Lyrische Novelle 4

 

Es ist schade um die Menschen, sagt Strindberg. Vor einigen Monaten sass ich mit einem Dichter zusammen in einem Berliner Kaffeehaus, wir redeten begeistert und begeisterten uns immer mehr an unserem gegenseitigen Einverständnis. Er war viele Jahre älter als ich, ich hätte beinahe sein Sohn sein können. Er beugte sich über den kleinen Tisch und hielt meine Hände fest, er schleuderte mir seine Ekstase, seinen Optimismus, seine rauschähnliche Freude wie Flammen entgegen. »Sie sind die Jugend«, sagte er, »die einzige Jugend, der ich die Zukunft und den Sieg über uns nicht missgönne –«

Seine Worte ernüchterten mich ein wenig. Er schien es augenblicklich zu empfinden, er liess meine Hände los, sah mir eindringlich ins Gesicht und sagte:

»Wissen Sie denn, wie liebenswert und wie gefährdet Sie sind? Sie sind auf einmal so blass, sagen Sie, was ich für Sie tun kann.«

Man sagt mir oft, dass ich gefährdet sei. Vielleicht liegt es an meiner zu grossen Jugend –

Damals lachte ich darüber. »Ich liebe die Gefahr«, sagte ich, und ich fühlte, dass mir die Freude aus den Augen leuchtete.

»Jetzt muss ich gehen«, sagte ich, es war Mitternacht, ich verliess ihn in Eile, fast ohne Abschied zu nehmen. Unter der Tür kam mir das Unschickliche meines Verhaltens zum Bewusstsein, ich eilte zurück, presste seine Hände und sagte: »Verzeihen Sie, ich warte seit zwei Tagen auf eine grosse Gefahr . . .«

»Gehen Sie«, sagte er lächelnd, »bestehen Sie sie . . .

Ich habe sie aber nicht bestanden.

 

 

***

Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera (entstanden in den 1930er Jahren)

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück.