Vorbilder

 

Geht man vom Wortgebilde Individuum aus, besagt dieses, dass das Individuum nicht teilbar ist. Das Anstreben der Teilung ist per definitionem also ein Ding der Unmöglichkeit. Doch Begriffsbildung hin, Philosophie her, die Praxis zeigt uns deutlich, dass wir das Individuum bei Betrachtung durchaus aus seiner Ganzheit heraus spalten, es stückweise sezieren, gliedern, definieren und es je nach seiner Aktion beziehungsweise unserer Absicht erklären. Die Erfahrung zeigt sogar, dass je individueller das Modell ist, desto eher tendieren wir zur Analyse und nicht zuletzt zum Vergleich mit unserer eigenen Identität. Dies ist mehr als verständlich, denn jemanden zu erfassen, bedeutet, dadurch auch sich selber besser zu verstehen. So wie es einem leicht fällt, sich durch die Augen des anderen zu betrachten. Ob die Spiegelung bewusst gewählt ist oder unbewusst vorhanden, ist zweitrangig. Die Zergliederung als solche, zum Beispiel in Kontexte, ist maßgebend dafür, ob und wie wir uns selber, einen anderen oder eine Sachlage begreifen. Je nach Absicht, kann es vorteilhaft sein, in seinem Leben Raum nicht nur für die Beobachtungen und Studien der anderen Individuen frei zu halten, sondern auch Platz für das ganz bestimmte, das Vorbild zu schaffen. Ein Vorbild ist im weitesten und abstrahierten Sinne eine Form in einer bestimmten Funktion, die uns durch die Definition Vorbild als Konstante dienen kann und an welcher wir uns messen dürfen.

Wenn ein für uns gut abgestimmtes Vorbild vorhanden und gefunden ist, sind auch die Wege zur Reflexion über ihn, beziehungsweise über ihn im Verhältnis zu uns, nicht nur ähnlich lang, sie sind ein Stück weit geebnet und das bedeutet eine rasche Auslegung von Differenzen und Ähnlichkeiten, was wiederum die Annäherung an das Vorbild vereinfacht. Es gibt zweifelsohne auch jene Vorstellung des Vorbildes, die die Unerreichbarkeit bedingt. Wer ein solches Vorbild wählt, kann mehrere Gründe haben: Er ist romantisch oder selbstquälerisch veranlagt oder das Vorbild dient im Dienst des Traumes, regt also zur Illusion an und ist damit Garant für eine innere Reise. Das Unerreichbare als vollkommenes Götzenbild überdies, macht das eigene Leben und die Suche nach dem Sinn erträglicher, es relativiert die eigenen Unzulänglichkeiten, besänftigt, tröstet und beflügelt. Nicht zuletzt ist er ein beständiger, in sicherem Abstand gehaltener Impuls und Motor für die eigene Motivation.

Die meisten halten ein ideales Vorbild für dasjenige, das zunächst über uns ragt, welches wir aber nach Analyse, Imitation, Übung, Fleiß und Zielstrebigkeit, gezielte Annäherung durchaus erreichen können. Es ist ein Vorbild, das von uns bereits anerkanntes, darunter auch unbewusstes, Potential in sich birgt und Ansporn in uns auslöst und dennoch dieselben Voraussetzungen innehat, die nötig sind, um uns mit ihm in Einklang zu bringen. Die Distanz zum Vorbild zu überwinden, heißt, sich mit ihm gleichzusetzen, sich in ihn einzufühlen. Dies ist bei Vorbildern, die wir nur aus einem bestimmten Grund zum Vorbild haben, allumfassend kaum möglich, denn dazu müssten wir dieses Vorbild aus seiner für uns relevanten Funktion herausnehmen, ihn als Ganzes betrachten, das heißt biographische, historische Daten einbauen, um es dann wieder in den Kontext hineinzufügen, in dem wir das Vorbild sehen wollen und in welchem das Vorbild als Vorbild fungiert. Eine sehr aufwendige Aufgabe und dazu kaum lückenlos erreichbar. Denn allfällige Lücken zu kitten müsste bedeuten, die Fragen mit dem Vorbild direkt, oder mit seinen Angetrauten oder Fachpersonen nach und nach klären zu können. Diese Voraussetzungen sind kaum gegeben oder sie würden sich in der Realität legen, wenn wir dem Vorbild gegenüberstehen würden und nach und nach auch Merkmale an ihm feststellten, die wir vorher nicht bedacht haben, die möglicherweise weniger ideal sind als in der abstrakten Projektion, da die Nähe gewisse Gefahren in sich bergen könnte und sei es in Form von Gewöhnlichem und Banalem, was wieder subtrahiert werden müsste.

