Transitverkehr

 

Thors Vater hat sein Auskommen vom Umkommen andrer. Den Dackel der Reifenstuhl hatte er neulich unter der Reiße. Wobei Reiße was Wörtliches hat. Das alte Innenleben raus – die Seele sowieso schon flöten, flüchtiges Ding; hätte nichts zum Dran-Weiden gehabt, weil Ausweiden was fürn Schlachtergemüt und zugehörige Metzelfinger – aber dann, sobald ’s Weiden zuend, was für die feinen, Finger und Gemüter, sobald der Balg am Stück gebeizt: das Stopfen und Anfüttern, als zöge mit Werg und Sägespänen eine neue Seele ein, ganz der Alte, grüne Augen hat er gehabt, nun schimmert’s aus den Tiefen vom Glasfluss, ungesäumt übern Styx (Umspannwerk Haspe, die Ennepe hatte ihr’n Ölfilm aufgelegt wie ne Dirne Rouge: traf ihn der Schlag) mitten ins dralle Leben gerissen (oder: wie man was Sterblichem anzieht ’s Gewand der Unsterblichkeit). Tierpräparator also. Thors Großvater mit Hundeöl im Geschäft. Das Feuer unter den Sudkesseln gibt Thors Nächten Glanz. Selbst auf die karmesinrote Glut ist er scharf; wenn Neumond ist oder das Himmelsstück überm Hof nichts als Wolken, kann er sie, das Gesicht ans Barackenfenster gedrückt, ausmachen. Die Stirn schwarz vom Quetschen. Fettige Tatze. Oleum caninum, wie ausm Märchen, wo’s nur Bösewichte und finstres Gelichter hat, das sich gegenseitig das Fell abzieht und den Teig bis aufs dunkle Herzstück und die blanken Knochen auskocht. Thor wischt sich die Balz mitm Glas von der Stirn – und immer ran mit der Schmierage an die Hose. Geht sowieso nicht mehr ab. Als ob’s Hundeöl überall seine Marken setzt. Je fetter der Pudel gewachsen, desto kerniger die Erinnrung an ihn. Kleinstadtapotheker, den Kittelsaum von zweifelhafter Färbung, Siedlungsweiber mitm Ruf irgendwas zwischen Engel der Armen und Kurpfuscherin und Landärzte, denen die Wartezimmer dritter Klasse nicht leer werden von den Kindern, denen die Lunge unter Tage kohlraben- gewachsen ist, solche nehmen dem Großvater seine räudige Medizin ab. Was über bleibt, verschickt er von Haspe weg mit der Bahn blöckeweise an Seifensiedereien im Sauerland.

Als der Großvater stirbt, gehn die Kessel ans Altmetall. Glockeschlagen im Treppenhaus. Die Riefe, wo der eine, der große Kessel den Putz gefräst, heute noch wie für Thors Finger gemacht. Legt er ein’n rein. Mittelfinger, wie zum Groll ausgestreckt. Denkt an den Schuppen: erst eine Zeitlang leer, (sagen wir:) halbsommerüber, bis dem Hauswart der Winter in’n Sinn kommt, Lager für Kohlen und Kohl, dann nur noch Kartoffeln, dann Schrumpfköpfe von Kartoffeln, reine Schimmelwelt, ein Druck drauf1 und es weckt die Sporen: schnaufst du’s ein, bist du tot; dann weg der Bretterverschlag mit der Schwengelpumpe davor, ein Aufwasch, die Straßenbahn zwei Querstraßen weiter glaubt ebenfalls mit an den Fortschritt, Thor hat die Schule grade geschmissen. An der Kreuzung die Gleise gleich raus, breitergelegt, drei Spuren Auto-mobil die eine, drei die andere Richtung, der Raum staunt (was die Pläne vom Hochbauamt ihm schon zu ahnen gaben): soviel Licht und Himmel zum Dummwerden, kann man im Leben nicht aus- und zu Ende denken; die Reifenstuhl schleift ihren Hund an der kurzgehaltenen Leine über die kurzgeratene Ampelphase, dass sie wenigstens da mitkommt – aber Thor, Thor! will die Arme nur noch ausgestreckt, quer vom Körper weg, wenn er die Kreuzung mit nem Zug nimmt, dass ihm schwindelt – ne, Schwindel kennt er nicht. Thor! In den Gleisstummeln steht der Regen. Der Rost gedeiht. Auf dass sie die Stadt weiter verderben. Thor träumt nach vorn. Der Mariannenplatz war blau … Steine, Pack, Scherben. Brüder und Schwestern. Aus dem braungetünchten, wie zusammengeklappt wirkenden Haus von gegenüber kommt ihm einer manchmal auf der Kreuzung entgegen, da hört er Sätze wie Sage vom Ganzen / den Satz, den Bruch, / das geteilte Geschrei, den / trägen Ton, der Tage / Licht.Notizzettel im Handteller, der Asphalt leuchtet. S hat auch was mit den Brüdern und