Gebrauch des Wunderbaren

 

Alles wahre Wunderbare ist für sich poetisch. Aber an den verschiedenen Mitteln, diesen Mondschein in ein Kunstgebäude fallen zu lassen, zeigen sich die beiden falschen Prinzipien der Poesie und das wahre am deutlichsten. Das erste oder materielle Mittel ist, das Mondlicht einige Bände später in alltägliches Taglicht zu verwandeln, d.h. das Wunder durch Wieglebs Magie zu entzaubern und aufzulösen in Prose. Dann findet freilich eine zweite Lesung an der Stelle der organischen Gestalt nur eine papierne, statt der poetischen Unendlichkeit dürftige Enge; und Ikarus liegt ohne Wachs mit den dürren Federkielen auf dem Boden. Gern hätte man z.B. Goethen das Aufsperren seines Maschinenkabinetts und das Aufgraben der Röhren erlassen, aus welchen das durchsichtige bunte Wasserwerk aufflatterte. Ein Taschenspieler ist kein Dichter, ja sogar jener selber ist nur so lange etwas wert und poetisch, als er seine Wunder noch nicht durch Auflösung getötet hat; kein Mensch wird erklärten Kunststücken zuschauen.

Andere Dichter nehmen den zweiten Irrweg, nämlich den, ihre Wunder nicht zu erklären, sondern nur zu erfinden, was gewiß recht leicht ist und daher an und für sich unrecht; denn allem, was ohne Begeisterung leicht wird, muß der Dichter mißtrauen und entsagen, weil es die Leichtigkeit der Prose ist. Ein fortgehendes Wunder ist aber eben darum keines, sondern eine luftigere, zweite Natur, in welcher aus Regellosigkeit keine schöne Unterbrechung einer Regel machbar ist. Eigentlich ist eine solche Dichtung eine widersprechende Annahme entgegengesetzter Bedingungen, der Verwechslung des materiellen Wunderbaren mit dem idealen, eine Mischung wie auf alten Tassen, halb Wort halb Bild.

Aber es gibt noch ein Drittes, nämlich den hohen Ausweg, daß der Dichter das Wunder weder zerstöre, wie ein exegetischer Theolog, noch in der Körperwelt unnatürlich festhalte, wie ein Taschenspieler, sondern daß er es in die Seele lege, wo allein es neben Gott wohnen kann. Das Wunder fliege weder als Tag- noch als Nachtvogel, sondern als Dämmerungschmetterling. Meisters Wunderwesen liegt nicht im hölzernen Räderwerk – es könnte polierter und stählern sein –, sondern in Mignons und des Harfenspielers etc. herrlichem geistigen Abgrund, der zum Glück so tief ist, daß die nachher hineingelassenen Leitern aus Stammbäumen viel zu kurz ausfallen. Daher ist eine Geisterfurcht besser als eine Geistererscheinung, ein Geisterseher besser als hundert Geistergeschichten20; nicht das gemeine physische Wunder, sondern das Glauben daran malt das Nachtstück der Geisterwelt. Das Ich ist der fremde Geist, vor dem es schauert, der Abgrund, vor dem es zu stehen glaubt; und bei der Theaterversenkung ins unterirdische Reich sinkt eben der Zuschauer, welcher sinken sieht.

Hat indes einmal ein Dichter die bedeutende Mitternachtstunde in einem Geiste schlagen lassen: dann ist es ihm auch erlaubt, ein mechanisches zerlegbares Räderwerk von Gaukler-Wundern in Bewegung zu setzen; denn durch den Geist erhält der Körper mimischen Sinn, und jede irdische Begebenheit wird in ihm eine überirdische.

Ja es gibt schöne innere Wunder, deren Leben der Dichter nicht mit dem psychologischen Anatomiermesser zerlegen darf, wenn er auch könnte. In Schlegels – zu wenig erkanntem – Florentin sieht eine Schwangere immer ein schönes Wunderkind, das mit ihr nachts die Augen aufschlägt, ihr stumm entgegenläuft u.s.w. und welches unter der Entbindung auf immer verschwindet.

Die Auflösung lag nahe; aber sie wurde mit poetischem Rechte unterlassen. Überhaupt haben die innern Wunder den Vorzug, daß sie ihre Auflösung überleben. Denn das große unzerstörliche Wunder ist der Menschen-Glaube an Wunder, und die größte Geistererscheinung ist die unsrer Geisterfurcht in einem hölzernen Leben voll Mechanik. Daher trüben sich die himmlischen Charakter-Sonnen zu einem Klümpchen Erde ein, wenn der Dichter uns aus ihrem Voll-Lichte vor ihre Wiege hinführt. Zuweilen ist es romantische Pflicht, der Nachgeschichte wie der Vorgeschichte eines wunderbaren Charakters die Decke zu lassen; und der Verfasser des Titans wird schwerlich, wenn er anders Ästhetiker genug ist, Schoppens Vorzeit oder der verschwundnen Lindas Nachzeit malen. So wünsch‘ ich beinahe, ich wüßte gar nicht, wer Mignon und der Harfenspieler von Geburt an eigentlich gewesen. So wohnt man in Werners Söhnen des Tals der mit Schauern prangenden Aufnahme in den Tempelorden bei; das ungeheuere Welträtsel versprechen Nachtstimmen zu erraten, und in tiefer Ferne werden von vorüberfliegenden Nebeln Bergspitzen aufgedeckt, auf welchen der Mensch in die ersehnte andere oder zweite Welt, die eigentlich unsere erste und letzte bleibt, weit hineinschauen kann. Endlich bringt der Dichter uns und die Sache auf die gedachten Bergspitzen, und ein Logenmeister tut uns kund, was der Orden haben und geben wolle, nämlich gutes moralisches Betragen, und da liegt die alte Sphinx tot vor uns auf ihren steinernen Vieren, von einem Steinmetz ausgehauen. Will man dem tragischen Dichter nicht unrecht tun, so nimmt man alles vielleicht am besten für einen Scherz auf die meisten Tempel- und Sakristei-Ordenherren, welche mehr durch Verziffern als Entziffern glänzen und mehr vor Ausgeschloßnen als vor Auserkornen.

Wir treten nun dem Geiste der Dichtkunst näher, dessen bloßer äußerer Nahrungsstoff in der nachgeahmten Natur noch weit von seinem innern abgeschieden bleibt.

Wenn der Nihilist das Besondere in das Allgemeine durchsichtig zerlässet – und der Materialist das Allgemeine in das Besondere versteinert und verknöchert –: so muß die lebendige Poesie eine solche Vereinigung beider verstehen und erreichen, daß jedes Individuum sich in ihr wiederfindet, und folglich, da Individuen sich einander ausschließen, jedes nur sein Besonderes in einem Allgemeinen, kurz, daß sie dem Monde ähnlich wird, welcher nachts dem einen Wanderer im Walde von Gipfel zu Gipfel nach folgt, zu gleicher Zeit auch einem andern von Welle zu Welle, und so jedem, indes er bloß seinen großen Bogen-Gang am Himmel zieht, aber doch am Ende wirklich um die Erde und um die Wanderer auch.

 

 

 

Jean Paul, Gemälde von Heinrich Pfenninger, 1798

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