Vorbilder sind in unserem Leben omnipräsent, selbst wenn wir uns vor ihnen schützen oder nichts von Vorbildern halten. Ob als mediale Vorschläge oder in Verkörperung von anerkannten Idolen, respektive in Form von Vorbilder suchenden Menschen, die an bestimmten Denksätzen, Lebensweisen, künstlerischen Ausdrücken usw. festhalten, sind die Vorbilder in persönlicher oder abstrakter Form da. Werden wir zu häufig mit bestimmten Leitsätzen und Empfehlungen konfrontiert, kann es passieren, dass wir ein Angebot akzeptieren bis wir es vielleicht sogar gutheißen, sofern wir uns nicht rechtzeitig auseinandersetzen, den Vorschlag kritisch ablehnen oder sonst wie auf unsere eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen anpassen. Das Leben, oder bestimmte Teile davon, nach falschen Vorbildern auszurichten, kann fatal sein, wenn wir ohne kritische Reflexion unterwegs sind. Sind wir allerdings in der Lage, eine für uns eher ungünstige Vorgabe, in eine Art Gegenentwurf zu übersetzen, können wir aus einem AntiVorbild ähnliche Schlüsse ziehen, wie aus einem optimal, und selbst gewähltem Vorbild.

Die Suche nach dem richtigen Vorbild ist in einer überreizten wie unübersichtlichen Zeit insofern schwierig geworden, als dass das Angebot zum einen reichlich groß und trotz kreativer Verführungskunst dennoch oftmals einseitig ist, und weil es zudem viele Möglichkeiten gibt, durch komplexe Nachforschungen zu äußerst individuellen Ansätzen zu kommen. Der einfachste Weg zur Findung eines Vorbilds bedeutet noch immer in unserem direkten, primären Umkreis zu suchen oder denkbare Vorbilder zumindest unter die kritische Lupe zu nehmen. Dies vor allem deswegen, um uns zu vergegenwärtigen, wo wir selber stehen und wer uns und auf welche Weise umgibt. Nicht zuletzt stellen die Eltern die ersten Vorbilder (oder je nachdem Anti-Vorbilder) dar, an denen wir uns orientieren/orientiert haben. Auch können dies andere Bezugspersonen sein, die uns in der Kindheit oder Jugend geprägt haben.

Wenn wir allerdings dabei sind selbstbestimmend zu wirken, unsere Leben in die Hand nehmen und in Richtung Vorbilder aufbrechen, tun wir im Abnabelungsprozess oftmals das Umgekehrte: Wir ignorieren das Bekannte und streben nach ganz neuen Ufern. Dem ist nichts entgegenzusetzen, ist dies ein Stück weit logisch und natürlich, doch werden wir auf diesem Wege über unsere eigene Vergangenheit früher oder später wahrscheinlich dennoch stolpern. Daher ist es im Sinne der zeitlichen Effizienz nicht unvorteilhaft gleich am Anfang des Prozesses auf den Aspekt des eigenen Umfelds, der ursprünglichen, unbewussten, indirekten und direkten Prägung einzugehen und das ohnehin Vorhandene in der Planung auf der Suche einzukalkulieren.