Schwestern zu tun, das spürt er. Sieht aus, mutet an wie einer von den Handwerkern vom Glasfenster vom Hauptbahnhof, der mit der wilderen Mähne und der Grabgabel in der Hand, auf die er sich halb stützt, halb loslegt mit der. Als gäb’s gewaltig was zum Umgraben, hier und sofort. Das Hemd aus der Hose, auch da die Bewegung. Der andre den Kragen überm Jackett, die Krawatte, wenn, dann zu kurz. Die Stirn vor, ins Leben geplatzt, das Kinn zurück, als erschräk’s darüber, Angriff und Rückzug zugleich. Der Geist überm Kleingeist. Schwebend. Am End‘, sagt der Kleingeist, ersaufen eh alle im selben Wasser, was tust du so hochgereckt? So einer bräucht‘ einen Spaten. Zum Ausmisten. Zum Totewecken. Thor spricht ihn an. Die Fußgängerampel dreht auf Rot. Der Verkehr reißt sich los. Sie auf der Mittelinsel, Gestrandete, zwanglos frei. Die Beine im Schlick, doch Luft zum Atmen genug. „Nussschale“, sagt der mit dem Glanz auf der Stirn und deutet auf den weißwarnenden Randstein. Pass auf! … so viele Bullen waren da … Er sagt: „Ich hab noch einen. Einen Chemigrafen. Er hat eine Vision, er hat Bilder gesehen, demonstrierende Arbeiter mit Transparenten. Er schreibt davon und schickt mir das, was er schreibt.“ Thor zögert. „Hier ist es nicht so“, sagt Thor. „Hier?“ Der mit der Stirn macht eine Bewegung, die die ganze Kreuzung einschließt. „Das mit den Visionen“, sagt Thor. „Nicht hier und nicht da“, sagte der andre und winkt hinter sich mit dem Finger. „Tod immer.“ Thor denkt, er zitiert was, das jemand geschrieben hat. Womöglich er selbst. „Klingt wie’n 1 „drauf“ evtl. streichen Spaten“, sagt Thor. „Aber keiner, der Gräber aushebt. Einer der nach dem Leben sticht, Blatt um Blatt. Schöne glänzende Schnitte.“ Der andre nickt, kaum dass Thor ’s merkt. Die Ampel schaltet zum dritten, zum vierten Mal auf Grün. „Meister“, sagt der mit dem Spaten im Kopf, „Ernst Meister“ – und weist auf das Haus mit der Tünche, die es versteckt. „Komm rüber –“, er wartet – „Thor“, sagt Thor, als er spannt, dass da einer die Hand hinhält, ob er sich offenbare – er geht los, hält inne, kippt den Kopf mit dem Wind, sagt dem bereits Gehenden, Meister, in den Rücken: „Ich komm‘.“

Thor kommt. Erst einmal, später mehrmals die Woche. Er liest Gedichte von Meister. Er liest, was der Chemigraf schreibt, Nicolas. Frischer, gleichwohl stachliger Trieb auf der Schutthalde der auf jung und unschuldig geschminkten Republik: Born. Zum Erquicken. „Ersticken“, sagt Nicolas, „sollen sie.“ Lacht. Thor mit der abgebrochenen Schule. Meister versteht ihn. Er hasst seine Arbeit in der väterlichen Firma – und hat keinen Ausweg. Er sagt nicht: Lern etwas. Hat es ihm etwas genützt? Sie sprechen über den Kleinmut der Menschen, die Trostlosigkeit ihrer Verrichtungen, womit sie die Herzen auszehren und träge machen. Diese Unwirtlichkeit, diese Hitze, die nicht wärmt, in der sich Leute für Geld vernichten, schreibt Born. Meister sagt, wenn das Leben kein Ende hätte, wenn der Tod nicht wäre, würde der Mensch sich trauen; er würde aus seinen Fehltritten lernen (er sagt solche Wörter, sagt: Grimm, Bitterkeit, Missgunst: Brutstätten und Keime der Abwege, die man dann freilich nicht mehr so nennen könne, – aber nicht streng, unbarmherzig, sondern wie’n lässliches, kaum ernst zu nehmendes Ding sagte er das), seine Verfehlungen stünden ihm nicht wie ein Druck im Rücken, den man nur loswird, indem man sich nicht mehr umdreht und so tut, als wär’s nicht geschehn, – sondern (er liest ab, ein hektographierter Zettel) die unbegrenzte Zeit gäbe einem unbegrenzten Mut – die Schwächen, die Unzulänglichkeiten, man könnte sich umschaun, sich selbst ins alte, ewig junge Gesicht, und dann wär’s soweit für den zweiten, den wievielten Anlauf. Misslingen wäre nur das Tor zu neuem Mut. Thor drückt derweil mit dem groben Pinsel ein schwarzes Rund aufs Papier, nach oben, zur Seite hin lässt er es offen, der gut daumenbreite, satte Strich franst an den