Naturmaterialien liegen neben von Wasser durchspülten Plastikstücken, nicht zuzuordnende Gegenstände verkeilen sich in solche, die ich möglicherweise zweckentfremden wollte. Ein paar Zentimeter Faden mit seltsamen Knöllchen daran, ein unbrauchbares Etwas, das ich auf der Straße aufgelesen habe und in der Kunstsprache zu einem „objet trouvé“ mutiert und an eine miniaturisierte Version von einer Arp-Skulptur erinnert. Eine ausgediente Kurbel, die durch ihre Gestalt noch etwas Stolz in sich trägt. Ein nicht mehr funktionierender Gebrauchsgegenstand aus dem vorletzten Jahrhundert, der hier als Zeuge vor mir liegt und wissend schweigt. Ein Perlmuttknopf, der eine lange Reise aus dem Meer hinter sich hat, majestätisch im Sonnenlicht reflektiert als gälte es zu demonstrieren, dass eine solche Farbpalette für mich nicht mischbar ist. Dieser kleine Knopf, der nicht verrät, an welchem Stoff er lebte, mit wem und wie und um den ich auf einem Flohmarkt gefeilscht hatte, als ginge es um einen Barren Gold und dessen Verwendungszweck mir hier nach wie vor verwehrt geblieben ist. Hinzu kommen Konklaven von geschwungenen Drähten, Familien von angeknabberten Korken. Eine Clique von Rost durchlöcherten Metallstücken liegen da herum und verbreiten kulturelle Mannigfaltigkeit.

Sie verkörpern kleine Geschichten, das Vorbeischreiten der Zeit, die stets gegenwärtige Natur und ihr leises Wirken, auf den Oberflächen diese Spuren hinterlassend. Spuren für mein Auge, meine Hände. Die Stücke mimen auch das Beispiel des friedlichen Miteinanders ohne Vorbehalte, zeigen auf, dass wir alle denselben Kräften unterworfen sind, egal wie edel, praktisch oder vermeintlich nutzlos sie erscheinen. Unerheblich, ob sie der Erde, dem Wasser oder dem Wind ausgesetzt waren. Sie sind eine gelungene Metapher und könnten als anschauliches Material jeder Tageszeitung, die sich mit Migrationsund Integrationsthemen beschäftigt, vorgehalten werden. Ein von Holzwürmern zerfressenes Holzstück, ein Überbleibsel vom Eisenscharnier einer Kommode, ein Puppenfuß aus weißem Biskuit-Porzellan können genauso würdevoll strahlen und ihre Wirkung nicht verfehlen, wie ein versteinerter Wal-Zahn, der in sich ruht und die Millionen von Jahren, die in ihm sind mit Haltung dem neugierigen Blick anbietet. Als wisse er nicht nur um seine Form, sondern darüber hinaus, um seinen formschönen Wuchs und was alles von den Jahrhunderten in seiner Form auch noch geblieben ist. Erst recht erhaben sind die Stücke, wenn ich sie aus der Schachtel hervorhole und mir für sie Zeit nehme. Ich lege sie dann einzeln auf einen Schieferstein und betrachte sie, entdecke die Spuren, studiere die Oberflächen und nähere mich ihnen mit meinen Fingerkuppen.

Kumulieren, über Jahre füllen, auf keinen Fall sortieren, frei von Zusammenhang oder Richtung, ohne konkretes Vorhaben, dies der Sinn. Ein Treiben des scheinbar orientierungslosen Sammelns und somit auch Leichtigkeit. Reines Dürfen. Der Genuss außerdem, gelegentlich den Deckel der Schachtel zu öffnen und wieder zu schließen als scheinbar sinnfreie Beschäftigung. Im Hinterkopf derweil der melodische Wohlklang aus den Wörtern „irgendwann, irgendwann“.

Ich bin eine Sammlernatur, was bedeutet, dass sich alles von selbst sammelt. Ein Sammler sammelt nicht, weil er jagen geht. Er geht vermeintlich jagen, aber faktisch wird er selbst eingesammelt, sprich er wird eingenommen ganz und gar, während er gleichzeitig nichts anderes tut als zu flanieren. Gerade, wenn ich mich aufmache irgendwohin zu gehen, um nichts zu suchen, so der Sinn, da wird es mich finden, anstecken und infizieren und ich werde nicht mit leeren Händen nach Hause kehren. Verstörend sind daher jene verschwörerischen Blicke der vormaligen Besitzer oder Brocante-Händler, die bei der Übergabe eines neu erworbenen Stücks, mir suggerieren, sie selbst wüssten genau um den Wert und sogar darum, was ich mit dem neuen Stück anstellen möchte. Die Wahrheit ist aber die, dass ich in den meisten Fällen nicht weiß, was das Ding mit mir noch machen wird und ob überhaupt. Ich weiß zu gut: Wir müssen uns erst anfreunden. Das Teil und ich. Ich muss den Zweck und Platz noch finden und nicht etwa in einer Vitrine, sondern in mir selbst. Auch wenn mir eine gewisse Qualität von Anfang an bewusst ist. Die Momente des Entdeckens und Zugreifens kann von stürmisch über zögerlich bis beinah widerwillig reichen. Manchmal erscheint die Qualität, indem sie mich geradewegs verzaubert und erobert. Manchmal drängt sie sich auf und verweigert sodann eine weitere Definition. Manchmal verstört mich eine Form dermassen, dass ich sie dennoch an mich reisse, um ihr den Gefallen zu tun von ihrem Standort wegzukommen. Aber fast immer habe ich ein klares Grundgefühl, eine Bejahung in mir, die mich handeln machen, egal, ob es ein teures oder günstiges Unterfangen oder ein kostenloser Fund ist.

Eine besondere Magie haben deshalb all jene Sachen für mich, die sich mir nicht sofort erschließen, ja, die irgendwie von mir aufgestöbert und bezwingt werden wollen. Ein eindringlicher Blick des Händlers, der meint alles besser zu wissen, hat keine Ahnung, wenn er versucht sich in mich zu versetzen. Denn in dem Moment, wo etwas zu mir kommt, da bin ich noch nicht soweit, als dass sich jemand anmassen könnte sich in mich hineinzuversetzen. Es braucht Zeit. Geduld. Es bedarf zunächst eben dieser stillen Entwicklung in der Schachtel, überzogen von Zeit und meiner Verheimlichung, meiner temporären Abweisung, die durchaus mit etwas Vergesslichkeit angereichert ist. Diese Phase kann sich über Jahre hinweg ziehen und das ist alles andere als bedauerlich. Denn etwas reift. Ich reife heran. Und niemand ahnt etwas. Was der Sache Charme verleiht.

Als Lu fragte und ich unmittelbar Ja sagte zu diesem gemeinsamen Vorhaben und Abenteuer, da begannen beide Schachteln, die im Keller und die kleinere oben, wach zu werden. Sie existierten fortan in meinem Bewusstsein. Ich wusste nur allzu gut wie leicht es war fortan etwas in sie zu legen. Den Deckel zu öffnen und der Box die Inhalte zu entlocken. Wissend auch um eine gewisse Vorspannung, bevor man mit etwas beginnt, beliess ich es dabei das bloße Vorhandensein dieser subtil vibrierenden Schachteln zunächst nur innerlich zu zelebrieren.

Da waren die beiden Kunstschachteln, die mir eine immense Erleichterung verschafften. So als wäre damit ein Grundstein gelegt. Als könnte nichts schiefgehen, solange sie hübsch und brav da waren, mir zur Verfügung stehend, wenn ich wollte. Irgendwann. Demnächst. Aber zunächst die Vorfreude. Der Bogen der Spannung. Die Bereitschaft in der Ruhe, im Verborgenen, ganz tief in mir drinnen Raum zu schaffen. Einen Raum, der am Anfang stets so winzig ist, dass man ihm Zeit geben muss, um die Bedeutung aufkeimen zu lassen. Diesen Keimling im Raum, der heute mehr und morgen mehr meint als gestern. Zu Beginn ist alles sogar für mich viel zu klein, um diesen Raum überhaupt betreten zu können. Es beginnt mit Gedankenschweifen, die dort herumwehen und wieder verfliegen.

Die Idee hatte sich zwar spontan, beinah zufällig ergeben und doch waren Lu und ich, als wir darüber zum ersten Mal sprachen, angereichert mit so viel Kunst in uns drin, dass es sich natürlich anfühlte diese Ausstellung ins Auge zu fassen. Wir haben uns noch einige Male über den Ausstellungstitel unterhalten, ohne konkret zu werden. Es blieb alles verbindlich und doch verblüffend leicht. Wir liessen die Idee in uns heranreifen bis es von selbst unmittelbar und greifbar werden sollte. Ich hatte diesen Sommer ganz zentral im Blickfeld und das nahm ich sehr ernst. Denn im Gegensatz zu Lu, die bereits viele Kunstwerke geschaffen hat, hatte ich nichts. Unsere Teamarbeit besteht seit jeher darin, dass wir uns Bälle zuspielen. Selten, aber wenn, dann konkretisieren wir sogleich.

Lu nimmt kein Blatt vor den Mund und ich beschönige nie etwas, was man direkt sagen könnte. Wir sind zueinander ehrlich, aber nicht etwa deswegen, weil wir uns schon lange kennen und uns mögen, sondern weil wir aufrichtig mit uns selbst sind. Würden wir einander nicht die Wahrheit sagen und ehrlich zu uns selber sein wollen, das wäre eine scheußliche Form von Heuchelei, die in dieser Freundschaft ein Fremdkörper wäre. Außerdem haben wir wenig Zeit für Koketterie, Umwege oder Beschönigungen und sind auch in anderen Belangen engagiert. Lu verreist zudem häufig, dazu nicht selten an entlegene Orte. Studienreisen. Erholung. Zentrierung. Entgrenzung. Wiederfindung. Ich empfinde gerade in dieser Zusammenarbeit diese Voraussetzungen unserer individuellen Wesensarten als hohe Qualität. Sie stärkt das Vertrauen und lässt uns frei sein.

Als wir das Datum für die Ausstellung festgelegt hatten, ging es in meinem Kopf richtig los. Wo ich auch hinging, hatte ich diese bestimmte Brille an, mit der ich nur noch Kunst sah oder etwas sah, aus der sich Kunst machen liess. Aufbruchstimmung zum Wollen und zum Tun war in mir angelegt, wie ich auch in einen inneren Monolog verfiel darüber, was sich gerade tat und auftat in meiner Welt. Es war ein wunderbares, beflügelndes Gefühl, als meine Box zu leben begann. Das ist jeweils der Moment, wo man sich setzt, die Inhalte prüft und staunt. Ich jedenfalls staunte sehr ob all der Fülle an Ideen, Skizzen, Zeitungsausschnitten, Fotos. Eine Welle von Inspiration und Erquickung ging beim Stöbern auf mich über und ich war mir sicher, dass ich in dieser Schachtel einige Schätze hegte, die auszuführen und zu konkretisieren ich kaum erwarten konnte.

Ein Vorhaben, von dem ich zunächst keinem erzählte. Denn es war kein Vorhaben. Vielmehr der bisher nicht ausgesprochene Wunsch, der nun auf eine Möglichkeit traf. Ich würde davon erzählen, wenn der Zeitpunkt stimmte. Jetzt war es zu früh. Gut war gerade, dass ich eine Ausstellung in Aussicht hatte, über die ich bisher nicht nachgedacht habe. Hätte ich es hypothetisch getan, wäre der Zeitpunkt dafür in frühestens fünf, zehn oder fünfzehn Jahren gewesen. Ich hatte gerade ja so viel anderes zu tun mit meinen anderen Projekten.

Es gibt einige Theorien wie man mit ungelegten Eiern umgeht. Enttäuschte berichten davon, dass sie lieber geschwiegen hätten, als Absichten zu früh bekanntzumachen, die am Ende nicht zustande kommen konnten. Denn nach einer solchen Wendung sieht man sich in der Position des Begründens und Entschuldigens, was unangenehm sein kann und sich nicht richtig anfühlt. Man spürt einen Sog, der einen herunterzieht, weil man glaubt versagt zu haben. Und man möchte sich selbst schelten, nicht die richtige Strategie gewählt zu haben. Man grübelt darüber nach, was man hätte anders lenken können. Man lotet Schwachstellen aus. Man rollt die Geschichten von hinten wieder auf, wissend um das unabdingbare Ende.

Es gibt aber durchaus Stimmen, die vom Gegenteil überzeugt sind wie man Pläne handhabt. Das sind die Befürworter der offenen Karten, Bejaher des gelegten ersten Steins. Verteidiger der Transparenz. Etwas beim Namen nennen, damit es zum Leben erweckt werden kann. Hier und Jetzt sagen. Ein Ehrenwort geben. Ist eine Idee erstmals verlautbart, ist dies einem Versprechen gleich, das einzuhalten sich gehört.

„Irgendwann“ kam viel früher und aus Lus Mund. Als wir nach einem Kunstmarathon erschöpft im Café sassen und uns mit einem Getränk erfrischten, fragte sie mich unverblümt, ob ich mit ihr zusammen eine Ausstellung bestreiten wollte. Mein Ja fühlte sich sofort gut an. Es entflammte beinah, so, als würde der kleine Zettel «Dinge» in meiner Box dem Plan ebenfalls zustimmen. Ich hatte keine Zweifel an der Aufrichtigkeit der Frage und keine Angst Ja zu sagen. Klar, das machen wir. Der Ort, ein Kulturraum, der ein ganzes kleines Haus bildet, standen fest. Wir mussten nur noch das Datum festlegen.

Es macht einen Unterschied, ob man ein Datum hat und man es in den Kalender notieren kann oder ob man lediglich eines ins Auge fassen möchte, bei Gelegenheit, demnächst mal, irgendwann. Dieses Irgendwann ist ein Konstrukt, das ohnehin da ist. Irgendwann dies, irgendwann das. Dem entgegenzusetzen mit Dann, ist, was mich betrifft, eine Wohltat und gibt mir Aufschwung. Andere sehen das möglicherweise anders. Es entsteht Druck, die Zeit verkürzt sich, wird nahbar. Oder im Gegenteil, sie täuscht vor noch in weiter Ferne zu sein.

Der Umgang mit Zeit ist höchst individuell und verlangt mir sehr viel ab. Es ist ein ständiger Prozess, eine Art Beziehungsarbeit, mit der ich nie fertig und aus der ich nicht schlauer werde. Mal habe ich alles im Griff, mal überrollen mich die Daten, die Vorhaben, die Jahreszeiten. Ich werde regelrecht heimgesucht von der Zeit als meiner Feindin oder zumindest einer intriganten Gefährtin. Wenn sie mir bewusst macht, wie kalkulierbar sie faktisch ist. Noch so und so viele Sommertage, noch ein paar Jährchen bis dies und das, noch nicht lange her, da war ich doch grad dreißig, noch kurz habe ich Zeit, dann aber muss eine Entscheidung gefällt werden. Ich und meine Zeit und jeder und seine Zeit ist ein unendlich großes Kapitel, selbst wenn man sich nicht viel aus ihr macht. Hält man inne und beginnt erstmals mit der Auseinandersetzung mit Zeit und Zeitabläufen, zerstreuen sich die Gedanken in alle möglichen Richtungen.

Die Zeit zeigt sich mir aber auch als Freundin, wenn sie sagt: Morgen. Heute. Jetzt. Schau, hier bin ich. Dann verbünde ich mich mit ihr und der Deal ist, dass wir uns gegenseitig nicht mehr beachten. Was zählt, ist einzig, was gerade ist oder was ich tue. Es kann dieses konkrete Herausheben der Dinge aus der Schachtel sein. Aber auch etwas zu denken, sich auszumalen, gehört dazu. Hauptsache, der Blick auf die Uhr ist vergessen und der Zeitraum geöffnet. Lu wird ihr Atelier in Form von ihrem Notizblock auf ihre Reise mitnehmen. Ich habe mir die Sommerzeit abgesteckt.