Hat man das Glück nun in der richtigen Umgebung das Vorbild ausgemacht zu haben, kann man in wechselseitige Kommunikation treten. In den meisten Fällen wird die Wechselseitigkeit rein hypothetisch und monologisch bleiben. Gleichwohl ist sie anzustreben, da selbst eine hypothetische Bewertung durch die Wahrnehmung eines Vorbildes bedeutet, ein Gutachten durch eine Instanz, der man a priori und idealerweise Glauben schenken möchte, zu erhalten. Es ist sinnvoll ein Vorbild gewählt zu haben, das über grundlegende Übereinstimmung mit einem selber (nachfolgend Ich genannt) verfügt, aber sich soweit unterscheidet, sodass mit der Arbeit an dieser Beziehungsform begonnen werden kann. Ein Vorbild, das keiner Arbeit bedarf, gleicht einem Modell, das bei der Betrachtung keine Fragen mehr aufzeigt, beziehungsweise sie direkt löst und außer einer bestätigenden und beruhigenden, keine weitere Funktion hat. Der Zweck der Arbeit besteht aber darin, dass die Wesensmerkmale und die Unterschiede vom Ich zum Vorbild herausgeschält sowie die Wege vom Ich hin zum Vorbild auf konstruktive Weise sichtbar werden.

Das Essentielle, das sowohl im Ich als auch im Vorbild inne liegt, ist die Basis für einen prosperierenden, stimmigen Dialog. Das fundamental Essentielle und daher Richtige ist zudem eine Vertrauensbasis, von welcher aus, die Antennen in alle nun möglichen Regionen ausgerichtet werden können. Eine zentrale Festung also, auf der gespiegelt, verglichen, harmonisch angeglichen werden darf, an der das Fremde, Befremdende, Verwandte oder Höchste zur Betrachtung und Forschung herangetragen wird. Wie aber findet ein Ich das für ihn richtige Vorbild? Eines, das nicht durch die Ansicht Dritter getrübt oder von der eigenen Herkunft dominiert wird oder das nicht rein dem illusorischen Denken entspringt? Ein Vorbild, das nicht derart unerreichbar ist, dass man sich daran Kopf und Herz zerbricht, das zum Scheitern verurteilt ist, weil sich in der Gegenüberstellung mit dem Abgott die Realität überschlägt? Und doch ist am Ende jenes fremde, das nicht bezwingbare Vorbild dasjenige, das sein fremdartiges, zähes Strukturgerüst nicht preisgeben will, und man daher keine tiefere Erkenntnis für sich gewinnt. Weil man die Distanz zu ihm nicht überwinden kann.

Ein Vorbild findet man in einem Biotop der richtigen Umgebung, was ein Gemisch aus Bekanntem, Unentdeckten, Ahnendem beinhaltet. Ein reiner Zufall führt uns selten direkt in den Wirkungskreis unseres Vorbildes in spe, wenn auch bei der Ermittlung das instinktive, berühmte Bauchgefühl eine große Rolle spielt. Man sollte bestenfalls innerlich offen sein und den Raum bereithalten, darf aber gleichzeitig nichts forcieren. Man sollte am besten aus seiner Routine und der Komfortzone heraustreten, die Entdeckung des Vorbilds, noch etwas vage in der Vorstellung, gleichwohl als ein durchaus erreichbares Ziel sehen können. Es darf die sogenannte „Liebe auf den ersten Blick“ sein, kann sich aber auch durch weitere Begegnungen nach und nach herausschälen und langsam wachsen. Es gilt auch, auf jene Signale zu hören, die unvermittelt und einschneidend sind. In der Literatur kann es ein Satz, eine bestimmte Satzstellung sein, die einen nicht mehr loslässt. In der Musik ein Komponist oder ein Stück, ein paar Akkorde, eine Stimme, die unvergessen bleiben, in der Malerei ein bestimmter Lichteinfall in einem Gemälde, in der Wissenschaft ein Gedankengang, eine Studie usw. Kurz: Kräfte und Impulse, denen man sich nicht entziehen kann. Geht man intuitiv diesen Hinweisen und Losungen nach oder nähert sich dem Erlebnis zu einer anderen Zeit in einer anderen Verfassung wieder und die Faszination ist unveränderlich, ist dies eine gute Voraussetzung, dass sich das Ich in die Kommunikationsform des Ich mit dem möglichen Vorbild begibt.

