Wie die Galgenlieder entstanden

 Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen.

Nietzsche.

Es waren einmal acht lustige Könige; die lebten. Sie hießen aber so und so. Wer heißt überhaupt? Man nennt ihn. Eines Tages aber sprachen die lustigen Könige zueinander, wie Könige zueinander sprechen. „Die Welt ist ohne Salz; laßt uns nach Salz gehen!“ sagte der zweite. „Und wenn es Pfeffer wäre“ meinte der sechste. „Wer weiß das Neue?“ fragte der fünfte. „Ich!“ rief der siebente. „Wie nennst du’s?“ fragte der erste. „Das Unterirdische,“ erwiderte der siebente, „das Links, das Rechts, das Dazwischen, das Nächtliche, die Quadrate des Unsinnlichen über den drei Seiten des Sinnlichen.“ „Und der Weg dazu?“ fragte der achte. „Das einarmige Kreuz ohne Kopf und der Basis über dem Winkel“ sagte der siebente. „Also der Galgen!“ sagte der vierte. „Esto“ sprach der dritte. Und alle wiederholten „Esto“, das heißt „Jawohl“.

Und die acht lustigen Könige rafften ihre Gewänder und ließen sich von ihrem Narren hängen. Den Narren aber verschlang allsogleich der Geist der Vergessenheit. – –

Betrachten wir den „Galgenberg“ als ein Lugaus der Phantasie ins Rings. Im Rings befindet sich noch viel Stummes.

Die Galgenpoesie ist ein Stück Weltanschauung. Es ist die skrupellose Freiheit des Ausgeschalteten, Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht. Man weiß, was ein mulus ist: Die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Schulbank und Universität. Nun wohl: ein Galgenbruder ist die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Mensch und Universum. Nichts weiter. Man sieht vom Galgen die Welt anders an und man sieht andre Dinge als Andre.

 

 

 

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Galgenlieder, von Christian Morgenstern. Erschienen im Verlag Bruno Cassirer. Berlin 1905

„In jedem Menschen ist ein Kind verborgen, das heißt Bildnertrieb und will als liebstes Spiel- und Ernst-Zeug nicht das bis auf den letzten Rest nachgearbeitete Miniatür-Schiff, sondern die Walnußschale mit der Vogelfeder als Segelmast und dem Kieselstein als Kapitän. Das will auch in der Kunst mit-spielen, mit-schaffen dürfen und nicht so sehr bloß bewundernder Zuschauer sein. Denn dieses ‚Kind im Menschen‘ ist der unsterbliche Schöpfer in ihm […].“

Vor 100 Jahren starb Christian Morgenstern. Er gibt kaum eine literarische Richtung, die er nicht vorweggenommen hat. Auch die Twitteratur?

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.