Ich bin vor ein paar Jahren zufällig dem Wort Zeitfenster begegnet. Erst hielt ich es für keine besonders gelungene Metapher, zumal ich sie von jemandem hörte, den ich nicht gerade schätzte. Da tut man sich schwer mit der Übernahme von geflügelten Worten. Aber eines Tages begann ich selbst von Zeitfenstern zu sprechen. Ich öffnete das Zeitfenster und schon war ich in einem Zeitraum. Manche Fenster konnte ich nur einen kleinen Spalt und ganz kurz öffnen. Manche Fenster waren zimmerhohe Schiebefenster, die sich so weit öffneten, dass ich sogar hinaustreten konnte. Das sind meine liebsten. Barfuß raus und aus der Zeit fallen. Mein Ding durchziehen, komme, was wolle.

Zeitfenster tun sich nicht von selbst auf. Wenn sie es tun und ist man nicht vorbereitet, ist es oft die Langeweile, die ein solches Zeitfenster belegen kann. Man muss, zumindest, was meine Erfahrung betrifft, ein wenig Enthusiasmus an den Tag legen, damit so ein Zeitfenster sich einem anbietet. Etwas Konkretes anzustreben und sich gleichzeitig dieses Zeitfenster zu wünschen, schaden jedenfalls nicht. Ich kann die Umrisse dieses funktionierenden Paars Fenster und Vorhaben bestens sehen, wenn sich etwas in mir bewegt. Und so passiert von alleine, dass ich mir Daten und Zeiten hierfür suche und reserviere. Dies sind meine Spielregeln und wahrscheinlich hat jeder seine eigenen aufgestellt, erprobt und wieder verworfen.

Zeitfenster öffneten sich mir ganz viele, als ich das Ausstellungsdatum in meine Agenda eintrug und mir grob errechnete, welche Zeitspanne bis dahin angelegt sein würde. Viele, viele Tage, die mich aber nicht darüber hinwegtäuschen mochten, dass ich letztendlich nicht jeden einzelnen davon dieser Ausstellung würde widmen können. Denn ich war nicht plötzlich frei, konnte mir nicht ein Aufenthaltsstipendium auferlegen, sondern war nach wie vor eingebunden in andere Verpflichtungen. Ich liess selbstverständlich nicht alles liegen, um mich fortan nur noch der Kunst zu widmen und mich als Künstlerin, und nichts mehr als Künstlerin, hervorzutun. Das Leben ist bekanntlich voll von Verflechtungen und man kann aus so einem Leben nur mit einem höchst radikalen Schnitt heraustreten. Ansonsten muss man lernen zu jonglieren, einzuteilen. Nachsicht zu üben mit den Stunden. Hier ein bisschen, dort auf keinen Fall, aber siehe da, hier geht wieder was.

Ich sah diese Zeiträume und weit offene Zeitfenster wiederkehrend klar und deutlich. An gewissen Sonntagen, an ein paar Frei-Tagen, im Sommer wochenlang, mit den langen Tageszeiten, und einer Zeit, wo ich fast nichts geplant hatte. Die Aussichten standen gut, dass ich bis zum besagten Datum vermutlich einige Male in meine Schachteln vertieft sein würde und mich somit mit allen Sinnen auf dieses Spiel einlassen durfte. So viele Zeitfenster lagen da vor mir, sodass ich von vorneherein wusste, es warteten die Tage auf mich, die voll von Lust sein würden. Und solche ohne jeglichen Funken Inspiration mussten und würden ebenfalls drin liegen. Tage voll von Staunen und Unternehmungslust und solche, die dazu waren mich zu verunsichern, mich zu entzaubern und den Spieltrieb abzubremsen. Ich wusste das alles nicht, aber ich ahnte es. Vor allem war ich mir sicher, dass die Anzahl Tage ausreichen würde für das ganze Spektrum, das so ein Unterfangen mit sich bringen durfte. Die Hochs und die Tiefs. Die Fülle und die Leere. Ich hieß alle Abstufungen willkommen.

Es ist keine Untertreibung: Ich bin schlecht im Rechnen. Aber was ich gut kann, ist diese Einschätzung in die Zukunft und wie viel Zeit ein Projekt in etwa benötigt. Woher ich das weiß, kann ich nicht sagen. Vielleicht ist es ein Talent, das einem gegeben ist. Ich arbeite aber auch so viel und so permanent, dazu an derart vielen unterschiedlichen Dingen und von unterschiedlicher Qualität und Intensität, sodass diese Einschätzung auch mit meinem großen Erfahrungswert einhergeht und an die Praxis gebunden ist. Ein Erfahrungswert, der nicht naiv ist, sondern im Gegenteil, auch jene Krisen einberechnet, die man nicht vorhersehen kann, welche aber garantiert kommen, egal, wie gut vorbereitet man jeweils ist. Das ist kein Pessimismus oder Hochmut, sondern so sicher wie das Amen in der Kirche.

Es wird nämlich nie perfekt. Immer wird da noch etwas sein, das man hätte machen oder vorsehen können. Es geht auch nie ohne das letzte Stück Improvisation oder ein Eingeständnis. Es muss dabei nichts Tragisches sein. Aber zu glauben, dass man alles Erdenkliche tun kann, um etwas Perfektes zu schaffen, kam mir nie in den Sinn und bisher hatte ich stets Recht mit dieser Einstellung.

Vor allem sehe ich die Zeitphasen. Ich erkenne Zeiten der flatterhaften Gedanken. Zeiten des Sortierens. Zeiten der Kontemplation. Zeiten der Nachkorrekturen. Zeiten der erneuten Vertiefung. Zeiten des Verwerfens. Zeiten der nackten Fakten. Ich schaue also auf die Kalenderblätter, blättere vor und zurück, markiere Meilensteine im Kopf, unterteile die Zeit in Etappen. Ich schreibe das eine oder andere auf und ich sehe vor mir, wo ich in welcher Phase vermutlich stehen werde. Es ist eine Art Vorgeburt. Zunächst kreise ich noch ganz abstrakt durch die Daten und sehe, dass ich eine schöne Vorbereitungszeit habe, die ich in kleinen Abschnitten durchsetzen werde können. Dort ein freier Tag, hier ein längeres Wochenende, dort vielleicht nur ein halber Sonntag. Ich sehe einen Sommer, der kernig insofern ist, als ich mich da besonders aktiv betätigen werde und die Kunst erschaffen werde können, die ich nur vage angelegt habe. Diese Planung befriedigt mich, sie ebnet die Vorfreude, die eigentlich eine Vorvorfreude ist. Ein Vorgeschmack auf etwas, das ich noch gar nicht erfassen kann, mich aber mit allen Geschmacksknospen darauf einlassen möchte. Ich kann es weder kognitiv, noch gefühlsmässig, schon gar nicht haptisch begreifen. Eine besondere Qualität, die ich deswegen schätze, weil ich so gespannt bin auf das Abenteuer. Es ist ein süßlich anmutender Flirt und wer flirtet nicht gerne?

Die Inhalte meiner Schachtel erstaunen mich genauso wie sie mir aufzeigen, dass noch eine Menge getan werden muss, bis sich die angedachten Komponenten zu einem Ganzen fügen. Ein roter Faden, den ich auf einer Schieferplatte betrachte, ist kein fertiges Konstrukt, das präsentierbar ist oder dem ich einen würdigen Namen geben kann. Der Faden ist zunächst, was er ist. Ein Faden, der auf eine kleine Steinplatte gelegt wurde. Da ruht er. Er wirkt, aber es liegt eine profane Lächerlichkeit darin, wenn man das von außen anschaut. Es erscheint banal. Ich gebe mich mit dieser Einsicht daher nicht zufrieden. Was ich vorhabe, ist einzutauchen. Es ist etwas Inneres und keine Betrachtung, auch wenn ohne eine solche nichts gehen wird. Der Faden tritt daher aus seiner temporären Starre hinaus und beginnt sich in meinem Kopf einzunisten. Er geht mit mir spazieren. Wenn ich etwas sehe, das auf sich aufmerksam macht, dann ist der Faden mit mir im Dialog und sagt mir so etwas wie: Nein. Vielleicht. Untersteh dich. Möglicherweise auch: Nimm. Interessant. Und ich antworte ungefähr: Meinst du? Bin nicht sicher. Warum sagst du das? Ich bin nicht deiner Meinung. Oder: Gut, ich gebe mich geschlagen.

Das geschieht fürwahr nicht in einem Dialog, den man mit einem Dialog zwischen Menschen vergleichen kann. Weder sehe ich den Faden im Kopf mit einem sprechenden Mund, noch redet er zu mir. Aber in einer nicht zu beschreibenden klitzekleinen und doch vorhandenen Dimension ist er zugegen, bei mir. Er wird Teil von meinem Leben, das sich mehr und mehr zu einem Erkundungslauf entfaltet. Man muss sich allerdings vor Augen halten, dass er nicht alleine ist. Unzählige solcher Elemente und Dinge ergänzen diesen Faden und schwirren zu Dutzenden, in den Kombinationen zu Hunderten in meinen Kopf.

Man könnte den falschen Schluss ziehen, dass sich das intensiv und geräuschvoll anfühlt, doch in Wirklichkeit ist ein weicher Flaum über dieses Karussell der Zwiegespräche gelegt, der kaum vernehmlich nistet und bei Anklang leicht zuckt, einen kaum wahrnehmbaren zarten Laut von sich gibt, der leisest, subtilst und höchst liebenswürdig daherkommt. Denn es ist alles leicht. Ich bin leicht, gleichwohl genährt, und in dieser Stimmung streife ich durch mein Leben.

Ich verändere angesichts der Ausstellung nicht viel in meinem Alltag. Ich gehe wie sonst auch mal hierhin, mal dorthin, betrachte, blättere in Zeitungen und Büchern, ich sehe Kunst und Handwerk und Mode wie bis anhin auch. Ich treffe Menschen, gehe aus oder nicht, bereite Essen zu. Und doch geschehen unmerklich, und an manchen Tagen ganz besondere, seltsame Dinge. Wenn ich beim Schälen eines Rettichs auf einmal inne halte und begeistert eine Skulptur entdecke, die auf den zweiten Blick wie verwandt scheint mit etwas aus der Schachtel oder die auf etwas hinweist, das ich in der Box im Keller habe und mir vermittelt, dieser Form auf die Spur zu gehen, selbst wenn klar ist, dass ich den Rettich anstandslos verspeisen werde, samt und sonders seiner plastischen Ausprägung. Es passiert, dass ich an einem Flohmarkt etwas kaufe, das so hässlich ist, dass es mich in seinem Charakter geradezu berauscht. Ich kaufe Farben, leere Leinwände, prüfe, ob ich noch Kleister habe, ich bereite Pinsel vor, noch nicht sicher darüber, ob ich überhaupt etwas malen werde.

Die Dinge häufen sich, die Schachteln mehren sich und was ich darin in den letzten Wochen mehrmals bereits durchgestöbert habe, ergibt keinen Sinn. Müsste ich nach außen hin Erklärungen abgeben, ich würde scheitern. Ich müsste sagen, dass diese Sachen mehr sind als sie zu sein scheinen und dass sie begonnen haben miteinander zu interagieren, etwas zu bilden, das sich mir erst offenbaren wird, wenn ich beginne mich damit physisch, zeitnaher zum Ereignis zu beschäftigen. Ich spüre, dass mir etwas Appetit macht und meine Lust schürt, irgendwann, ganz bestimmt irgendwann bald, aktiv zu werden und mit meinen Händen ins Gebilde einzugreifen, ertastend auf Tuchfühlung zu gehen. Dieser Apparat, der das Potential unzähliger Kombinationen innehat, wird nach und nach substanzieller und fassbarer. Was im Kopf ist, spiegelt sich in der Betrachtung und wird Eins werden mit mir, wenn ich anfange.

Alles ist Ästhetik, alles ist Form, man muss bloß die Augen öffnen und es sehen. Ich fotografiere, skizziere, verliebe mich in kleine Glasscherben, lese Äste am Boden auf, die im Zug auf der Heimfahrt von der Arbeit die anderen Gäste etwas stören. Ich schleppe Teile nach Hause, die seltsam riechen. Ich verschließe organische Stücke, die noch etwas Leben in sich haben, sicherheitshalber in Glasbehälter. Ich rette Weggeworfenes und verspreche ihnen zur Würde zurückzufinden, die ihnen abhandengekommen ist und die sie nicht zwangsläufig oder nur in der Form, aber auf alle Fälle in einer Betrachtung, wiederfinden werden.

Ich bin, was Formen, Materialien, Strukturen betrifft höchst tolerant. Man könnte sagen, ich hätte keine Linie, keinen Stil, so viele unterschiedliche Sachen sprechen mich an. Doch so eklektisch alles scheint, ich sehe in dieser Artenvielfalt bereits eine gemeinsame Sprache, die sie verbindet. Denn nichts wird außerhalb kreiert werden ohne diese Anbindung an mich selbst. Alles wird durch mich hindurch gehen, sodass nichts eine Chance hat, für sich selbst auf der Strecke zu bleiben. Das Gebilde wird zu einer Dinge-Komplizenschaft werden, mit solchen und solchen Wesenheiten und Ausprägungen, den stillen, lauten, alten, frischen. Nicht jedes Stück wird glänzen, manch eines wird im Hintergrund bleiben und dennoch Teil dieser Familie sein.

Je näher der Sommer heranrückt, desto mehr entflammt die Lust endlich alles auszubreiten. Ich zähle die Tage und kann es kaum erwarten von den zwei geplanten Kurzreisen zurückzukehren. Ich möchte diese bevorstehenden Tage ganz mit Kunst füllen. Heißt, nicht an diesen Tagen möchte ich dran sein und mir Zeit für die Kunst reservieren, sondern diese Tage selbst erküre ich zur Kunst in denen nichts anderes geschieht als die Kunst. Sie wird im Zentrum stehen. Ich werde ihr untertan sein. Alles andere wird nebensächlich werden. Ich bin überzeugt, dass diese Einstellung sein muss, ansonsten ich nicht vorwärtskommen werde und sich die Zeitfenster nicht so weit öffnen wie ich es benötige.

Ich habe kein Atelier. Ich erkläre die Wohnung zum Atelier. Ich bin keine Künstlerin, aber ich werde eine sein mit Haut und Haar für diese Wochen, die vor mir liegen. Ich spiele das nicht als Rolle und doch geschieht alles in einem zeitlichen, geschützten Rahmen wie in einem Theaterstück. Es ist eine Art Labor, ein Experiment, und ich komme mir vor wie jene Journalisten, die für gewisse Beiträge Undercover in Szenen und Rollen eintauchen, um mit diesem investigativen Ansatz an das ganz authentische Material heranzukommen und ihre Reportage aus dieser Perspektive erzählen. Mein improvisiertes Atelier werde ich mir in der Küche, im Wohnzimmer, im Keller und im Garten einrichten. Ich liebe die Ästhetik von Ateliers. Sortierte Pinsel in Büchsen, angelehnte Leinwände, alte Barhocker, große, etwas trübe gewordenen Nordlichtfenster, Stillleben aus matten Gläsern, Entwürfe aus Gips, Farbpaletten, Lappen. Dazu persönliche und angesammelte Gegenstände. Vielleicht ein ausgestopfter Papagei, Ethnographica, Erbstücke, Nippes, Postkarten und andere Erinnerungsstücke und Kuriositäten. Dazu Naturmaterialien, die als Vorbild für Studien dienen, eine kleine Bibliothek, Notizhefte, Teekannen, Weinflaschen, nicht geleerte Aschenbecher. Überall die Spuren von der hier verbrachten Zeit des Schaffens, Probierens, alles in Form von Farbklecksen, Abgesplittertem, Ausgeblichenem, Durchgewetztem, Zerrissenen, für das Auge frei zugänglich.

Dies wird bei mir so nicht sein. Ich muss aufpassen, keine Spuren zu hinterlassen, die bleiben könnten und doch möchte ich nicht jeden einzelnen Gegenstand mit Folie abdecken wie bei Malerarbeiten, um ihn vor irgendwelchen Spritzern zu schützen. Ich muss klug vorgehen und mit Bedacht planen. Dinge, die draußen gemacht werden müssen, gruppieren.

Solche, die schnell abgewaschen werden sollten in der Nähe des Lavabos anfertigen. Solche, die man ausbreiten sollte, in die Mitte des Wohnzimmers verlegen, und nicht zuletzt muss ich am Morgen überlegen, was mehr Zeit, mehr Trocknungszeit beispielsweise, in Anspruch nehmen wird, was besonders präzise gemacht werden muss und viel Licht benötigt oder eine ruhige Hand. Aber auch jene Sachen sind anspruchsvoll, denen ich mich länger widmen werde müssen, da sie sich mir nicht auf Anhieb erschließen werden.

Dies alles wird mir in den ersten Stunden bewusst, als ich beginne. Ich bin früh aufgewacht und optimistisch aufgekratzt. Ich bin seit gut zwei Tagen aus Budapest zurück. Gestern habe ich dem Garten geschaut: Rasen gemäht, den Kräutern und den Kübelpflanzen Wasser gegeben, ein paar Blätter aus dem Teich gefischt, den Lavendel geschnitten. Ich liess es mir gut ergehen und habe den Tag mit einem schönen Glas Wein ausklingen lassen. Auch heute ist ein schöner Tag. Der Morgen ist so frisch und klar und das Licht ist so wunderbar hell, auch wenn alles noch etwas bewölkt ist, dass ich mich wie verliebt fühle. Es sind Wolken, die auf der Durchreise sind und schon bald weiterziehen oder sich nach und nach auflösen werden. Ich trinke wie immer als Erstes meinen Grüntee, ohne den ich nicht in die Gänge komme und lasse die Augen über ein paar Sachen gleiten, die ich aus der Schachtel aus dem Keller nach oben getragen habe.

Die Sachen, die da vor mir ruhen, sind mir bekannt. Ich weiß woher ich sie habe, aus was sie beschaffen sind, und doch scheint mir, als sähe ich sie heute zum ersten Mal. Denn sie haben Gewicht bekommen, vielleicht etwas Pathos, und sind angebunden an die Verarbeitungsmöglichkeiten, die ihnen offenstehen: Soll ich schneiden, schleifen, anmalen oder mit anderen Dingen komponieren? Oder sprechen die Sachen nicht zu mir, noch nicht oder werden sie es vorziehen, mir gar beharrlich entgegen zu schweigen und sich mir verweigern? Wir treten in einen unverbindlichen Dialog, haben eine Art Smalltalk, lassen alles offen. Das Interesse halte ich gleichwohl aufrecht.

Ich entlasse jedes einzelne Teil aus der Schachtel und unterziehe es einer Art Prüfung. Ich habe nicht den Anspruch alles zu verarbeiten. Als Erstes möchte ich die Sachen nach ihrer Resonanz abklopfen. Klingt etwas? Klingt es an und an was? Ich will offen sein für die verschiedenen Klänge und Harmonien. Selbst Dissonanzen sind willkommen. Ursprünglich angedachte Richtungen bin ich bereit abzuweisen. Ich möchte auch ehrlich genug sein, etwas zu beginnen und es nicht weiterzuführen, wenn es sich nicht richtig anfühlt. Ein Sieb, durch den ich unzählige kleine Fäden flechten möchte, fühlt sich zunächst sehr gut an, bis ich merke, dass mir die Geduld fehlt für all die Flechtarbeit, die hierfür nötig ist, um zu schaffen, was mir vorschwebt. Ich finde keine Technik, die mir diese knifflige Fleißarbeit erleichtert. Vielleicht bin ich zu doof für die Erfindung eines hier passenden Werkzeugs. Ich denke an eine Häkelnadel, aber eine solch dünne, die hier vonnöten sein könnte, habe ich nicht. Ich sehe nur meine dicken Fingerknochen und verliere die Geduld. So wird das nie etwas. Ich müsste zehn Mal mehr schaffen.

Doch so viele Tage nur für ein Stück habe ich nicht. Das Sieb muss zur Seite gelegt werden, und ich mache dort weiter, wo es schnell geht. Ich stelle fest, dass mir das Vergolden, das ich schon früher gemacht habe, großen Spaß bereitet. Blasse Gegenstände werden in eine Goldschicht gehüllt und zeigen ihre Struktur und Form auf ganz neuartige Weise. Meine kleinen Korallen auf dem geschwärzten Untergrund sind jetzt kleine Goldnuggets und ein glattes Stück Holz gewinnt durch das neue Schimmern auf der goldenen Haut an Leichtigkeit. Der, der die Gegenstände zum ersten Mal sieht, kann das, was darunter ist, nicht mehr erahnen. Und auch ich übe immer wieder diesen neuartigen Blick und treibe mein Vergessen voran, fortan nur noch die neue Ausprägung anzuerkennen. Denn nur noch diese ist jetzt tatsächlich vorhanden. Alles, was ich weggemacht habe, zählt nicht mehr.

Es macht mir Freude zu sehen, wie sich alles verändert und an Existenz gewinnt, wenn die einzelnen Stücke auf meinen verschiedenen Tischen und Bodenflächen liegen. Alles fließt durch meine Hände und durch meine Blicke. Das Bild potenziert sich überdies, wenn ich beginne zu arrangieren. Dann entstehen ganz neue Chancen und die Dinge interagieren, kommunizieren miteinander. Manche fallen aus dem Rahmen, andere sehen kombiniert aus wie Geschwister, obschon sie ganz anderen Ursprung haben. Ich erkenne, dass ich einen Sinn habe für Bildsprache. Ich kann Anverwandtes entdecken oder ästhetisch Entgegengesetztes so gegenüberstellen, dass sich beidseitig Mehrwerte ergeben.

Ich bemale einen Zweig und auf den massiven, alten Druckplatten, die hintereinander aufgestellt sind, gibt er ihnen eine Leichtigkeit.

Man kann auf den Druckplatten die Landschaft erahnen, die einst darauf geätzt wurde. Ein Baum ist im Hintergrund schwach zu erkennen und vorne geht ein Spazierender. Die Farben der Platten können nicht zugeordnet werden. Das ist kein typisches Grau, eher ein Dunkelgrün oder mystisches, changierendes Silber. Denn in jeder Farbe steckt so viel Gewicht und Leben und welche Farben hat dieses Leben?

Ich klebe vorsichtig Birkenrinde auf eine naturbelassene Leinwand. Ich schneide fiebrig aus einer gehäkelten Einkaufstasche die einzelnen Maschen heraus. Was aus der Schwere der Urform auf den Tisch fällt, sieht aus wie Buchstaben, Hieroglyphen, kurze Sätze, alles in hellbrauner, geheimnisvoller Schnürschrift. Das Vergolden geht mir leicht von der Hand. Egal, ob ich raues Metall, glattes Holz oder kraterartige Steine vergolde. Meine Finger klopfen oder drücken das flatternde Blattgold an die Oberfläche. Das Gold wird angenommen und wenn sich ein paar Unebenheiten ergeben oder das Gold stellenweise nicht haften bleibt, sei es, weil die Anlegemilch bereits getrocknet ist oder sei es, weil sie nicht gleichmäßig aufgetragen wurde, dann mag ich diese unperfekten Stellen besonders gern. Sie überraschen mich, lassen mich innehalten und die vermeintliche Blessur, die ich willentlich nicht hätte planen können, genauer studieren.

Der Effekt ist nicht, dass etwas glänzt, was vorher matt war. Es geht nicht darum, sich oder die Umgebung in diesem Gegenstand zu spiegeln, ihm zu einem aparten Leuchten zu verhelfen, sondern das Objekt ganz anders aussehen zu lassen als es vorher war. Denn ist es einmal blattvergoldet, scheint seine Urform unwiderruflich verschwunden und man muss sich anstrengen, sie noch zu sehen. Das Gold überwältigt einen und mir ist bewusst, dass es dadurch polarisieren kann. Dieses Barock-Anhaftende! Dieser Prunk! Doch dieses zum Verschwinden-Bringen und Neu-Machen, dieses Entdecken und Neu-Sehen, was vorher nur schwer zugänglich war, das interessiert mich zutiefst und mehr als das, was man vordergründig erkennt. Es ist so bedeutend für mich, dass ich entzückt ganz viel in meiner Kiste erspähe, was ich durch diesen Vergoldungsprozess verarbeiten muss. Als Konsequenz entsteht allein durch meine Zuwendung und den Entwicklungsvorgang am Ende eine Art Würdigung des Gegenstands.

Vielleicht geht es mir auch darum, dass sich ein Objekt in seiner Form komplett anders darstellt als ohne die Vergoldung. Dieses Phänomen stelle ich besonders deutlich fest bei der Arbeit, die ich zunächst „Coocooninge“ nenne. Ich nehme mir vor, vier der fünf Nipa Palmenfrüchte mit Stoff und Faden einzuwickeln. Das fünfte Stück hingegen möchte ich blattvergolden. Das Einwickeln der vier benötigt Zeit und etwas Geschick, denn für den Stoff verwende ich glatte Stoffstücke von einem ausgedienten Regenschirm. Danach wickle ich alles mit einem dicken Naturfaden großzügig ein und zuletzt bade ich diese Früchte in einem Kleisterbad, bestreiche sie anschliessend mit einer hellen, dicken Farbe. Es ist eine Arbeit, die ich zunächst im Kopf habe. Doch das, was ich am Ende in den Händen halte, wirkt anders als angedacht und verkörpert etwas für sich. Dieses Etwas muss ich dann in meinem Kopf umstellen, sprich, das alte Bild vergessen oder in einen neuen Dialog treten. Es ist eine Art Kennenlernspiel auf der einen und ein Verabschiedungsszenario auf der anderen Seite. Ich sage so. Es macht anders.

Das goldene Stück der „Coocoonige“ hebt sich jetzt so stark von den anderen ab, dass ich die Form zunächst untersuchen muss. Es sieht gar nicht wesensgleich aus. Ist es wirklich dieselbe ursprüngliche Beschaffenheit oder habe ich versehentlich eine falsche Frucht zur Hand genommen? Ich habe einige Samen und Früchte angesammelt. Eine Verwechslung könnte mir leicht untergekommen sein, denn ich arbeite fieberhaft. Von morgens bis abends stehe ich auf den Beinen. Ich gehe zwischen Keller, meinem Wohnzimmer, der Küche, dem Tisch im Garten hin und her. Ich arbeite im Akkord, diszipliniert, aber vor allem wie in einem trunkenen Geisteszustand. Erst nach dem Abendessen komme ich ein wenig zur Ruhe und mache so etwas wie Feierabend. Müde bin ich, aber angetan von dem, was mir der Tag gebracht hat.

Im Kopf denke ich trotz meines Schaffens an den Werken bereits rein hypothetisch wiederkehrend darüber nach, dass die nächste Ausstellung anders sein würde. Nicht mehr so eklektisch, nicht mehr so kunterbunt, nicht mehr der ganze Kosmos. Es würde homogener werden. Ach, diese Vielfalt und das Heterogene, die sich durch mein Leben ziehen! Das ist mir bestens bekannt. Mir, die sich vor Ideen gelegentlich nicht retten kann und von denen ich mehr habe als so mancher, den ich kenne. Ich komme immer wieder an den Punkt des „Sowohl-als-auch“. Ob das am Ende gut ist? Ich weiß es nicht. Aber es ist so. Und je mehr ich unternehme und meine Flügel ausstrecke, desto mehr nehme ich auf diesen Flügeln mit, wenn ich erst beginne herumzufliegen. Der Fahrt-, respektive der Flugwind selbst spielt mir manchmal die Ideen förmlich unter die Flügel. So kommt mir das jedenfalls vor.

Es geht mir gut, trotz der schweren Beine. Tagein tagaus sind meine Hände in Bewegung, in meinem Kopf dreht sich alles um Formverschiebungen, um Verlagerung der Schwerpunkte, um Materialkunde, darum, was ich tun könnte, um etwas Neues zu schaffen oder so zu komponieren, dass es im weitesten Sinn zu einer der Skizzen passt, die ich aus der großen Schachtel herausgezogen und auf den Stapel „Versuche“ gelegt habe. Denn nach der Sichtung der Inhalte, die sich in den letzten Monaten immer wieder sporadisch ergab, kristallisierten sich klare Favoriten heraus, die vorgaben, in irgendeiner Form adaptierbarer, umsetzbarer, fassbarer zu sein als andere, die in der Schachtel bleiben mussten. Ich prüfe diese Ideen erneut, vergleiche sie mit den ursprünglichen Einfällen und setze sie mit Entwürfen zusammen, die beginnen, sich mit reell existierenden Bestandteilen zu mischen. Bis ich also ein Objekt konkretisieren und ans Materielle anbinden kann, wird es durch meine Hände gesiebt.

Doch auch aus den Dingen heraus ergeben sich neue Formen. Ich schaukle Bruchstücke in meiner Hand, betrachte bei Tagesund bei Abendlicht gewisse Oberflächen manchmal so lange, bis sie oszillieren. Dann greife ich zu und weiß, dass ich mit ihnen weiterarbeiten werde. Andere dösen vor sich hin und lassen mich unbekümmert. Sie wirken nicht und ich spüre, dass wir in diesem Sommer keine Freunde werden.

Ich will unbedingt mit einem unschönen, unförmigen Konstrukt aus Plastik arbeiten, das stolz seine Borsten präsentiert wie Zähne, die zum Fletschen bereit sind. Es beschwört mich, aber es verweigert sich mir zugleich. Ich liebe seine Form, auch seine Hässlichkeit, doch ich weiß nicht weiter. Ich ertrage den Anblick des Kunststoffs erst wieder, als ich das Objekt mit dicker, fester Metallfarbe anmale. Das Stück wird einheitlicher, allerdings noch immer weiß ich nichts damit anzufangen. Ich bin sicher, dass ich dranbleiben werde. Es entsteht eine kleine Hassliebe. Der Widerstand nagt an mir auf entzückende Weise.

Ein ähnliches Phänomen erkenne ich bei der später benannten Skulptur „Elemente“. Zufällig entdecke ich in einer alten Holzkiste unter einem Kellerregal sehr schwere Metallbolzen, deren Zweck sich mir nicht erschließen. Ich möchte damit arbeiten, doch es fehlt eine annehmbare Idee. Diese Ohnmacht zu wollen auf der einen Seite und dieses Loch im Kopf auf der anderen, könnten mich zur Verzweiflung bringen, aber ich entschließe mich dagegen. Ich bleibe dran, ohne mich daran festzuklammern. Denn wenn ich das würde, würde ich Stunden damit verbringen etwas anzuschauen, derweil nichts entstünde. Ich habe für Meditationen dieser Art keine Zeit. Nicht jetzt. Ich erinnere mich an eine Künstlerin, die ganze Nächte damit verbrachte eine leere Leinwand anzuschauen, zu rauchen, Wein zu trinken und keinen Pinselstrich zu machen. Auf diese Qualität und Erfahrung muss ich verzichten, denn schon bald wird alles vorbei sein. Das Datum rückt unweigerlich näher, und nebst der Schaffung der Objekte, müssen sie später alle noch fotografiert, in die Werkliste aufgenommen und in den Räumen platziert werden.

Lu meldet sich nicht, aber ich weiß, dass sie ebenfalls dran ist. Ich vertraue ihr und schätze insgeheim die Ruhe. Alles wird zu seiner Zeit besprochen werden. All die Details, die Organisation vor Ort. Jetzt aber sind die Stunden der reinen, kreativen Zeit, in die nichts Weltliches hineinfunken darf. Es ist Jahre her, seit ich in den Ausstellungsräumen war. Ich habe die Räume im Geiste vor mir. Die Raummasse verschwimmen in meiner Erinnerung. Ich versuche mir vorzustellen, wie wir das gemeinsam machen werden und doch breche ich die Gedanken ab. Wir arbeiten unabhängig und mit ganz anderen Techniken, auch mit anderen Motivationen, Hintergründen, Zielen. Es gibt für diese Ausstellung nur drei Möglichkeiten: Wir bespielen die Ausstellungsräume gemeinsam. Wir haben jede für sich sowohl unsere eigenen als auch solche, die wir gemeinsam nutzen.

Inzwischen habe ich viele Objekte fertig vorliegen. Sie vertragen sich gut miteinander und es gibt keinen Grund sie mit noch ganz anderen Objekten zusammen zu bringen. Es sind viele kleine und mittelkleine Kunstwerke dabei, die bereits durch ihre Proportionen und Größen irgendwie zusammengehören. Ich habe gelegentlich nur sanfte Eingriffe gemacht. Hochgefühlen nicht stattgegeben. Die Energieschübe gelegentlich gedämpft. Es gibt Arbeiten dabei, die mir noch immer Rätsel aufgeben. Ich möchte bewusst auf den ganz großen Raum verzichten und stattdessen lieber die kleinen Räume für mich haben. Der große Raum wird wunderbar zu Lu’s Werken passen. Ich schreibe ihr das und auch, dass ich das aufrichtig so meine.

