Erinnerung an einen apokalyptischen Anarchisten

 

“Je tiefer man in das Werk des Poeten, Philosophen, Cineasten, Cineasten, Politologen, Romanciers und bilden Künstlers, kurzum: des Autors Pasolini eindringt, je länger man sich mit den unzähligen Facetten seines Werkes und seiner Arbeitsweise beschäftigt, desto subtiler und komplexer, irritierender und faszinierender erweist er sich. […] Der Kosmos ‚Pasolini‘ ist unerschöpflich und erweist sich für viele theoretische, poetische und politisch-philosophische Debatten nicht nur im Sinne einer Kontinuität oder eines Anhaltenden als aktuell, sondern immer wieder als aktueller denn vieles sonst.“ (S. 24)

Zehn Jahre nach seiner Monografie über die außergewöhnliche Persönlichkeit Pasolini (1922-1975) unternimmt Hans Ulrich Reck einen erneuten Versuch, dessen Konzept einer „utopische Ungleichzeitigkeit“, in der Vergangenheit „als Kraft einer in der Gegenwart verstellten oder unterdrückten Zukunft“ (S. 27) erschien, zu verdeutlichen. Eingeleitet durch 22 fotografische Abbildungen, inklusive einer Farbfotografie, die Pier Paolo Pasolini als Persönlichkeit und als Körper in dessen sinnlicher Präsenz in privaten, berufsbezogenen und öffentlichen Kontexten beleuchten, ist der vorliegende Paperback-Band in neun Kapitel gegliedert. Ausgehend von dem Versuch, Pasolinis Aktualität in deren vielgestaltigen Facetten argumentativ zu umreißen, setzt sich Reck im Kapitel II – Gewalt und Metamorphose – zunächst mit den Hintergründen der Ermordung von Pasolini in der Nacht vom 1. zum 2. November 1975 in der Nähe von Ostia auseinander. Unter Abwägung zahlreicher spekulativer Begründungen für die mysteriöse Begleitumstände der Mordtat weist Reck auch das Motiv der angeblichen Schaffenskrise als Ursache für einen angeblich inszenierten Selbstmord als unsinnig zurück, da „Pasolinis Schaffen wie seine Vitalität […] prinzipiell die üblichen Markierungen einer Grenze zwischen dem Produktiven und dem Destruktiven, der Schöpfung und der Zerstörung, dem Lebendigen und dem Toten dem Scheitern und dem Gelingen“ (S. 34f.) überschreitet. Auch eine andere ihm zugewiesene Positionierung als angeblich bekennender Kommunist entzieht sich ebenso wie die Zuordnung zu ästhetischen, literarischen oder kinematografischen Richtungen im Rahmen seines künstlerischen Schaffens jeglicher Zuweisungen.

Es ist die kategoriale Zuschreibung Apokalyptischer Anarchist, zum ersten Mal im Zusammenhang von dialektischem Verhältnis Werk und Leben, Leben und Werk genannt, die die außerordentliche Persönlichkeit des Dichters, Sprachforschers, Filmemachers, Romanautors und Journalisten in ein „Flussdiagramm“ ohne Markierungen bringt. Pasolini sei der Vielfalt mediterraner Sprachen nachgegangen, seine scharfe Kritik an einer nivellierten und globalisierten Welt sei erst heute in vollem Umfang begriffen worden, die Gewalt der Natur sei dem menschlichen Wirken überlegen, Bewusstsein schwäche die Instinkte (eine Position, die ihn als Anhänger der Gegenmoderne outet!), jede Steuerung der Natur erzeuge Unterwerfung, Selbstverblendung und Gewalt, die Konsumgesellschaft bringe einen mörderischen Faschismus hervor. Und die daraus folgende Zuweisung eines Schaffens, das jenseits einer Kategorisierung liegt, formuliert Reck wie folgt. Pasolini eigne sich „trotz einer geradezu mustergültigen Erfahrung des Dissidenten und Marginalisierten weder für die konformistisch gewordene Homosexuellenbewegung noch gar für Gender-Moden und andere zeitgemäße Verharmlosungen am … Skandal des Lebens.“ (S. 41)

Die Fülle der komprimierten Aussagen über das auf rund 25.000 Druckseiten angewachsene Werk von Pasolini erlaubt in der Summe der erkenntnistheoretischen Aussagen von Hans Ulrich Reck angesichts des eingeschränkten Publikationsraumes nur ein gekürztes Resümee. Die in neun Kapiteln zusammengetragenen Aussagen er– fassen vor allem in den Kapiteln III (Zur Wirklichkeit der Kinematografie), IV (Film als Semiotik der Wirklichkeit), VI (Traum und Kreativität), VII (Der Literat) medienspezifische Aussagen. Eine Aussage, die nicht ausschließt, dass die theoretisch hochaufgeladenen Passagen über Pasolini als Dialektforscher (Kap. V) und als Journalist (Kap. VIII) auch eine Fülle von medienpraktischen Anregungen enthalten. In der Summe der hier vorgelegten Erkenntnisse über das Werk eines Universalgenies ist vorläufig festzuhalten. Recks finale Aussage, dass Pasolinis Werk „zu einem bleibenden Lehrstück der Destruktionspotenziale des Kreativen, aber auch der schöpferischen Anteile in bewusst vollzogenen … Umformungsprozessen“ (S. 162) werde und sei, ist als Aufruf an eine globale Forschungsgemeinschaft zu werten, die sich nunmehr seit rund fünfzig Jahren dieser Aufgabe widmet. Die handliche Paperback-Ausgabe (deutsch und englisch) des Spector Books-Verlag in Leipzig wird aufgrund der komprimierten Erkenntnisse von Hans Ulrich Reck sicherlich einen bedeutenden Anteil daran haben.

 

 

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Pasolini. Der apokalyptische Anarchist, von Hans Ulrich Reck Leipzig (Spector Books) 2020