In der Begegnung mit dem Vorbild werden erstmals die eigenen Defizite und Beschränkungen deutlich, sobald sich das Ich in Form von Analyse, Vergleich, Nachahmung, Anpassung etc. dem Vorbild annähert und an ihn herantritt. Dies zu versuchen ist für die Zerlegung der Mankos oder der temporären Mängel, beziehungsweise der Entsprechungen, in allerlei Teile notwendig und Grundlage für die weitere Entwicklung. Doch bevor konstruktiv diese Teile offenbar werden, tritt nicht selten ein Schockzustand ein. Man ist dabei nach den Sternen zu streben und erreicht faktisch nicht einmal die erste Sprosse einer Leiter. Man möchte abheben und fliegen und kriecht stattdessen mit gestutzten Flügeln und bis zur Erschöpfung lediglich am Boden entlang. Diese Diskrepanz ist oftmals darauf zurückzuführen, dass man in der Theorie viele Dinge längst verstanden und verinnerlicht hat, die praktische Übung und Erfahrung, beziehungsweise die 1:1 Gegenüberstellung, mit dem leiblichen Ich jedoch allzu divergiert. Das Begriffene in eigene Worte, durch sich selber neu zu sagen oder auszudrücken, ist nicht auf Anhieb möglich, bloß weil es sich im Geist kongruent anfühlt. Der Ausdruck will auch hier gelernt sein. Hat man lediglich mit solchen Vorbildern zu tun, die einzig auf kognitivem Weg zu begegnen sind, wird der praktische Anteil kleiner ausfallen, und eine solche Enttäuschung hält sich dann entsprechend in Grenzen. Doch gerade bei vollführenden Sachverhalten wie bei Musikern, Sportlern usw. wird die Einordnung zum Vorbild hin ohne die Praxis nicht gehen und bedeutet im Normalfall einen längeren Weg, der von Niederlagen und stufenweisen Erfolgen geprägt ist.

Es liegt nahe, dass sich bei solchen Versuchen und Bestrebungen auch Frust einschleichen kann. Weil sich das einst zu erreichen Angedachte in der praktischen Anwendung zunächst als unerreichbar herausstellt. Daher wenden sich einige bald von ihrem Vorbild insofern wieder ab, als sie das Vorbild auf wenige Attribute reduzieren und sich für die scheinbar unerreichbaren Aspekte neue Vorbilder suchen, in welchen sie die Erreichbarkeit eher erkennen können. Dies ist gewissermaßen Schutzmechanismus und nicht falsch, sofern man erkannt hat, dass das ursprüngliche Vorbild tatsächlich nicht zu 100 Prozent das richtige war. Statt sich seines richtigen UrVorbilds gänzlich zu entledigen, ist man allerdings noch besser beraten, gelegentlich wieder zu ihm zurückzukehren. Darüber ist es mehr als plausibel, dass sich die eigenen Bestrebungen und Vorstellungen müheloser in verschiedenen Personen zu kleinen Anteilen wiederfinden als dass sie gesamthaft in einem einzigen Individuum vereinigt wären. Jedoch sollte die Umorientierung besser ähnlich profund und stimmig sein wie die erste und sich nicht als bloße Ablenkungsstrategie herausstellen.

In der oftmals lebenslangen Beziehung zum Vorbild wird man auch den Blick für das AntiVorbild nie gänzlich los und man wird sich, zum Beispiel in Zeiten, wo man keinen Schritt weiterzukommen glaubt, gelegentlich am AntiVorbild „orientieren“, respektive wird man in der Lage sein, dank dieses Negativs, Anstrengungen gut überwinden zu können. Das Anti-Vorbild kann faktisch das widerspiegeln, was man ohnehin bereits innehat und längst darüber hinausgewachsen ist oder aufzeigen, welchen Weg man um nichts in der Welt hätte genommen haben wollen, so hart der derzeitige Stand gerade sein mag. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass viele Anti-Vorbilder Bestätigung und Beweihräucherung bedeuten können und temporäre Selbstzweifel tilgen. Sie machen überdies eine Messung erkennbar und lenken von vielleicht zu hoch angelegten Messlatten ab.