Meine neu arrangierte Kiste ist zu einem Panoptikum der Vielfalt an Formen und Materialien herangewachsen. Es hat erstaunlich wenig mittelschwere Sachen dabei. Entweder gibt es Leichtes wie Federn oder Baumpilze, die ich in der Natur gesammelt habe oder Schweres wie das alte Stück Beil. Ich habe auch einen Sack voll von Steinbrocken. Ich habe mich mit vielversprechenden Leimen ausgestattet und habe Pinsel nachgekauft. Der Becher ist mit Terpentin gefüllt und riecht streng. Ich habe mich daran gewöhnt. Ich wasche meine Hände mehrmals stündlich damit. Meine Haut ist weich geworden. Nicht aus Eitelkeit wasche ich so regelmäßig, aber weil ich nur mit frischen Händen neue Objekte greifen möchte, vor allem wenn ich sie das erste Mal betaste. Richtig sauber werden die Hände ohnehin nicht. Um meine Nägel herum hat sich ein dunkler Farbrand gebildet, der trotz des abendlichen Eincremens mit einer dicken Handcreme nicht weggeht. Ich befürchte, dass das in den nächsten Monaten noch so sein wird und ich sehe mich auf meine Ringe verzichten, an öffentlichen Orten meine Hände in Taschen versteckt haltend, eine Entschuldigung stets auf den Lippen.

Ich stehe wie jeden Tag gutgelaunt auf. Über das Chaos vermag ich mich nicht aufzuregen.

Ich sehe es quasi nicht oder verbiete mir den Blick der gewissenhaften Putzfrau. Die Objekte, die fertig ausgeführt sind, scheinen in meiner Betrachtung beinah zu schwingen. Sie stehen für sich und es ist schön, ihnen zu begegnen, sie in den Händen zu halten, sie anzuerkennen als das, was sie jetzt sind. Die Namen für sie fallen mir oft schon während des Machens zu. Vielleicht, weil ich mich in den letzten Jahren so viel mit der Sprache befasst habe. Die Werktitel sind manchmal sogar schon da, noch bevor ich richtig begonnen habe. Wenn ein Objekt trocken ist, einen Namen hat, dann kann ich es schon bald in die Ausstellungsräume denken. Doch mit der Platzierung möchte ich mich trotzdem nicht zu früh befassen. Das ist eine andere Bühne. Ich spüre, dass das zu einem großen Teil Improvisationskunst sein wird, wenn ich erstmals dort bin. Die Proportionen werden mir ansonsten einen Strich durch die Rechnung machen. Außerdem ist die Zeit nicht richtig für allfällige Berechnungen, die in eine andere Realität und Zeitrechnung gehören als in diese hier.

Ich wache auf und prüfe zunächst das Wetter. Wenn es kurzerhand umschlägt und schlechter wird, bin ich vorbereitet. Der große Sonnenschirm über dem Tisch ist auch nachts aufgespannt und kann das Schlimmste abwenden. Abends trage ich die besonders heiklen Sachen herein. Es gibt Objekte, denen ich etwas Regenschauer wünsche und bei denen ich mit der Natur zusammenarbeiten möchte. Ich lasse es mir selbst gut ergehen, habe keinen Druck mich weder groß zurechtzumachen, noch mich in gewöhnlichen Alltagsroutinen zu bewegen. Ich esse, was ich esse, ich wechsle die Garderobe kaum, sondern trage meine nach und nach schmutziger werdenden Ateliersachen. Das alte weite Poloshirt, Shorts und sonst nichts. Die Haare sind unordentlich zusammengeknotet, Parfüm bleibt unversprüht im Badezimmerschrank stehen und ich gehe barfuß umher. Ich gebe mich ganz meiner Natur hin und es fühlt sich gut an, sich um nichts zu kümmern, was mit meinem Aussehen zu tun hat. Die Kunst hat Vorrang und alles andere stellt sich hinten an. Auch der Blick in den Spiegel.

Doch die Laune meiner eigenen Natur erfasst mich trotzdem willkürlich. Einmal bin ich grundlos schlecht gelaunt. Vordergründig läuft alles nach Plan. Ich bin in Form, einiges an Werken steht bereits. Von einer kleinen Werkgruppe kann fast schon die Rede sein und die Inspirationsquelle ist alles andere als versiegt. Im Gegenteil. Je mehr ich kreiere, desto mehr Ideen ergeben sich. Ich weiß, dass ich für diese Ausstellung nicht alles werde verwirklichen können, was an Ideen ich mit mir herumtrage. Vor allem werde ich nicht ein Thema bis zur Essenz ausschöpfen und reduziert präsentieren können, sondern wird es ein Panorama meines visuellen, momentanen und angesammelten Universums sein, das die Besucher zu sehen bekommen werden.

Meine betrübte Disposition ist ohne kognitiven Grund. Sie ist einfach da und ich stelle fest, dass ich möglicherweise das Potential hätte zu einer Zicke zu werden, vorausgesetzt ich würde für längere Zeit in diesem kreativen Kosmos gefangen. Ich beschäftige mich über die Objekte indirekt mit mir selbst und in diesem Spannungsfeld zwischen Skizze, Material, Konkretisierung und Exponat liegt etwas in der Luft, das auf Dauer nicht bloße Zufriedenheit oder gar Glück ist. Unsichtbar sind da auch Abgründe, Unsicherheiten zugegen, kleinste Dämone. Ich merke, dass ich von Null auf Hundert in einen Krieg ziehe mit einem Kleber. Zum einen finde ich es problematisch einem Leim vollends zu vertrauen, zum anderen ist er da, um sich ja nicht bemerkbar zu machen. Daher möchte ich am liebsten, dass etwas klebt, ich aber mit einem Kleber erst gar nicht in Berührung komme. Wird er zudem halten, was die unsägliche Verkäuferin gesagt hat und wie es auf der Verpackung steht? Dass er durchsichtig bleibt und unverzüglich fest wird, sprich, dass er seinen Job gut machen wird? Ich nerve mich, dass meine Finger so dick sind und ich permanent lästige Klebereste entfernen muss, statt in meinem Flow zu bleiben. Ich brause auf, weil etwas nicht hält, da der Untergrund gewölbt und strukturiert ist. Ich zermartere mir wegen all der Kleber, jeder für etwas anderes geeignet, den Kopf und fühle mich ohnmächtig. Ich bin so genervt, dass ich alles hinschmeissen könnte.

Wie wohltuend ist hingegen das Bemalen eines rohen Holzstückes mit schwarzer Tusche. Es ist ein höchst harmonisches Spiel zwischen uns drei. Mir, der dunklen, eleganten Flüssigkeit und dem Objekt. Ich trage den tiefschwarzen Saft auf, das Holz saugt diese Farbe dürstend auf und verändert sich so sichtbar und unmittelbar vor meinem Auge, dass es ein wahres Fest der Sinne ist. Dieses Gefühl und dieses Tempo sind überwältigend. Ich bin von Natur aus eher ungeduldig. Im Akt des Tuns zeigt sich diese Eigenschaft besonders. Alles müsste so schnell gehen wie dieses Phänomen. Doch die Wirklichkeit ist langsamer. So viele Trocknungszeiten sind in dieser kreativen Zeit enthalten, dass ich nicht daran denken darf. Denn wenn ich daran denke, habe ich das Gefühl, dass in allen Ateliers dieser Welt nur am Rande etwas geschaffen wird, aber die wirkliche Zeit sich die Trocknung ganz für sich nimmt. Die egoistische Trocknung, als eine personifizierte Abstrakte, welche andere Anwesenheiten ausmerzt und wertvolle Stunden frisst.

Tagelang kommt es mir vor, als käme ich nicht weiter. Zwar arbeite ich täglich gute zwölf bis manchmal vierzehn Stunden, aber da ich gruppenweise vorgehe, liegen oft Objekte halbfertig herum, bis ich sie wieder anfassen und zu Ende bearbeiten darf. Nicht jeder ist für so ein Leben geschaffen. Manche können daran kaputt gehen, diese Zustände gelassen auszuhalten. Manche kommen möglicherweise nicht weiter, weil sie sich monatelang über einen Strich Gedanken machen und ertrinken in diesem Gedankensprudel, darin begraben die Idee. Manchen ist möglicherweise nicht bewusst, dass zu lange in einer Ateliersituation zu sein ohne die Anbindung an die restliche Welt eine Blase ist, die sie da draußen schwächt. Gut für diejenigen also, die mit Schwung und Kraft Dank und trotz der Erschaffung von Werken stolz aus ihren Ateliers treten und außerhalb ihrer Stätten auf dem weltlichen Boden weiterfahren, sprich sich in anderen Sprachen ausdrücken, koordinieren, managen, eloquent bleiben, Normen und Formen einhalten, kooperieren und bis zur großen Show tapfer durchhalten können. Chapeau.

Ich habe das Gefühl, dass ich ohne ein gutes Konzept und ohne meine innere Ausgeglichenheit und disziplinierte Veranlagung die Balance verlieren könnte. Ich würde möglicherweise, übersensibel reagieren, seltsam, kapriziös werden. Ich würde mir Marotten aneignen. Ich könnte den guten Umgang verlieren, wer mir im falschen Moment zu naheträte. Eremit. Skeptiker. Misanthrop. Eigenschaften, mit denen ich mich identifizieren kann. Ich würde zeitweilig wahrscheinlich die Objekte und Pinsel richtigen Freunden vorziehen. Ich würde sozusagen offline gehen, wenn ich die Türe meines Ateliers beträte. Ich spüre den pessimistischen Einzelgänger in mir, ich erkenne das Misstrauische und ich registriere das ganz und gar Kauzige in mir, das nicht gesellschaftsfähig ist.

Ein Atelier ist aber auch ein Arbeitsort, stelle ich fest. Es ist zudem ein Spielund Tummelfeld. Wehe dem aber, der die Ironie oder die Selbstironie nicht hereinlässt. Wehe dem nicht Krisen Erprobten. Dem, welcher eine familiär ungünstige Ausgangslage hat, die Tendenz hat wankelmütig zu sein, zu Depressionen oder chronischen Gebrechen neigt. Der, der Mühe hat strukturell zu denken und es sich nicht einrichten kann mit dem, was ihm so ein Raum wie das Atelier bietet. Idee, der Weg mit ihr, dann nach draußen und wieder zurück. Dem Labilen droht das Atelier womöglich ein gefährlicher Ort zu werden. Ein Fass ohne Boden. Ein Ort, wo sich Verrohung und Verzweiflung die Hand geben. Wo der Höhenflug mit dem Fall einen schwarzäugigen Walzer tanzen.

Ich denke an all die Künstler, die gerade jetzt in ihren Ateliers sind. Sie arbeiten, mit welcher Methode und in welcher Technik auch immer. Ich sehe ihre Innenwelten, die sie mal heraustragen, mal auf eine Leinwand malen, mal mit einem Zigarettenqualm ausblasen. Sie lassen Zeit verstreichen als hätten sie davon ein paar Portionen mehr. Sie lassen sich von der Zeit als Wolke einnehmen als gäbe es die Uhr nicht. Es ist eine Zeit, wo andere schlafen. Eine Zeit, wo jemand einen Hund spazieren führt, wo ein Bein geröntgt wird, Lebensmittel auf einem Förderband zur Kasse gefahren werden. Eine Zeit, wo jemanden das Haar geschnitten wird. Wo jemand einen Löffel Honig leckt.

Da ich meine Gedanken nicht schreibend verarbeiten kann wie ich es sonst tue, schwirrt ein Schwarm von diesen Hirngespinsten durch meinen Kopf und landet nur gelegentlich auf einen fruchtbaren Boden klarer Formulierungen. Mein Kopf kann in dieser Zeit nicht durchlüften, ich kann nicht profund reflektieren. Alles steht am Rande, unfertig, ungefragt. Als Hypothese hingestellt. Es fehlt nicht nur der Stift und Papier für meine Gedanken, sondern vor allem die Zeit selbst, in der sich Gedanken schreibend weiterentwickeln. Meine Zeit ist belegt mit dem Sortieren, Aussortieren und Ausscheiden. Ich arbeite wie unter einer Glasglocke. Und obschon sich Stücke manchmal wie von selbst ergeben, Namen bekommen und sich gut zusammen arrangieren lassen, bedauere ich zu wenig Zeit mit ihnen zu verbringen, um ihnen auf den wahren Grund zu gehen. Oder mir. Zu ergründen, warum sie eigentlich geworden sind.

Weshalb diese Bilder in einem knalligen Violett? Dies ist nicht meine Farbe. Wieso die Leinwände überhaupt? Warum habe ich auf dem Holzbrett die Klötzchen schräg geklebt und nicht akkurat angeordnet? Wollte ich es so oder hat mich im letzten Moment etwas übermannt? Wieso fühlt sich diese Skulptur aus Spitze nicht richtig an und die andere aus demselben Material hingegen schon? Liegt es am Ende an der raumfüllenden Arbeit mit Spitzenelementen, die ich letztlich verworfen habe, obschon ich sogar einen Bilderrahmen für sie opferte? Viele Fragen bleiben unbeantwortet und ein paar Objekte muss ich weit weg von mir stellen, weil sie mich sonderbar irritieren. Ich bin enttäuscht über missratene Versuche, aber ich bin kühn genug, um nichts zu erzwingen, was sich nicht ergeben möchte. Alles braucht seine Zeit und manche Gelegenheit zur Reflexion und neuer Handlung hat sich in der Zeit selbst wieder aufgelöst.

In die Arbeit „Elemente“ habe ich mich sofort verliebt. Ich möchte diese Arbeit für mich selbst behalten oder nur jemanden verkaufen, der mir höchst sympathisch ist oder der sich verständnisvoll und offen zeigt. „luschen laschen“ ist wiederum aus einer so persönlichen Geschichte entstanden, dass es ein Verrat an diesem Moment wäre, diese filigrane Wandskulptur Dritten zu überlassen. Dennoch möchte ich diese Arbeit mit den Besuchern teilen. Denn das Objekt hat weitere Varianten angenommen. Viele Steine ziehen sich durch meine Arbeiten. Gewöhnliche Kieselsteine, aber auch Versteinerungen aus Mangrovewurzeln finden sich darunter. Zudem geschliffene Achatscheiben, die in smaragdgrün, violett, hellblau glänzen. Auf vergoldeten Löffeln platziert, verbreiten sie Lust an ihnen lutschen zu wollen. Die Wüstenrosen sind skulpturale Wesen, deren schönste Seiten und Kanten ich schwarz nachmale und danach lackiere. Eine ist so anmutig, dass ich ihr den Namen schenke, der ihr gebührt: „Eine Erhabene“.

Ich studiere lange, was ich aus den beiden Blech-Stücken machen könnte. Deren Patina ist so einnehmend schön wie Anselm Kiefers und Gerhard Richters Arbeiten zusammen. Die Zeit selbst hat hier die Struktur geschaffen und ich bin demütig vor der Intervention und Kraft der Natur. Ich habe großen Respekt vor jedem Kratzer, daher schreibe ich nur in die Ecken dieser charismatischen Oberflächen zwei Wörter, die ich erfunden und sie in einem Gedicht untergebracht habe: „zipfelehrlich“ und „zahnradtreu“. Sie haben jetzt auch dieses Zuhause. Ich möchte dieses kleine Meisterwerk, das mir mehr zugespielt wurde, als dass ich es erschuf oder modellierte, nicht länger durch meine Hände lassen als nötig. Es genügt, dass ich die Schönheit demaskiere und ihnen einen Platz in der Ausstellung sichere. Das Diptychon ist für mich auch ohne weiteren Überzug aus Klarlack vollkommen. Jegliches Zutun von mir würde es bloß verschandeln.

