Klingende Namen, verheerende Narben

Diese Artistin nimmt Bezug auf neue Tendenzen in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Aspekten des Lebendigen und konzentriert sich dabei besonders auf Holzskulpturen, die explizit biologisches Formenvokabular darstellen. Das Geometrische tritt zurück, in manchen Plastiken verschwindet es sogar ganz.

(Aus der Rede zu Verleihung des Hungertuchpreises an Pia Bohr)

Die Dreidimensionalität ermöglicht eine große Heterogenität der Arbeiten, ebenso eine Vielfalt von visuellen Eindrücken und Deutungen. Die Formensprache von Hans Arp oder die Verzerrungen eines Francis Bacon haben mich von Anfang an sehr fasziniert. Auch meine Skulpturen sind organisch und zeigen biomorphe Formen, sie bewegen sich zwischen Figürlichkeit und Abstraktion, sie sind bestimmt und unbestimmt zugleich – es geht um Verkörperung von Energien und Natur, Materialität und Unsichtbarkeit wirken zusammen. Für mich ist Bildhauerei das Medium zur Bewältigung der Realität, ich versuche das Reale in die Kunst zu integrieren und erschaffe bewusst neue Kompositionen. Meine Holz- und Bronzeskulpturen tragen klingende Namen und verheerende Narben, erzählen Geschichten von Liebe und Leid, sind berührend und beseelt. Der Betrachter erkennt Körperlichkeiten, Analogien aus Flora und Fauna, das Lebendige, das Veränderliche – das psychologische Potenzial der organischen Formen ist unermesslich.

Neue Perspektiven

Mein Hinterhofatelier war früher ein Teil der Geburtsstation der Kliniken in Dortmund, hier wurden Babys geboren, nun sind es meine Skulpturen, die das Licht der Welt erblicken. Meine Arbeit ist sehr körperlich, ich benutze Kettensägen, Spezialfräsen, aber auch Beitel und Klüpfel, und am Ende die Schleifwolle. Ich bevorzuge schwere Harthölzer wie Obst-Nuss-Olivenholz – wegen ihrer hohen Dichte ist die Maserung besonders lebhaft und schön. Ich kann sogar im letzten Arbeitsschritt mit mühsamer Handarbeit eine vollendete Glattheit erzeugen, die sofort ein Gefühl des Berührenwollens beim Betrachter erzeugt.

Der Prozess des Sehens einer Skulptur im Holz kann lang sein und fordert Flexibilität. Die künstlerische Arbeit lehrt so etwas wunderbar. Das Lernen des Sehens geht einher mit Motivation, Enttäuschung, Glücksempfinden. Es bleibt notwendig, sich ständig zu hinterfragen und weiterzuentwickeln, so entsteht auch das Glück, das ist die Freiheit der Kunst.

Einige meiner Skulpturen habe ich in einer Serie als Bronzen gießen lassen. Auch hier lege ich großen Wert auf eine ästhetisch schöne Oberflächenbehandlung und Farbgebung – inklusive der philosophisch-künstlerischen Fragestellungen, die die Vervielfältigung und Verbreitung eines Artefakts oder die Beschäftigung mit 3D-Technik und Skalierbarkeit mit sich bringen. Neue Technologien bedeuten eben auch die Öffnung neuer Perspektiven.

Zum Berühren freigegeben

Meine Kunst ist auch eine haptische Kunst. Für die Bildende Kunst hat normalerweise die Realität nur insofern Bedeutung, als sie sich im optischen Bild manifestiert. Kunsthistoriker und Ästhetiker gehen bei der Betrachtung eines Kunstwerks von vornherein vom Visuellen aus; die formbildende Fähigkeit des haptischen Sinns wird mit keinem Wort erwähnt.

Käufer und Sammler meiner Arbeiten bauen eine emotionale Bindung zu ihrer Skulptur auf und lassen immer wieder verlauten: „Ich muss sie mindestens einmal am Tag berühren.“ Ich habe auch bei einer Ausstellung für Blinde und Behinderte eine unglaubliche Resonanz erfahren.

Wir bilden nicht ab, sondern wir bilden.

Hans Arp

In der heutigen Zeit mit Corona und Digitalisierung findet eine kulturelle Wende statt. Die physische Präsenz und das Lebendige bekommen einen anderen, sehr wichtigen Stellenwert. Für mich wäre es deshalb möglich, bei Ausstellungen ein oder zwei Skulpturen zum Berühren freizugeben.

 

Weiterführend →

Lesen Sie auch das KUNO-Porträt von Pia Bohr Die Maserung erzählt eine Geschichte.

Ein Rückblick auf den Hungertuchpreis findet sich hier.