Im optimalen Fall passt das Vorbild in ein unbewusst festgelegtes inneres Modell, eine Art Rahmen, in das sich dem Vorbild zugewandte Ich fügt und diese Reflexion nach Reflexion, Übung nach Übung, Werkzeug nach Werkzeug ausfüllt. Die Entwicklung setzt beim Ich einen großen Willen zum klaren Bewusstsein, also zur Aufrichtigkeit, voraus. Ohne das ehrliche Spiegelbild in Konversation mit dem Vorbild, würde das Bild mit der Zeit nur verzerrt, was nicht Sinn der Übung sein sollte, wenn man ernsthaft vorhat sich am Vorbild zu orientieren. Deformationen treten jedoch, selbst wenn man ehrlich ist, auf. Falsche Selbsteinschätzungen, die fehlende Distanz, ein unsystematisches, unüberlegtes oder zu durchdachtes Herangehen sind an der Tagesordnung. Das Ich wägt sich in falscher Sicherheit oder Unsicherheit, findet sich auf irrigen Fährten wieder, weil es ungeduldig ist oder das Potenzial nicht ausschöpft. Oder weil es zu wenig auf kleine Erfolge vertraut, das Temperament mit dem Zielgedanken unnötig mengt. Je nach Tagesverfassung und Konstellation schießt das Ich auch mal über seine Grenzen hinaus, ist in der Lage über sich selber zu wachsen, selbst wenn dies manchmal unkontrolliert und losgelöst von Ideal und Anspruch geschieht. Dies verführt zum Gedanken, dass man das Vorbild nun erreicht hat und sich nunmehr abwenden könnte. Das kann manchmal zutreffen, doch wird man meistens den etappenweise erreichten Grad konstant nicht halten können. Nach einem Höhenflug wird die grobe Kluft zwischen Ich und Vorbild vermindert, doch umso kleinere Unterschiede machen sich alsbald bemerkbar. Oftmals sind aber genau die sehr minimalen Unterschiede von größerer Bedeutung als die groben und erfordern mehr (oder die eigentliche) Kraft, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Nach dieser Erkenntnis wird man von außen gesehen auf der nächsten Stufe stehen, von innen wird es sich nicht viel anders anfühlen als bisher. Denn durch die Auffächerung der Nuancen beginnt die Reise zum Vorbild von Neuem. Diese Erlebnisse sind trotz gewisser Enttäuschung von enormer Wichtigkeit. Denn die kurzerhand hergestellte und erlebte Hoffnung, wird auf realistische Parameter wieder heruntergebrochen. Zugleich wird sie Antrieb für die Weiterentwicklung sein.

Im Kampf mit und um das Vorbild ist das Ich voller Hoffnung und Gewissheit, dass durch Fleiß, Würdigung, Erkenntnis oder Hingabe, ein gewisser Abglanz vom Vorbild auf ihn selber abfällt. Dies wird kaum geschehen, denn Unterschiede wird es bei aller Präzision und Wunschdenken immer geben, doch wird sich die Beziehung zum Vorbild vertiefen und etwas Drittes wird aus dieser Vertrautheit herausgehen. Durch die stete Adaption der Potentiale wird das Ich wie bei einem Puzzlespiel fehlende Steine entdecken und versuchen sie entweder bei sich oder beim Vorbild zu suchen. Hat das Ich dabei den Blick stur auf sein Ziel gerichtet, wird es früher oder später an den Punkt kommen, an dem es keine Puzzlesteine mehr zu finden gibt. Das Vorbild mutiert wieder zur reinen Projektionsfläche. Das Ich wird daran scheitern, eine gewisse gleichbleibende Distanz zum Vorbild zu überbrücken. Diese Feststellung wird das Ich lähmen oder es an den Punkt zurückversetzen, an dem die bloße Faszination und Bewunderung Vorrang hatte. Wird das Ich jedoch erfinderisch und flexibel denken und handeln, mit dem primären Ziel nämlich aktiv zu bleiben, wird das Vorbild relativiert und für die eigenen Zwecke angepasst werden können.