Auch vor dem Marmorpaar, an dem zuvor vorsichtig gemeisselt wurde, und das schon bald „Königin und König“ heißen wird, habe ich Ehrfurcht. Die Stücke sind in den letzten Monaten von der Sonne prächtig schneeweiß geworden. Sie sind von solch subtiler Adernstruktur beschaffen, dass ich unmerklich zittere, als ich ansetze, das eine Stück mit Schwarz zu bemalen und das andere mit Blattgold zu bemänteln. Ich traue mich zwar, indes ist mir bewusst, dass ich jetzt nicht mehr zurückkann. Nie mehr wird das Weiß jenes Weiß von vorher, weder unter dem Gold, erst recht nicht unter dem satten Schwarz. Die Farbe verschwindet ins Innere des dicken Steins. Ich werde demütig, ich zweifle, Schwermut keimt auf. Mein Risiko wird nicht belohnt. Im Gegenteil. Ich befürchte die Unikate unwiderruflich zerstört zu haben. Ich muss die Arbeit daher abbrechen und mir die nächsten Schritte genau überlegen.

Ich gruppiere drei Wüstenrosen-Steine mit einer gebürsteten Metallstange mit geometrischen Zügen. Sie liegen zusammen auf der Steinplatte und schaffen Raum zum Nachdenken. Ich finde das gut so. Das Unfertige daran behagt mir. Ein Objekt, das ich nicht erklären werde. Es ist etwas störrisch. Es tanzt frech aus der Reihe der Schönheiten. Die schwarze Tuschfarbe kommt an dasjenige Schwarz heran, das ich liebe. Eine unbewusste Hommage an Solange? Vielleicht. Aber zwischendurch schwanke ich, ob ich nicht auch etwas Blau im Schwarz entdecke. Ich muss wahrscheinlich ein weiteres Schwarz suchen und das schwärzeste Schwarz finde ich in der Kohle selbst. Zwei Holzstücke stehen mir zur Verfügung. Ich kohle sie auf dem Feuer an. Es ist Vorsicht geboten, denn das Holz muss richtig brennen, um mir das Schwarz zu geben, das ich möchte. Und mit diesem Verbrennen geht ein Risiko einher, dass es bröckelt, dass ich mit Verlusten rechnen muss. Es ist etwas beschwerlich, die Skulptur „Island“, die tatsächlich wie ein Stück Land aussieht, nach dem Ankohlen mit Lack zu konservieren. Die Skulptur ist höchst anfällig für Brüche.

Ich klebe kleine Porzellanfiguren auf ein zwei Meter langes Holzstück. Ich lackiere, vergolde riesengroße Metallringe. Ich zerkratze Lackstücke und ich ordne Geldstücke und Metallstifte in eine weiche, einfache Form. Ich verbringe einen Nachmittag lang am Boden vor einem Becken, das mit Javel-Wasser gefüllt ist. Ich bade darin Bücher und Stoffe. Meine Hände sind schrumpelig, dann blutig, dann brennen sie. Vom Terpentin ist die Haut butterweich geworden, aber mit Handschuhen zu arbeiten, kommt nicht in Frage. Ich fahre zu gerne mit meinen Fingern den Oberflächen nach, ich benutze jeden einzelnen Finger und Fingernagel, den ich gerade brauche. Meine Fingerkuppen sind Radare, die mir Botschaften senden. Auf sie zu verzichten, käme einem Bekenntnis gleich, mich nicht tief genug ins Spiel hineinzugeben. Doch wenn man spielt, muss man im Spiel drin sein. Man darf nicht aussteigen.

Manchmal wünsche ich mir nicht nur zwei zusätzliche Hände zur Verfügung zu haben, sondern handwerklich begabter zu sein, um alles etwas souveräner und mit wörtlich sicherer Hand gekonnter anzugehen. Ich muss stattdessen ungelenk balancieren, mehrfach ansetzen. Versuche und Irrtümer stakkato abwechselnd. Dazwischen fallen Sachen zu Boden, zerbrechen, bekommen Dellen. Farbe verschmiert, ich klebe etwas falsch an, rutsche aus und sehe mich in einem Korrektur-Wirrwarr, der mich meine Nerven kostet. Ich versage mir zu viel Kaffee, denn er macht mich noch schusseliger als ich es ohnehin bin. Wenn ich mich besonders unbeholfen verhalte, weiß ich, dass ich nur noch gröbere Sachen machen kann, die ungefähr gemacht werden können. Das Lexikon im chlorierten Wasser baden, etwas Ordnung schaffen. Oder tief durchatmen, rechtzeitig aufhören und mir vorschreiben, erst am nächsten Tag wieder fortzufahren.

Ich spiele mich gut ein. Der Tag ist eingeteilt. Morgens kann ich die Elaborate vom Vortag beäugen. Ich kann von Tag zu Tag auf mehr aufbauen, auch Distanz schaffen, aus der ich hervortrete und mich den Gegenständen von Neuem annähere. Am Vormittag habe ich außerdem mehr Kraft, um schwerere Sachen zu heben. Zwischendurch, wenn ich warten muss, versuche ich Dinge zu sortieren, gehe in den Keller, suche die Schachteln ab. Zu viele Farben muss ich aus meinem Augenfeld schaffen. Das Farbige schadet meinem Arbeitsfluss. Ich muss gewisse Dinge überhaupt wegschaffen und stattdessen neue Komponenten nach oben holen. Es herrscht ein lebhaftes Hin und Her, Rauf und Runter. Ich habe wenig Hunger und wenig Durst. Meine Nahrung speist sich aus hier etwas Kleistergeruch, dort einem Klecks Ölfarbe, und manchmal atme ich vermutlich ein paar Goldstaubkörner von diesem Blattgold ein, das durch die Lüfte weht. Es gibt Momente, wo ich anstehe und nicht weiterweiß. Alle Inspiration ist auf einmal weg und was ich fertig gestellt vor mir sehe, ergibt keinen Sinn. Ich gebe mich diesen Augenblicken nicht hin. Ich weiche dann aus, indem ich mich im Garten ablenke. Nach nur kurzer Zeit kehre ich als neuer Mensch und als wäre nichts gewesen zurück ins Atelier.

Im Grunde bin ich ein Tiger, der nur auf den nächsten Rausch lauert, dem Strudel der Ideen nachzugeben. Der Überwältigung der Möglichkeiten untertan sein zu dürfen, die Sinne zu verlieren. Diesen positiven Stress zu haben, nämlich zu denken nicht fertig zu werden bis zur Ausstellung oder nicht alles zu schaffen, was ich gerne würde, ist mir allemal lieber, als wenn sich nichts tun würde und als wäre alles gesagt. Doch es tut sich zum Glück allerlei. Ich werde immer wieder heimgesucht von ganzen Ideensträngen. Ich gehe mit dem Fluss, tauche ein, schnappe nach Luft oder arbeite wie im Taumel, ganz vereint mit der Idee und den Impuls, der mitten durch mich geht. Ich bin noch lange nicht fertig. Vielleicht bin ich sogar erst am Anfang und was hier geschieht, ist ein Vorspiel. Selbst wenn ich nicht alles, was möglich ist, hervorbringen kann, was sich aufdrängt; es wird allemal zu schaffen sein, die Ausstellungsräume mit Werken zu füllen. Diese Zuversicht aus Prinzip kann mir keiner nehmen, erst recht nicht, wenn ich mehr zum Jux beginne zu zählen, was bereits fertig und mit Namen vor mir liegt. Ich zähle und zähle und kann nicht fassen wie viele Stücke sich bereits ergeben haben.

Ich könnte jetzt aufhören und eine reduzierte, gut austarierte Ausstellung machen. Das kann durchaus noch so kommen, muss es aber nicht. Ich habe noch ein paar Tage vor mir und ich möchte die Zeit bis zur allerletzten Minute nutzen und in meinem temporären Atelier verbringen. Wer weiß, ob ich am Ende keine Auswahl treffe, sondern alles anbiete oder behutsam das Beste vom Besten auswähle und die meisten Sachen zurück in den Keller verstaue, sodass pro Ausstellungsraum lediglich ein bis zwei Werke präsentiert werden, um die man dann herumgehen kann. Beides ist reizvoll: eine Flut an Ideen zu präsentieren oder eine Zen artige Ausstellung zu machen, die auf das Minimum reduziert ist. Wichtig ist mir, dass die Dinge zueinander sprechen und sich so etwas wie eine eigene Bildsprache bildet, der man sich nicht entziehen kann und auf die man sich vielleicht sogar einlässt. Dass sich alles miteinander verbindet, eine Ganzheit ergibt. Die Reduktion der Farben, das Gold, das sich durch die Werke zieht, unterstützen diese Vorstellung. Ich kann, wenn ich die fertig gestellten Elaborate betrachte meine Materialbegeisterung ausmachen. Sie ist offensichtlich und hoffentlich wirkt sie ansteckend. Nichts ist jedenfalls dabei, was nicht in irgendeiner Form in ihrer Materialität gefeiert wird.

Die Kupferbleche, die Versteinerungen, das Holz, die Korallen, exotische Samen, Garn, Papier und Stoff. Ich habe nebst meinen eigenen Kreationen einen alten Holzkessel mit Lavendelsamen vorbereitet und eine CD gebrannt mit angenehmen Geräuschen. Es darf sinnlich werden, auch für Ohr und für die Nase. Ich würdige eine Zeichnung von mir, die ich, als ich noch ein Kleinkind war, machte. Ich reproduziere das Gekritzel in Form eines Negativs in Gold. Eingebrannte Kuhmarken, die ich in Kuhfellen eines Möbelhauses fand, fotografierte und abzeichnete, finden sich in einer zwölfteiligen Arbeit. Die abstrakten, nicht auf Anhieb als Brandmarken erkennbaren Zeichen werden von mir einzeln getauft: Gambsa, Lorela, Alma, Glücka, Sissi, Ruthild, Emma, Zenzi, Butter, Annabel, Filou und Noisette. Sie waren alle mal und wer weiß, ob die eine nicht genau exakt so hieß. Ich ikonisiere sie nicht, ich abstrahiere und schaffe eine eigene Kaligraphie mit Tusche und auf Earl Grey Tee gemalte Mini-Leinwände.

Zwei bis drei Farbtupfer sind in wenigen Arbeiten auszumachen, ansonsten sind die Farben verhalten. Das Haus, in dem wir ausstellen werden, ist schneeweiß getüncht und dank der vielen Fenster ist es dort sehr hell. Das Schwarz und Gold wird dort bestens zur Geltung kommen. Ich habe mich mit Lu geeinigt, dass sie den großen Raum nimmt. Ich bin froh darum, denn so kann ich mich durch diesen Ausschluss und Entscheid denjenigen Räumen in meinem Kopf widmen, die mir zustehen werden. Die kleinen beiden Zimmer, der schmale Gang im ersten Stock, dazu noch etwas Raum beim Empfang unten. Ich bin zufrieden. Lu ist sich inzwischen sicher, dass sie nur ein einziges Thema bespielen wird. Ein Motiv, dafür in verschiedenen Varianten. Das ist stark und umso mehr bekräftigt es mich, dass es richtig ist, dass nämlich ihr der große Raum zusteht, wo Lu die vielen Varianten just dieses einen Themas präsentieren kann. An der Präsentation arbeitet sie noch. Im kleineren Raum plant Lu eine Installation. Unerschrocken ist ihre Aussage, dass nichts zu verkaufen sein wird. Das kommt einem Statement gleich.

Ich tue mich nicht schwer damit, die Sachen zum Verkauf anzubieten. Ich kann zwar gut loslassen, bis auf ein paar Sachen, die ich wirklich mehr und mehr liebgewonnen habe, je mehr ich sie betrachte. Aber die Preise festzulegen, verunsichert mich. Es gibt keine Galerie, die mit mir die Margen errechnen könnte. Ich habe als Künstlerin keinen Namen. Ich habe keinen Anhaltspunkt, hingegen unzählige Theorien dazu. Ich weiß gut, dass zu günstig ebenso schlecht ist wie zu teuer und überheblich möchte ich nicht sein. Ich bin nicht niemand und doch bin ich auf diesem Gebiet neu, mehr sogar. Ich bin jemand, der das Gebiet nur kurz streift und sich nicht darin einnisten wird. Außerdem ist alles auch Spaß und dient nicht dem Geldverdienen. Ich möchte nicht umrechnen, wie viele Stunden in den Arbeiten stecken und all die verborgene Zeit, die mit dem Kreieren ebenfalls zusammenhängt. Das erscheint mir zu kompliziert und führt mich nicht zu den gewünschten Resultaten in Zahlen.

Alles zusammenzutragen, über Jahre hinweg, hat mich extrem viel Zeit und Energie gekostet und meine eigene Zeit empfinde ich ja als höchst kostbar, im Grunde unbezahlbar. Aber ich habe sie da nicht gezählt und wäre sie in dem Moment kostbar, wenn ich sie zugleich zählte? All die Prozesse des Durchkämmens, Aussortierens, Verwerfens, Reflektierens. Die Arbeit selbst mit meinen eigenen Händen, in der ich nichts anderes tat als eben zu kreieren, und nicht zuletzt all die noch kommende Zeit: Unsere Präsenzzeit in der Ausstellung, meine Fahrten dorthin und wieder zurück. Und doch kann ich keine gemachten oder noch kommenden Autokilometer in die Kalkulation einbauen oder eine Gegenrechnung aufstellen, was ich in dieser Zeit verdiente, wenn ich einer anderen Arbeit nachgehen würde. Das ist müßig. Ich konzentriere mich daher einzig auf die Situation selbst und darauf, welche Art von Besuchern kommen könnte und was ein solch potentieller Käufer bereit wäre zu zahlen, wenn ihm etwas zusagte.

Die Kalkulation und Preiserörterung darf mich in meinem Arbeitsfluss nicht stören. Diese Gedanken sind nicht richtig. Es ist irgendwann auch nicht mehr richtig, in die Schachtel zu schauen und zu kontrollieren, ob man nicht doch etwas vergessen hat zu berücksichtigen. Die Dinge haben übernommen und zeigen mir nach und nach, in welche Richtung es mit ihnen gehen soll. Ich füge mich ihnen und gehe mit. An einem Tag wünsche ich mir keinen Einfluss von außen, sondern möchte zur inneren Beruhigung eine weiße Leinwand bemalen. Gesagt getan. Ich arbeite mit Acryl. Eine Hassliebe. Denn so schnell alles trocknet, so sehr hat diese Farbe gegenüber einer Ölfarbe das Nachsehen. Sie ist nicht so edel, hat diese Tiefe nicht. Doch sie passt zu mir und meinem ungeduldigen Naturell. Zudem habe ich kein Talent für die Königsdisziplin der Ölfarbe. Andere haben das und gut ist, wer es rechtzeitig erkennt und das für ihn Richtige wählt.

Ich bin mittendrin. Ich jongliere und spüre meine Beine nicht mehr. Es ist wie es ist und mir ist alles egal. Es kommt noch immer zum Essen das auf den Tisch, was auf den Tisch kommt. Der Geschirrspüler füllt sich, derweil der Kühlschrank sich leert. Einen Lebensmittelladen zu frequentieren kommt nicht in Frage. Ich möchte niemanden sehen und mit keinem kommunizieren. Ich versage mir den Computer und das Checken von Emails. Ich habe das Handy ausgeschaltet, ich funktioniere wie ein Roboter. Aufstehen, Tee machen, zu meinen Gegenständen gehen, die wie Magnete auf mich wirken. Dann widme ich mich ihnen. Heißt, ich analysiere, bessere nach, sodann gehe ich an neue. Also erkunden, untersuchen, ausprobieren und zusammenstellen, kleben, bemalen, kratzen, formen, spachteln.

Die Launen kommen und gehen, und sie wechseln rasch. Von Begeisterung und Staunen bis zum ärgerlichen Fluchen über Misslungenes, vom Ratlosen bis zum Scharfsinn oder Vorfreude, alles ist möglich in einer einzigen Minute. Diese Gefühle rasen in mir, Gedanken gehen mir durch den Kopf oder gar keine, während ich stundenlang an etwas feile und anstreiche. In mir ist Schwung und Zuversicht und ich mag, was ich gerade tue. Ich mache mich gefügig, gebe etwas auf für etwas anderes. Es ist ein Rahmen, den ich mir hier geschaffen habe, der nicht sprengen wird. Ich werde nicht das Allerletzte aus mir herausholen müssen, habe nicht vor, Nachtschichten einzuplanen, möchte wohl eher gemäßigt und besonnen abschließen. Das ist mein Naturell. Die Tage bis zur Ausstellung sind zählbar geworden. Ich erwarte keine Krise. Ich empfinde mein Tun als erfüllte Zeit, als den reinen Luxus. Dieses temporäre Atelier mein Spiel. Ich werde schon in wenigen Wochen alles aufgeräumt haben. Wenn Gäste zu mir kommen werden, wird nichts mehr darauf hinweisen wie verwüstet es hier derzeit aussieht.

Ich mache zurzeit, was ich machen möchte, aber nicht muss. Das fühlt sich wie ein weiteres Geschenk an. Steht eigentlich mein Ruf auf dem Spiel? Nicht wirklich. Sind andere finanziell darin verstrickt? Nein. Das Risiko trage ich alleine und der Preis, den ich zahle ist nicht besonders hoch. Lu trägt ihren Teil alleine für sich. Sie sagt mir, dass sie zufrieden ist. Wir freuen uns auf das Bevorstehende. Lu betont zudem, wie wichtig es doch war, diese lange Zeit vor uns gewusst und dennoch dieses konkrete Datum in der Agenda stehen gehabt zu haben. Ich kann ihr nur beipflichten. Wir haben uns dieses Datum gesetzt, aber auch unser Wort gegeben. Und wir haben uns Zeit gelassen, um alles in Ruhe zu planen, zu durchdenken. Wir nennen es jetzt beide ein Spiel. Ein Spiel, dessen Regeln wir aufgestellt haben. Es ist inzwischen über ein Jahr her, seit diese Idee ausgesprochen wurde.

Ich bin mit den „Coocooningen“ noch immer nicht zufrieden. Doch ich möchte keinesfalls auf sie verzichten. Das goldene Stück ist soweit gut, bis auf die Tatsache, dass es aus der Reihe tanzt, als hätte es mit den anderen Vieren nichts gemein. Aber das ist nicht richtig. Ich bin etwas unglücklich über diesen visuellen Unterschied. Diese Samen gehören alle zusammen, auch wenn dieser mit seinem Goldglanz beeindruckt und die anderen mit Stoff und Garn eingeschnürt sind. Die anschließende Verkleisterung und Bemalung hat ihnen gutgetan, auch wenn ich es ursprünglich anders vor meinem geistigen Auge sah. Die Sachen machen seit Längerem, was sie wollen und ich fühle mich gelegentlich wie ihr Sklave, der gehorcht, wonach sie rufen.

Ich befasse mich immer wieder mit diesen „Cocooningen“. Ich ergänze den Werktitel mit „Familienkonstellation“. Dann ändere ich ein letztes Mal ab und beschließe, sie endgültig in: „Familienaufstellung: „Coocooninge“ zu taufen. Ich möchte die Arbeit zur Seite stellen, doch auf einmal beginne ich diese Familie umzustellen, mich in diese „Coocooninge“ hineinzuversetzen und zu hinterfragen, was diese Familienaufstellung bedeuten soll. Was, wenn man auf die Idee kommen könnte, dass ich mich als das goldene Stück sehe? Müsste ich mich rechtfertigen? Darüber hinaus sehe ich keineswegs mich. Ich schweife gedanklich ab zu anderen Familien und sehe durchaus, dass man auf den ersten Blick das goldene Einzelstück hervorhebt als eine Maxime, als das Beste, das Einzigartige. Doch ist es das Beste? Oder handelt es sich um einen Stellvertreterplatz, an dem jeder einer Familie mal seinen Platz hat?

Die Arbeit beginnt in mir zu arbeiten und ich setze mich meinen Gedanken aus. Vieles, was ich denke, ist falsch und ich möchte es anders sehen, nur wie? Ich kann keine Anweisung hinzuschreiben, wie man diese Arbeit zu verstehen hat. Das ginge zu weit und wäre ebenso richtig. Ich gehe nochmals meine Familie durch und es fällt mir wie Schuppen vor den Augen, dass doch jede und jeder Einzelne von uns just dieses Goldstück ist. Denn Gold meint hier nicht etwa besser, sondern anders. Und jeder einzelne unterscheidet sich grundlegend vom Anderen. Keiner ist wie meine Mutter. Keiner wie mein Vater. Keiner wie die eine und erst recht nicht wie die andere Schwester. Somit ist jeder besonders, vor allem, wenn er gesondert betrachtet wird. Ich bin auch anders und ich versöhne mich allmählich. Diese Arbeit hat mich zu Gedanken geführt, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Sie hat mich zu einer, vielleicht banal anmutenden, und doch einer kleinen Erkenntnis gebracht. Zumindest konnte ich durch die Identifizierung etwas deutlicher erkennen, was ich eigentlich weiß, aber sich bisher nicht in dieser Form gezeigt hatte.

So ergeht es mir mit anderen Objekten nicht unähnlich. Sie zeigen mir etwas auf, lassen mich etwas hinterfragen, bohren nach, auf was ich hinauswill. Sie vermögen etwas zu entschleiern. Sie verbergen auch meinen Humor nicht. Sie lassen mich in etwas Vergangenes schauen, schwemmen Erinnerungen nach oben, die längst vergangen schienen. Sie verkleiden sich in neue Formen, um mir etwas Uraltes zu verdeutlichen. Sie stellen sich dar, entschlüpfen aus ihren Quellen und überzeugen mich, dass es ihnen nie anders wohler war als in dieser neuen Form. Ich habe Respekt vor diesen Stücken, die manchmal anordnen «bis hierhin und nicht weiter». Ich bin jedes Mal, sobald alle Korrekturen gemacht sind, ein Werktitel vergeben ist, ungemein erleichtert und verspüre von einer Sekunde zur nächsten kaum einen Drang, mich nochmals an die Arbeit zu machen. Ich habe auch keine Lust mich in den Erzeugnissen zu suhlen.

Bisher dachte ich, dass ein Künstler ein Grundthema mit sich herumträgt und es in physische Arbeiten übersetzt. Oder dass er allenfalls ohne Plan immer wieder auf seine Kernfrage zurückfällt und dass sie sich dann variantenreich als ein Grundmotiv durch sein Werk zieht. Oder dass die Werke seine Seele, wie sie zur Zeit der Schaffung ist, offenlegen. Kurz, dass das in ihm Getriebene nach außen quillt. Dass so läppische Objekte wie die „Coocooninge“ selbst in einen Dialog mit mir treten, mich aufsuchen, mich zum Nachdenken bringen würden, hatte ich nicht auf meinem Radar. Sie entflammten einen Gedanken, liessen mich grübeln, um mich am Ende versöhnlich zu stimmen. Die Form trat in diesem Fall auch hinter das Erlebnis zurück, das sich nicht einen neuen physischen Weg bahnte, sondern in der Gedankenwelt bei mir blieb. Die Form und was die Objekte darstellen, wurde unwichtig, da ich eine Lehre für mich herausziehen konnte. Die Objekte sind zur verlorenen Gussform geworden. Die Transformation fand nur vermeintlich äußerlich statt. Faktisch ist aber alles, auch hier, hauptsächlich eine innere Angelegenheit.

„Sieben Tage am Meer“ entsteht plötzlich, lustvoll, und wie von selbst unter meinen Händen, nachdem ich das Gerüst als für nicht umsetzbar erklärt und zur Seite gelegt habe. Doch die sieben Korallen und Fundstücke vom Meer finden wie von alleine ihren Platz in dem kleinen Borstenschlitz und ich bin überglücklich sie alle dort verstaut zu sehen, als wären sie dort zuhause. Sieben Stück haben Platz und was ist alles in einer Woche am Meer möglich? Die Welt kann zusammenbrechen. Eine neue Liebe kann entstehen.

Ich stelle während meines Arbeitens fest, dass ich eine Bewunderung für bestimmte Materialien hege. Wahrscheinlich geprägt von dem, was mir bisher begegnete, was auch meiner angelegten Ästhetik entspricht, und worauf ich einst ansprach, vertiefte ich diesen Gesamteindruck, indem ich jetzt Ähnliches, Ergänzendes, Verwandtes aufspüre und mir zu eigen mache. Nicht immer geschieht die ästhetische Prägung rein willentlich, indem ich bestimmte Künstler verfolge, deren Kunstmonografien ich kaufe oder durch deren Ausstellungen ich gegangen bin. Viel öfters lasse ich mich wie beiläufig finden. Eine Inspiration, bin ich überzeugt, lässt sich nicht planen, nicht erzwingen. Einen guten Rahmen zu schaffen für die Beflügelung ist in meinem Fall das Flanieren an den Sachen vorbei, die mich dann von der Seite einnehmen dürfen, wenn sie stark genug sind, um sonach in mich zu gehen. Die Begeisterung für ein Material verwandelt sich bei meiner Annäherung in Bewunderung, Verzauberung. Je mehr ich damit arbeite, desto mehr komme ich dem Material näher. Ich gerate dabei auch an meine Grenzen, muss das Material überwinden oder annehmen und mit den vorliegenden Begebenheiten mitgehen oder irgendwie klarkommen. Ich verfremde, damit es sich mir auf neue Weise erhellt. Ich breche auf, damit die Gegenwart sich offenbart. Ich gehe dem Erbe nach, das ein Gegenstand mit sich herumträgt, indem ich mich an ihn hänge mit dem, was ich mitbringe und was mir in einem Augenblick zur Verfügung steht.

Der Widerstand bleibt erneut nicht aus. Eine Farbe zerfließt zwischen den Steinfalten. Das Holz möchte nicht brennen. Das Blattgold hält nicht. Der spontane Exkurs zur Ölfarbe macht mich ungeduldig. Die Farbe will nicht trocknen, ich aber möchte mein Wolkengebilde beenden. Die getrocknete Acrylfarbe hingegen ist noch viel matter als ich dachte und ich überlege, mein Atelier zu verlassen, um Firnis zu kaufen und somit die erwünschte Tiefe und glänzende Oberfläche zu bekommen. Den Kleister habe ich eine Spur zu flüssig angemacht. Der Überlack geht auf einmal aus. Pinsel um Pinsel verliert Form, wird steif, weil ich vergessen habe ihn ins Terpentin zu tauchen. Gleichwohl darf ich Frust nicht aufkommen lassen. Das Spiel, das mal ernsten, mal berauschenden Charakter hat, darf nicht unterbrochen werden. Ich muss wachsam bleiben, meine Hände koordinieren. Darüber nachzudenken, dass eine dritte, vierte, fünfte Hand mir sehr dienlich wäre, ist absurd und doch belagern mich regelmäßig solche Gedanken.

Ich ärgere mich, weil ich der Verkäuferin, die einen Leim für mich aussucht, dumme Fragen stellt. Ich möchte ihr nicht antworten, wenn sie wissen möchte, woran ich arbeite. Ich bin ihr gegenüber misstrauisch. Wir mustern einander kritisch. Auf der Zunge liegt „Das geht Sie nichts an“ und doch ist mir auch bewusst, wie verwildert ich für sie im selben Moment aussehen muss. Mit meinen ungemachten, seit Tagen nicht gekämmten Haaren. Mit meinen verdreckten Fingern, dem verbeulten T-Shirt, denn umziehen mochte ich mich für den Baumarkt nicht. Möglich, dass ich heute das Deo vergessen habe und ihr wie ein außerirdisches Wesen vorkomme. Die Skepsis ist von ihrer Seite deutlich spürbar. Ich nehme mich daher zusammen. Ich erkläre, leicht abstrahiert, was der gewünschte Leim leisten soll. Sie arbeitet mit einer Tabelle. Es ist nicht leicht in meinem Fall, da ich Schweres auf Leichtes kleben möchte, dazu ist nichts flach und es muss für mich rasch gehen. Ich benötige außerdem viele Kleber für allerlei Sachen. Wir kommen nur langsam in unserer Kommunikation voran. Ich mache ihr klar, dass ich nicht stundenlang andrücken, keine Tage warten kann bis zum nächsten Schritt. Sie ist überfordert, überreicht mir eine Handvoll Kleber. Am Ende wird die Buddha-Figur trotz teurem Einkauf eine Herausforderung sein, und das Bekleben mit den großen Steinen wird sich wohl bis zuletzt hinziehen.

Ich vertraue meinem Instinkt. Mein Auge korrigiert, die Hand gehorcht. Manchmal ist die Schulung andersherum. Ich staune, wenn ich beim zufälligen Vorbeigehen feststelle, wie die Objekte harmonieren und den Eindruck vermitteln in einem größeren Zusammenhang zu stehen. Vielleicht wird hier mein momentaner geistiger Zustand visuell aufgespannt und bloßgelegt, vielleicht werden Grundsteine gelegt für eine Reise in die Zukunft. Wie selbstverständlich arrangiere ich Bestandteile, die zueinander möchten. In den meisten Fällen ist es das Material selbst, das mich aus sich heraus von meinen Gedankeneskapaden zurückhält, eigentlich sogar zu erden vermag. Das Material ist oft die Ausgangsbasis. Es ist auch das, was bleiben wird. Ob ich es verändere, kombiniere oder anders aussehen lasse. Am Bleibenden des Materials kann ich mich halten, von dort meine Unternehmung beginnen und dorthin von der Reise zurückkehren. Das ist seltsam tröstlich.

Zufällig entdecke ich eine weitere Schachtel mit neuen Inhalten, die meine Situation kurzerhand durcheinanderwirbelt. Die schweren, Messing farbenen Bolzen gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich will mit ihnen etwas machen, aber sie verweigern sich einer Zusammenarbeit. Diese Stücke sind schwer und ich studiere die Klebeeigenschaften all der Kleber, die ich am Ende gekauft habe. Ich nahm noch ein paar mehr, als die empfohlenen, sodass alles, was die Verkäuferin dazu erklärt hatte, hinfällig wurde, da alles durcheinander ist. Ich muss alles selbst nochmals durchgehen, ausprobieren, scheitern. Meine Finger kleben einmal mehr. Der Leim verflüssigt sich und just der Kleber, der sich am besten bewährt und widerlich nach altem Fisch riecht, geht viel zu rasch aus. Ich bin nicht sicher, ob er bis zum Ende dieser Tage ausreichen wird.

Es ist ein kühler Morgen. Ich bin früher wach als sonst und ich lasse meine Arbeit bewusst auf der Seite liegen. Ich bin etwas matt. Ich habe das Gefühl mich im Kreis zu drehen. Ich muss mich dennoch unbedingt davor schützen, nicht den Dreck, den ich gemacht habe, aufzuräumen, denn das raubt wertvolle Zeit. Ich muss mich fokussieren auf das Tun und weder reinigen, noch grübeln. Ich vertraue auf die Natur und widme mich an diesem Morgen dem Wolkenspiel. Ich genieße meinen Tee. Vogelgezwitscher begleitet meine Meditation. Trotz der noch leichten Kühle vermag ich nicht zu frieren. Denn in meiner Haut ist bereits die brennende Sonne des Nachmittags zugegen und gespeichert von den Vortagen, die den Temperaturunterschied aufzufangen mag. Ich nehme einen Bildband zur Hand und schweife mit den Augen durch die Texte und Bilder, aber ich bin zerstreut. Der erwachende Morgen wirkt dennoch allmählich stärkend. Er stellt meine Gedanken ab. Ich finde in diesen ersten Tagesstunden eine innere Ruhe.

Ich möchte den Tag nicht vergeuden, aber ich bin bereit, es heute dennoch zu tun. Trotz Planung. Trotz der Unordnung. Trotz meines Vorhabens, jeden Tag bis zur Erschöpfung zu nutzen. Ich erinnere mich mit mir vereinbart zu haben, dass ich nicht vorhabe mich zu kasteien. Als ich ins Hausinnere trete, um mir ein Käsebrot zu machen, fällt mein Auge auf die herumliegenden Bolzen, dann auf einen Schleifstein, sonach auf ein Stück Holz. „Elemente“ denke ich kurz und knie zu den Sachen herunter. Holz, Metall und Stein. Ich staple, balanciere und ich weiß, wie die Arbeit aussehen wird und dass ich sie für mich behalten möchte.