Agil beweglich zu bleiben zu einem relativ starren, da zu einer gewissen Höhe erhobenen Vorbild-Status scheint zunächst ein Widerspruch in sich zu sein. Praktisch bedeutet es, dass das Ich nicht nur seine eigenen Unzulänglichkeiten während des Prozesses eingesteht, sondern auf das Vorbild bezogen ebenso Zugeständnisse macht. Es geht dabei darum, das Blendwerk zu entfernen und den Sockel, auf dem das Vorbild steht so zu kupieren, dass das Ich auf selber Augenhöhe mit dem Vorbild stehen kann. Das Ich wird im Entwicklungsverlauf auch lernen müssen, dass das Vorbild nichts Eindeutiges verkörpert und selbst die präziseste Erkenntnis lediglich Teil einer Konstellation ist und daher nur dann wirklich Aufschluss wird geben können, wenn dieses uneindeutige Stück als ein Puzzlestein herausgehoben und aufrichtig mit des Ichs Vorstellungen verglichen wird. Gelegentlich ist dieser Puzzlestein zu groß und kann kurzerhand zurechtgefeilt werden. Ist der Stein gänzlich unpassend, so muss er zur Seite gelegt werden bis das Ich eines Tages möglicherweise jene Vorlage bietet, mit der der  Stein übereinstimmt. Manchmal wird dieser Zustand nie erreicht.

Es bedeutet daher für das Ich, bereits mit nur wenigen Übereinstimmungen hochzufrieden zu sein und die Fähigkeit zu entwickeln einzig aus gewissen Ansätzen Grundlegendes schöpfen zu können. Es geht darum, Verwandtschaften zu finden, Merkmale zu entschlüsseln und ins Eigene zu übersetzen, ohne jedoch jemals in diesem Entwicklungsgang die parallel erfolgende Laufbahn des Ichs zu beeinträchtigen. Wenige, doch verinnerlichte Entsprechungen werden am Ende deswegen mehr wert sein als oberflächlich kopierte Umrisse, weil das Ich aus der Übereinstimmung heraus Kraft wird schöpfen können für Dinge, die vorher noch nicht da waren, aber in Form und Vorgang genau der Haltung entsprechen, die zweifelsohne auch aus des Vorbilds Welt hätte entspringen und aus dieser heraus hätte geschaffen werden können. Das Vorbild zu überwinden, heißt nicht, es zu verwerfen und in eine höhere Kategorie einzusteigen, sondern das Vorbild so weit zu verinnerlichen, dass trotz Mangel an effektiver Kongruenz etwas Verwandtes aus eigenem Kraftkern besteht und in seinem Wirken weder auf die Quelle des Ichs noch auf jene des Vorbilds zurückgreifen muss, sondern aus sich selber herausschöpft, gleichwohl stets im Bezug zum Ich, respektive zum Vorbild steht. Das Ziel soll nicht sein das Vorbild bis aufs Letzte zu kopieren und damit zum Imitator zu werden, der sein Ich für das Vorbild aufgegeben hat, sondern durch die Beziehung zum Vorbild zu sich selbst zu finden und die Eigenständigkeit des Ichs mithilfe des Vorbildes zu entwickeln.

Es ist wie gesagt nicht unerheblich, dass man von vornherein ein Vorbild mit Ähnlichkeiten auswählt, im Bewusstsein, dass die Annäherung an das Vorbild ein Kennenlernprozess ist, dennoch am Ende das Vorbild nur in Teilstücken erfassbar sein kann, so wie die Wege dorthin auch nur unter Beherrschung gewisser Werkzeuge beschritten werden können. In dieser Entwicklung gibt es Flug und Fall, Stufenerklingung, das Aufflackern eines Ganzen und Vollkommenen, die Feststellung, dass das Ich Ich bleibt und das Vorbild Vorbild, und eben nicht jene langsame Vereinnahmung, respektive die einst erhoffte Wesenseinheit stattfindet. Im Querschnitt des Moments wird somit immer ein Fragment, eine Spielrolle, ein Spiegel des Ichs bleiben, aus welchem man nicht heraustreten kann, unabhängig davon, an wem man sich misst, was man dabei erreicht oder verfehlt.

 

 

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Der Faden im Kopf, Aufsätze und Reflexionen von Joanna Lisiak, 2018, mit Illustrationen von Barbara Balzan 236 Seiten, isbn 978-3-74816-716-7

Umschlag: «Unter freiem Himmel», 2018, von Mariola Lisiak

Weiterführend →

Holger Benkel schrieb einen Rezensionsessay über „Der Faden im Kopf„. Lesenswert ist gleichfalls das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verlieh der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.