Die Zeit ist einmal mehr eine faszinierende Angelegenheit. Wäre man mit mir hineingegangen und Zeuge der Entstehung von diesem Stück gewesen, man könnte es für eine flüchtige Arbeit, eine Spontan-Bildhauerei halten. Doch wie viele Jahre haben diese Bolzen in der Schachtel gelegen, getragen von einem Vertrauen von mir, ohne die Ahnung von deren Geschichte, ohne Erkundung der Form, ganz ohne Zweck. Sie waren einfach da. Auch das Holz war schon eine längere Zeit bei mir und erst in diesem Sommer hatte ich den Mut die schöne Prägung zu übermalen und für immer verschwinden zu lassen. Der Schleifstein wiederum war einer von einer ganzen Gruppe, die ich aus einem unwürdigen Umfeld gerettet habe.

Ich arbeite an meiner Werkliste. Inzwischen ist alles abgemessen. Die Materialien recherchiert und angefügt. Die Liste ist erst von Hand auf ein paar losen Blättern notiert. Ich habe neunundsiebzig Objekte geschaffen. Manche sind aus Launen entstanden, viele sind nur sehr klein in der Größe. Einige haben mich Zeit und Kraft gekostet. Es gibt Werke dabei, die eigensinnig sind und die schwer zu verkaufen sein werden. Zwei möchte ich ohnehin als unverkäuflich deklarieren, und ein paar Sachen wünsche ich insgeheim wieder zu mir zurückbringen zu können. Manche fallen einem sofort ins Auge und die Ästhetik ist offenbar. Bei anderen wiederum muss man erst suchen, bis man etwas findet, das im klassischen Sinn lieblich, formschön, eigen anmutet. Ziel ist und war es nicht, vorwiegend schöne Objekte zu schaffen, die jedem gefallen sollen. Doch diese Entscheidung traf ich ebenso wenig wie es auch kein Plan war unbedingt Eigensinniges zu schaffen. Die Ästhetik resultierte aus dem Schaffensprozess.

Ich habe im letzten Moment darauf verzichtet diejenigen Werke zu zeigen, die mich verunsichern. Sei es durch deren Form oder sei es, weil sie nicht ins Gesamtbild passten. Ich habe auf Papierbögen die Objekte in der Ausstellung platziert, habe Themen gesucht, überlegt wie ich alles präsentieren möchte, vorwiegend lediglich im Ansatz und als Skizze. Denn zu gut weiß ich, dass ich vor Ort noch improvisieren werde müssen. Das Schwierige ist mitunter das Kopflastige. Aus dem Atelier herausgehen, in die Ausstellungsräume hinein und vor mir sehen, wie es da aussieht, wo was einen Platz bekommen könnte, während anderes bereits steht oder hängt. Ich habe nur vage Vorstellungen von den Räumen und deren Größen und das beunruhigt mich etwas.

Mit Lu werde ich jedenfalls nicht in die Quere kommen. Wir haben andere Dinge vor und wir werden uns wunderbar ergänzen. Auf eine eher heterogene Art und Weise und doch auch harmonisch. Wir reden nicht viel am Telefon. Wir besprechen das Nötigste. Lu ist für das Technische zuständig, ich für das Wort. Ich schreibe den Text, der mir leicht von der Hand geht. Ich kenne Lu und das ist ein Vorteil. Mich selbst muss ich schreibenderweise erst erkunden, denn dies ist das erste Mal, dass ich auf diese Weise aus mir heraustrete. Es fühlt sich für mich nicht unnatürlich an und doch muss ich mir vor Augen halten, wie mich Dritte lesen, auch diejenigen, die bisher nur andere Seiten von mir kannten.

Wenn ich durch die Werkliste gehe, sehe nur ich, was sich wie gefügt hat. Was in allerletzter Sekunde auf die Liste kam, was etwas anderes verdrängt hat. Ich weiß, was hinter einer Arbeit steckt, sei es physisch oder metaphysisch, ich sehe das Darüber-Schwebende und das Geheimnisbergende. Ich kann in meinen Werktiteln Botschaften hinterlassen oder Hinweise angeben, aber ich kann nicht alles preisgeben und darum geht es auch nicht. Ich möchte weder entweihen noch mit zu viel Text die Leichtigkeit nehmen. In der Ausstellung selbst werden neue Faktoren hinzukommen. Die Objekte werden in einer Wechselwirkung stehen, sich voneinander abheben oder ihre Wesensverwandtschaft aufdecken. Raum, Licht, die Präsentation werden nicht unerheblich in sie hineinwirken, und nicht zuletzt wird der Besucher selbst auf seine eigene Interpretation nicht verzichten wollen.

Alles ist so angelegt in Form, Bezeichnung und Massangaben, dass ich schmunzeln muss. Die Titel lesen sich wie Chiffren, die auf dem Pfad des Mysteriösen liegen und die einladen, sich auf eine Entdeckungsreise zu begeben, vielleicht zu staunen. Geflügelte Giraffe vor Würfel. Das bisschen Schwein. Gänsehaut, vorübergehende. Bonjour. Glockenwurm. Copperfields. Nike im Sparmodus. Landscape IV. Taschenmaschen. Ereignis anno dazumal. Alle meine Kühe. Püree: Him-, Brom-, Erdbeere. Ringeltanz. Wolke no. 7 (temporäre Adresse). Katzentagebuch. Wälder. Treibende. Mutter und Kind. Paulina, ich mal dir einen Poliakoff! Take five. Jazz trio. Tic Tac Toe. Poetree. Der rote Faden: Glaube. Der rote Faden: Wissen. Vor der Massage. A Zipfl Zehner. Ton in Ton. Komposition mit Druckplatten und einem Ast. Ungleiches Paar. Auslaufmodell. Steckfigur. Ins Gewicht gefallen. don’t worry. Sieben Tage am Meer. Bum Zeispiel (hart). Bum Zeispiel (soft). Trostpreis. It’s tea time, Darling! luschen laschen. Arbeitskreise. More Jazz. zipfelehrlich + zahnradtreu. Buddha, stoned. Wald. Dulden Varianten. Heute. Verehrte Gemahlin. Wenn ich mal… Und der Haifisch, der hat Zähne… Geliebter Gatte. Oh, Tannenbaum. Vertraue. Elemente. Wälder. Nierenschälchen mit Leberfleck. Frühlingsgedichte. Ich habe Rücken. Dinner: Achate im Dialog auf goldenen Löffeln. Der Beginn einer Sammlung… Weisheit in Sicht. Fänger kreisender Gedanken. Als das Schaukeln noch Programm war. Lesezeit. Karneval der Tiere. Zerknuspert. Die mit den betont schönen Stellen. Anmutige Meerlinge. Kapselwarme Objekte. Als der Mond anschwoll, fanden sich zwei Körper. Ruhigsteller. Island. Eine Erhabene. Königin und König. Familienaufstellung: Coocooninge.

Nachdem alles versorgt ist und im Kopf angedacht, wie ich es in etwa ausstellen möchte, muss ich jedes einzelne Teil fotografieren und in die Werkliste aufnehmen. Solche Aufgaben werden zeitlich gerne unterschätzt. Auch wenn sie weniger kreativ erscheinen, so sind sie doch Bestandteil des Ganzen und somit wichtig. Man vergisst angesichts der Feier, die eine Ausstellung mit sich bringt, dass vom Fadenund Nagelkauf, von der Wahl der Schriftart für die Werkliste bis zum Arrangieren der Gegenstände für ein Foto alles relevant ist. Dies der Grund, warum ich solcherlei nicht bis zur letzten Minute aufschiebe und diesen Aufgaben die Aufmerksamkeit schenke, die ihnen gebührt. Kreativität hin oder her. Vielleicht im Gegenteil. Ich versuche mich hinzugeben und einzutauchen, um nicht an mir vorbeiziehen zu lassen, woran ich Teil haben kann. Egal, wie unwichtig eine Aufgabe erscheint.

Wochen später überrascht es mich nicht, dass mein Auto, ein alter Combi, bis auf den letzten Zentimeter vollgepackt ist. Ich fahre durch die herbstliche Landschaft und die Sonne scheint. Sicherheitshalber lasse ich mich von der Navigationsdame leiten. Meine Laune ist stimmig und ich kann es kaum erwarten dort zu sein und Lu endlich zu sehen. Eine tiefe und doch lose Verbindung hatten wir in der letzten Zeit aufgebaut. Die Gedanken gingen hin zu ihr und von ihr zu mir. So wie ich Lu mit der einen oder anderen Idee überraschen konnte, so tat sie dies auf ihrer Seite. Eine Zusammenarbeit, die nicht vieler Worte bedurfte, obschon wir einige Male telefoniert und uns auch schriftlich ausgetauscht haben. Die praktischen Sachen waren relativ klar, alles andere war gegenseitige Inspiration, Befruchtung, Ergänzung. Teamwork, das dadurch besonders harmonisch ist und somit wenig Energie abverlangt, weil jede ihr Ding im Griff hat. Dies geschieht, wenn sich beide Parteien ihrer Sache klar sind und man lediglich vereinbaren darf, was man mit der gemeinsamen Schnittmenge macht oder welche Stellen nicht zusammenkommen können. Manchmal sollen sie auch nicht, denn bei uns ging es nicht um eine Verschmelzung, sondern an der gemeinsamen Erfahrung ganz verschiedener Leben anzuknüpfen, im weitesten Sinne um die Nutzung der sich ergebenden Synergien und den Gewinn daraus. Was uns, finde ich, bereits gelungen ist, angesichts der Leichtigkeit, die ich bei diesem Unternehmen verspüre.

Der Aufbau ist wie ein neuer Rausch. Wir arbeiten konzentriert und würde ich die Schritte, Stufen und Stunden zählen, die ich beim Herumgehen durch die Räume mache und verbrauche, ich würde mit dem Rechnen nicht nachkommen und jeder Fitnesstrainer wäre zufrieden mit mir. Ich arbeite mit dem Tag, also mit dem Tageslicht. Ich weiß, was ich bis am Nachmittag und ohne Kunstlicht gemacht haben möchte. Ich spüre, dass die Rast, die wir einlegen, nur kurz sein darf und dass ich mich an den technischen Problemen, vor denen ich stehe, nicht aufhalten lassen darf. Ich bin im Fluss und ich muss bei jeder Bewegung fokussiert bleiben. Meine Hände, Beine, Augen und Gedanken werden bei jedem Stück, das ich behutsam auspacke auf Harmonie und Berechtigung befragt: wohin, wie und warum.

Habe ich keine Antwort, lege ich die Arbeit behutsam zur Seite. Es gibt Antworten, die sich aus anderen, ihnen vorangegangenen Antworten speisen, auch hier. Ich muss geduldig sein, aber vor allem zuversichtlich. Es gibt einen Grund, warum gewisse Arbeiten es bis hierhin geschafft haben. Ich bin zwar bereit, Sachen aus der Werkliste zu streichen, aber dies ist nur eine Option, sollten meine Zweifel allzu überzeugend sein. Im Moment handle ich Stück für Stück, Folie um Folie. Ich packe aus, gehe herum, platziere und räume das Verpackungsmaterial sogleich in einen großen Karton weg.

Erstaunlich wie sich gewisse Arbeiten wie von selbst zueinander stellen und andere sich solitär hervortun. Wie in vermutlich fast jedem Kunstraum, ist auch hier zu wenig Platz für alles. Pro Raum nur sehr wenige Objekte oder gar nur eins auszustellen. Diese Formel ist stark und exklusiv. Sie wirkt steigernd. Etwas Prinzipielles, das den Betrachter mit seinen Sinnen und Wahrnehmungen herausfordert, ist dann gegeben. Der Bezug von ihm zum Objekt und zum Raum ist augenfällig und die Erhöhung des Objekts durch die Singularität aller drei Gegebenheiten – Raum, Objekt, Subjekt – macht die Individualität umso sichtbarer, umso erfahrbarer. Das Unikale, das konzentriert und kostbar ist und das eine Begegnung möglich macht. Gilt hier nicht. Ich bräuchte neunundsiebzig Räume.

Ich muss improvisieren und mich auf die Bezüge der Arbeiten zueinander konzentrieren. Auch darf dabei der rote Faden nicht verloren gehen, nämlich die gesamte Ausstellung als Einheit, als eine Gesamtarbeit aussehen zu lassen. Ich habe zwei mittelgroße und zwei kleine Räume, die ich bespielen darf. Es dominieren wenige Farben, viele Naturtöne. Die farblich abgesetzten Bilder platziere ich vereinzelt in den mittelgroßen Räumen. Materialien, die gut harmonieren, stelle ich zueinander: Metalle, Steine, Holz, Pilze, Korallen, Papier, Porzellan und ein paar bemalte oder beklebte Naturleinwände. Die Harmonie ist da, doch die Räume haben Grenzen. Ich muss viele Sachen, die ich räumlich weiter auseinander geplant hatte, näher zusammenrücken. Die lange Tischplatte wird zu einem Raum im Raum mit allerlei Objekten, die der Besucher betrachten wird wie eine Ansammlung von Kuriositäten in einer Auslage.

Lu ist gut vorangekommen und wir sitzen noch bei einem letzten Tee zusammen. Ich bin nicht unzufrieden, vielmehr etwas genervt, weil ich das Problem einer Aufhängung nicht lösen kann. Die Art wie wir die Wände benutzen dürfen, ist strikt und eingeschränkt und ich komme an meine technischen Grenzen. Lu’s Hilfe gibt mir ein paar Ratschläge wie er die Sache lösen würde und mit dieser Idee sowie mit einem allfälligen Plan B, falls es nicht funktionieren sollte, fahre ich hundemüde nach Hause. Am nächsten Tag sollte ich wiederkommen und die Angelegenheit in Ordnung bringen.

Ich bin früh da und alleine. Ich beginne mit dem schwierigen Teil. Plan B habe ich dabei, doch es klappt. Ich könnte Freudesprünge machen, denn ab jetzt kann nichts mehr schief gehen. Was ich montiert und platziert habe, steht richtig und die Gegenstände befinden sich bereits im Dialog, wenn ich alles nochmals prüfe und ein letztes Mal zurechtrücke. Ich muss nichts entfernen, denn es ist nichts zu viel. Diese Entscheidung habe ich im Arbeitsprozess bereits getroffen und auf ein gutes Dutzend Arbeiten verzichtet, die mir nicht vollkommen, unfertig oder sonst wie störend vorkamen. Erstaunlich wie kühn ich mit solchen Entscheiden umgehen konnte angesichts der unzähligen Unsicherheiten beim Machen selbst. Diesen Stein so oder anders kleben? Mehr Orange oder mehr Violett? Soll ich alles bemalen oder nur einen Bruchteil? Welches Motiv aus meinen Vorlagen ist das richtige?

Die Vernissage beginnt mit einem guten Grundgefühl. Seit Monaten weiß ich, was ich anziehen möchte und wie immer bei solchen Vorentscheiden ist am Ende doch nie sicher, ob es vom Wetter passen wird oder ob man die entsprechende Laune und Lust mitbringt, es am Tag X tatsächlich zu tun. Ohne zu zögern, stecke ich im besagten Kleid und mir ist wohl darin. Es ist weit geschnitten, kurz und knallgrün in der Farbe. Der Eingangsbereich, der von Lu und mir ausgestattet wurde, ist ebenfalls gelungen. Wir haben hier Bücher, weiß blühende Orchideen, einen Spiegel, Karten und andere Sachen platziert und im kleinen Küchenraum daneben stehen ein paar Häppchen, Weingläser und ein riesiger Korb mit Äpfeln für unsere Besucher. Die Äpfel riechen so stark, dass sie beinah mit meiner Lavendel-Installation im ersten Stock konkurrieren.

Ich bin inzwischen mehrere Male durch alle Räume und Ecken gegangen, habe alles fotografiert und ich kann behaupten, dass alles steht und fertig ist. Ich bin im Grunde überflüssig geworden. Ich empfinde das Wort exponieren auf neue Weise. Nicht ich habe hier Exponate geschaffen, ich selbst fühle mich auf einmal exponiert. Die Objekte haben den ihnen zugeordneten Platz gefunden. Sie zu halten wird obsolet. Die Stücke sind auf Sockel, am Boden oder an der Wand montiert und dass sie bereits unzählige Male durch meine Hände gegangen sind, sieht man ihnen nicht an. Ich muss zurücktreten und es den Besuchern gleichtun. Beschauen, Vorbeigehen, die Konstellationen zur Kenntnis nehmen und den einen oder anderen Gedanken, der auffliegen möchte, einfangen. Gefühle, die hochkommen vielleicht einsortieren, vielleicht bloß gewahren, manchmal womöglich vorbeiziehen lassen. Ich bin nicht darauf aus, schon jetzt Erkenntnisse ziehen zu wollen. Was ich gelernt habe, ist längst verinnerlicht, auch ohne, dass ich hierfür schon heute Worte finden müsste. Mir ist klar, dass sie sich finden werden. Vielleicht vereinzelt, vielleicht erst nach Jahren. Ich muss erstmals eine Art Schlussstrich ziehen und der Reise, zumindest innerlich, ein schwaches Ende setzen. Ich möchte mich nicht dem Sog ergeben, in dem sich alles zu dieser Kunst hinbewegt, von ihr weg und zurück. Diesen Strudel würde ich nur ertragen können mit der Aussicht auf eine nächste Ausstellung. Die aber steht derzeit in den Sternen geschrieben.

Eigenartigerweise habe ich nicht besonders Lust meine Arbeiten zu erklären und durch mündliche Form begreiflich zu machen. Diese Übersetzung vom Machen, Gemachten zum Beschriebenen, das erfordert vielleicht ein eignes Konzept, das ich nicht bedacht habe und mir irgendwie zuwider ist. Als sträubte sich etwas in mir, die Disziplinen zu vermischen, zu verwässern. Und doch ist es enorm wichtig, das eine oder andere zu benennen, die Hintergründe und Motivationen offenzulegen, hie und da auch auf die Technik hinzuweisen. Die Menschen erwarten das ein wenig von mir. Zwar sieht der kleine Turm aus Spitze aus als wäre es feinste Keramik und doch ist es gestärkte Spitze aus altem Garn. Das kleine Bild, das meine Kinderkritzeleien offenlegt, hängt in einer Art Negativ und verrät nicht seinen Ursprung. Diese Ur-Quelle muss derjenige jedoch kennen, der sich vom Bild angesprochen fühlt. Ich habe daher meine Originalzeichnung als Beweisstück bereitgelegt. Manchmal muss ich erläutern, woher ich einen Gegenstand her habe oder auslegen wie ich auf gewisse Ideen gekommen bin. Das ist alles ermüdend und bereits beim zweiten Erzählen weniger erquickend als beim ersten Mal.

Wenn ich das die nächsten Tage noch unzählige Male tun muss, wird mir das mehr Energie rauben als dass es mir welche zufügt. Aufmerksamkeit und Zuspruch berühren mich zwar, aber am liebsten sind mir die stillen Besucher. Solche, die diesen kleinen Ausschnitt meines Universums annehmen und Antworten oder Anregungen in den Titeln der Werke finden und vielleicht mit ganz anderen Gedanken aus dem Haus gehen, als sie hineingegangen sind. Ich favorisiere jene Leute, die erst gar keine Fragen haben und wenn, dann nur unerwartete, beziehungsweise jene, die bisher nicht gestellt worden waren und es so schaffen, michzu verblüffen, zu berühren, weil sie sich nämlich einbringen.

Die Menschen kommen zu uns zu Besuch, zumeist sind es Frauen, und jede bringt auch ihre eigene Geschichte mit. Das ist nicht zu unterschätzen, diese Form von Energie, die sich in den Räumlichkeiten verströmt und die irgendwann im Gespräch bei mir und Lu landet und sich mit unseren Geschichten verflicht. Eine Freundin von Lu findet, dass die Menschen, jeder Mensch, höchst interessant sei, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht habe. Denn selbst die langweiligste Person habe inzwischen so viel erlebt, dass man von ihr lernen und mit ihr ein gutes Gespräch führen könne. Ich bin einverstanden, doch dann kommt jemand, der die These verwirft. Ich möchte ihn nicht kennenlernen, seine Geschichte ist mir zuwider, zu beliebig austauschbar, er ist mir unsympathisch, auch wenn ich zugleich demütig bin davor, dass er es hierhergeschafft hat und ein gewisses Grundinteresse mitbringt. Er hätte wahrscheinlich etwas Durchlässiges für mich übrig, wenn ich es schaffte, mich ebenfalls zu öffnen.

Es gibt Tage, da bin ich offen und neugierig auf jedes gesagte Wort und empfänglich für jedes Lächeln. Ich könnte die Welt umarmen und bin dankbar, dass es mir so gut geht. Es gibt Tage, da möchte ich mit Lu in der Küche oder vor dem Haus, das direkt am See liegt, Kaffee trinken und über die Welt reden und mich nicht stören lassen. Meistens aber bewahre ich das Gefühl des Exponiert-Seins, komme mir ein wenig überflüssig vor und stelle fest, dass diese Ausstellung ein wunderbarer Ort ist und doch keine heilige Stätte, die alles, was nicht gut ist, abzuschirmen und mich zu schützen vermag. Es kommt mir ein wenig vor wie bestellt und nicht abgeholt worden zu sein, und bei gewissen Menschen spüre ich deutlich, mich besonders nackt zu fühlen, mich dann verschanzen zu wollen. Vor den Fragen, vor den Kommentaren, vor deren Leben, die ihnen auf der Zunge liegen und die sich in den Räumen ausbreiten möchten, bis zu den Hohlräumen, die ein schlechter Kleber hinterlassen hat und die sich dort einnisten. Die Kunst schafft den Dialog herzustellen und oftmals über die Kunst hinaus zu tragen. Es ist hier nichts hermetisch, nicht per se überhöht und mit Pathos überzogen. Die Menschen sind noch immer Menschen. Aber manchmal gestehen Lu und ich uns ein, dass uns das vorbeifahrende Segelboot, das gerade am See vor unseren Augen majestätisch passiert mehr fesselt als ein nett gemeintes Kompliment, das vielleicht tiefe Bewunderung ist, aber sich manchmal nur wie eine hohle Floskel anfühlt, etwas kalt ist, im Nachgeschmack leicht bitter, fremd.

Für die Bewunderung habe ich das hier keineswegs gemacht. Es ging schon immer um mich und darum, was ich mit den Entwürfen, meinen Händen und Möglichkeiten zu machen imstande bin und welche Stufen und welcher Natur die Lust nehmen könnte, und wie sich alles am Ende ausprägen würde. Ich bin auf die Nebeneffekte aus und höchst gespannt, was sich ereignen kann. Nicht aufgrund der Arbeiten, sondern der Tatsache an sich: dass ich nämlich hier bin und eben all das geschaffen habe. In diesem Sommer. Aus den Schachteln heraus und in meinen vielen Exkursen, die damit zusammenhängen. Die Menschen sehen das etwas anderes. Sie ahnen nicht, was gestern war. Sie interpretieren wild, legen meine Person auseinander, fügen mich auf Geratewohl zusammen, verwechseln etwas, vermischen mit ihren eigenen Erfahrungen, konstruieren, trüben, verwässern. Ich lerne nach einer bestimmten Anzahl an Rückmeldungen, die mich bei fast jedem Besucher erreicht und die sich auch im Dialog mit Lu ergibt, hindurchzusehen und eine Art Metabotschaften daraus zu lesen. Denn viele Sätze, die hier formuliert werden, betreffen vorwiegend diejenigen, die sie aussprechen und nicht diejenigen, an die sie sich richten. Lu und ich sind, was unseren Austausch angeht, relativ einig. Wir deuten gut und fast fieberhaft. Die Gedanken fliegen hin und her. Wir sind da. Im Zwiegespräch, achtsam.

Zuweilen stellen wir fest, dass gewisse Töne unsere Melodie in leichte Schieflage bringen, die es vermögen an uns zu nagen und weiter erörtert werden müssen. Ich bin überzeugt, dass es nicht allfällige Verletzungen sind, die uns zu schaffen machen, sondern dass wir beide, wie wir hier unsere Rollen temporär ausgelegt haben, höchst verletzbar sind. Die Freude und der Spaß liegen so nah beim Schmerz, der sich plötzlich zeigen kann und als Bruchstück auf dem kleinen Bistrotisch auf der Terrasse vor dem Haus liegt. Da sind wir, da sind die Exponate, und was bedeutet das angesichts der Welt und unserer Leben. Wenn ich öffentlich aus einem Buch vorlese oder als Sängerin ein Stück vortrage, mag das auf den ersten Blick exponierter erscheinen, doch nackt fühle ich mich da nicht. Denn sobald ich loslege, bin ich nicht mehr Ich, sondern Ich, die etwas liest oder durch die ein Musikstück strömt. Diese Transformation, oder vielmehr Übernahme, macht mein eigentliches Wesen im Moment des Akts verschwinden. Doch hier, in diesem Haus, da bin nur ich und wenn ich mich verschwinden machen möchte, muss ich mich in Gespräche verwickeln. Doch die sind heikel.

„Bonjour“ wird spontan gekauft und ich bin beglückt darüber. Doch im selben Moment habe ich Bedenken. Ist die Arbeit gut genug ausgearbeitet? Was, wenn die Wandskulptur nichts ausstrahlen wird im neuen Zuhause? Was, wenn es mit den anderen Kunstarbeiten im Haus nicht standhält, sondern qualitativ abfällt? Was, wenn sich die Wirkung verliert? Sobald das Objekt den Besitzer wechselt, kann ich in eine neue Beziehung mit ihm treten. Beim leisen Verabschieden kommen Unsicherheiten hoch. Es ist jetzt nicht mehr die Zeit, um an diesem Werk nochmals Hand anzulegen. Es hat, als ich die Arbeit aus dem Atelier entliess, die Prüfung damals ja bestanden, und es darf keiner weiteren unterzogen werden. Denn das Objekt gehört mir ab dem Moment nicht mehr, in dem Moment, wo es jemand erworben hat. Beim Kreieren von „bonjour“ haben mich viele schöne Gedanken begleitet. Ich möchte mich daran erinnern. Gedanken der Vorfreude. Solche, die innere Gespräche waren. Ich muss alles notieren, um sie beim Aushändigen der Arbeit mitzugeben. In diesem Fall möchte ich das.

Bonjour ist vielleicht die kleinste Melodie. Zumeist zwei Noten liegen inne, manchmal drei, selten mehr. Die Noten heben sich, senken sich, comme ci comme ça…. Bonjour. Bonjour. Bonjour singt dir freundlich zu, es flüstert zärtlich, es ermuntert sanft, es kündigt an, es frohlockt, zirpt anmutig, es vibriert un petit peu. Es nimmt dich wahr mit Respekt, direkt. Es übermittelt mit einer Lebenslust, mit Flair, im Ansatz leicht, nicht ohne Verve. Bonjour. Der Tag kann kommen.

Hätten allenfalls doch alle Arbeiten einen Begleittext bekommen sollen? Nicht als Erklärung, aber weil sie diese immaterielle Komponente innehaben? Ich möchte nichts beschönigen und nichts erläutern und doch habe ich auch bei „Sieben Tage am Meer“ das tiefe Bedürfnis, das Materielle mit der Sprache zu verflechten bevor diese Arbeit ihres neuen Weges gehen wird. Die Sprache ist oft in meinem Kopf. Während meiner Handtätigkeit, danach in der Betrachtung, einmal mehr im Denkvorgang. Sieben Tage am Meer: Seit jeher Fundstücken am Meer zugetan. Meine erste Sammlung war eine solche mit Fundstücken vom Meer – Muscheln, Steine, Bernsteine. Wobei sich hier der Kreis der Umwandlung und des „objet trouvé“ schließen. Vieles ergibt einen Sinn. So sind die Sachen, die man macht, in der Reflexion zu einem gehörend. Aber sie umspannen eine größere Geschichte, die über das Objekt hinausgeht. Es sind keinesfalls fremde Objekte, die bloß hergestellt wurden. Sie sind geschichtlich verankert, befinden sich auf einer Durchreise. Und so passen sie gleichzeitig zu mir wie zu jemand anderem, bei dem etwas anklingt, sich in seine Geschichte fügt.

Es kommen Menschen hierhin, deren Erscheinen mich tief berührt. Sie inmitten meiner Arbeiten zu sehen, sind feierliche Momente, die mich demütig machen. Demütig davor, dass sie gekommen sind und Teil dieser Reise geworden sind. Ich teile das alles gerne und freue mich bereits an der Erinnerung, die diese Personen einschließen wird. Ebenso stimmt es mich traurig, all jene nicht hier zu wissen, die nicht kommen können. Fürwahr hat jeder seinen eigenen Grund nicht gekommen zu sein, und doch steigen gelegentlich Gefühle hoch, die mich verunsichern.

Ich frage mich manchmal, mehr aus einer Laune heraus, ob ich bei der nächsten hypothetischen Ausstellung noch mehr Mut haben würde, mich einzuschränken. Eine Art Serie anzufertigen, die Materialien noch mehr auszusieben, mir einige Werkzeuge zu versagen, und stattdessen die Techniken einzugrenzen, kurz, mich zu reduzieren. Würde dann trotzdem das Eklektische, das Heterogene stets Bestandteil von meinen Exponaten bleiben, ganz meinem Naturell entsprechend? Könnte ich mir selbst beweisen, dass ich auch mit einem spartanischen Ansatz eine spannende Abwechslung in der einheitlichen Verschmolzenheit erschaffen könnte? Verkohlungen in allen Variationen. Partiell schwarz getünchte Marmorbruchstücke. Vergoldungen, Schriften.

Die Arbeit mit Marmor hat mir sehr behagt. Es war spannend, dieses poröse und doch feste Material zu bearbeiten. Zum einen, weil ich Achtung vor den Einzelstücken hatte, zum anderen, weil ich mit einem kleinen Pinselstrich alles zunichtemachen konnte. Allzu rasch floss die Farbe durch die Marmoradern und bahnte sich ihren eigenen Weg. Ich mochte auch die Arbeit mit Blattgold, das Tempo daran und vor allem die Verwandlung, die so viel Überraschung innehatte. Aber auch gefiel es mir, wenn Objekte aus der Natur ihre Urform bewahren konnten und meine Intervention lediglich eine subtile Erhebung und Öffnung sein durfte. Ich müsste mit gewissen Erkenntnissen aus dieser in die nächste Ausstellung gehen und das rein Spielerische anders gewichten, vielleicht mit mehr Ernst verbinden. Oder etwas erschaffen im Sinne einer größeren Ganzheit und somit einer klareren Botschaft, der man sich nicht entziehen könnte.

Wenn man nur rote Bilder malte, dann käme wohl niemand aus der Ausstellung und könnte etwas anderes behaupten, als just die roten Bilder gesehen zu haben. Und selbst, wenn er hier grüne vermissen würde oder blaue, er könnte diesen Fakt dem Künstler weniger verübeln als lediglich zu konstatieren, dass dieser sich offensichtlich für die Farbe Rot entschieden hat. So ein Ansatz machte mich möglicherweise weniger verletzbar.

Sieben Tage am Meer sind ans Meer gezogen. Bonjour und Adieu. Unbedeutend war diese Reise keineswegs. Auch wenn ich vieles, was bisher geschehen ist und gerade stattfindet, relativ leichtfüßig nehme. Ich weiß nicht, wohin und ob es einen anderen Teil dieser Reise geben wird, wohin sie mich hinführt. Ich greife in eine Leerstelle in meiner Erinnerung. Es ist ein gehaltvoller Ort. Mir wurden Flügel geborgen. Ich sehe die geflügelte Giraffe vor mir, die einen abstrakten Kubus betrachtet. Ich sehe mich in ihr und weiß um die zarten Schmetterlingsflügel, die ich ihr auf dem Rücken angebracht habe. Ob sie hielten, wenn sie versuchen würde damit zu fliegen? Vielleicht ist dieses Abenteuer etwas in sich Abgeschlossenes. Gleichwohl möglich, dass dies der Anfang von etwas ist, das ich nicht zu ahnen wage. Der Bogen dieser Perspektive ist vielleicht in einer der Schachteln geborgen. Das Atelier ist geschlossen. Ich bin offen. Que sera, sera. What will be, will be.

 

 

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Der Faden im Kopf, Aufsätze und Reflexionen von Joanna Lisiak, 2018, mit Illustrationen von Barbara Balzan 236 Seiten, isbn 978-3-74816-716-7

Umschlag: «Unter freiem Himmel», 2018, von Mariola Lisiak

Weiterführend →

Holger Benkel schrieb einen Rezensionsessay über „Der Faden im Kopf„. Lesenswert ist gleichfalls das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verlieh der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.