zueinandergestellten Enden aus. Auf dem Sofa knetet das Mädchen seine Puppe. Seine Haare lassen den Vater ahnen: ungestüm, schwer, seitlich gescheitelt, ein Zug nach unten. Der Bub mit den Malkreiden kennt nur sein Blatt. Der Große erkundet auf einem Bogen, der den Beistelltisch überlappt, Raufaserschnitt, glattgeköpft, eine Welt aus Trichtern und konischen Gebilden, welche Höhlen und Himmel belauschen. Thor denkt an die berittenen Polizisten, denen er – die Schalmeienzüge waren eben durch, die gestärkten Westen, die glänzenden Messingknöpfe, die Gesichter, die vom wiedereingefundenen Sonntagsbraten sich bereits andeutungsweise spannten, manche schon feist – an der Gruga, um eine Straßenbreite getrennt, gegenüberstand, die Grundschule durch, er in der Lederbüchse, die Oberschenkel knapp bedeckt, die Puschen, deren Riemen die Sohle ans nackte Fußgewölbe presste, dass aus Holz und Schweiß sich eine grade so ausgehaltene Nähe ergab, obendrein eine fast wolllüstige Vorform von Schmerz – selbiger von den Berittenen (in den steifen Kleppermänteln wie zur kommenden Liturgie auserkoren) auf die Menge der jungen Leute überging – mittels Holz- und Gummiknüppeln, Thors Augen schnappten und kamen nicht los: eine Haarsträhne, die sich mit Blut auf der Schläfe paarte, frisch wie zum Lecken, ein schwarz aufgerissener Mund mit dem Laut des allgemeinen Gejohls und Geschreis, ein Mund, dem die Heftnadeln in den Lippen zu stecken schienen, Hände, die an einem Kleppermantel reißen, und der Reiter bekommt eine Unwucht, das Tschako segelt plump ins Gewühl, dann eine Welle zurück, als eine ausscherende Staffel die Menge abdrängt, zwei Grünuniformierte treiben’s über einem bereits zu Boden Gestreckten mit härteren Bandagen, einen schleifen sie, willfährig seine Glieder, kein Mucks, in den Windschatten ihrer Verrichtungen, – und erst, als die Fronten die Quartiere ihrer verlorenen Unschuld beziehn, dort das verwilderte Pack, da die ordnende Hand, kommt die Staatsmacht wieder ins Nahgebiet ihres Begreifens, einen in der Zäsurhaftigkeit langen Moment hält die Ruhe, von Kehllauten und Pfiffen gesalzt, das Zepter hoch, überblickt das Gewühl, das sich inwendig abmüht, tausendfüßlerhaft, bis – er hört eine Fliegenklatsche sausen – ein Schuss fällt, Thors Herz eine Doppelsystole hinlegt und seine Puschen das Pflaster abklatschen. Das Gekreisch, das ihm im und über dem Nacken hängt, gilt – er wehrt sich gegen das Schrein in seinem Kopf, das ihn drei Häuserblöcke weit, kreuz und quer steinigt, bis er sich hechelnd mit Oberkörpergewicht und immer noch, von dem Muskeldrang her, Schwung holenden Armen gegen die Knie stemmt – nicht ihm. Am nächsten Tag liest er: In Abwehr offener Widersetzlichkeit polizeilich erschossen: Philipp Müller. Aus der Hüfte schiebt Meister den Pinsel, ein Stöckchen in seiner fleischigen Hand, an den blauen und gelben Lineaturen entlang, größtmöglich abständig, die genoppte Strickweste hält seine (mühsam – wohin? und wofür?) aufgesparte Kraft in Zaum. Dann gibt er nach; sitzt, lässig und beinah elegant, im Sessel, der Pinsel Stab eines Dirigenten, der die Musik vom Blatt weg erzwingt. „Folgt etwas daraus?“, fragt ihn Meister. Thor schiebt sich die Finger in die Ohren, um das Geschrei loszuwerden. Er zieht einen weniger harten, weniger deutlichen Strich quer durch und an dem geschlossnen Segment auch ein Stück weit über den Kreis, von links unten in Richtung der rechten oberen Öffnung. Die letzte kurze Strecke wieder mit Nachdruck. „Folgt was?“, wiederholt Thor. „Nichts folgt“, sagt Meister. „Man hält still.“ Er stippt den Finger auf den Boden der Zigarettenschachtel, das Röllchen schlüpft. „Ich möcht‘ nur den ungeborenen Kindern in die Augen blicken können“, sagte er unvermittelt. „Das Leben ist so erbärmlich kurz und finster. Die Welt muss eine andere werden!“ Er lässt das Feuerzeug schnappen. Thor lässt die Daumenkuppe unter den Versen entlanggleiten: Und ich wollt doch / das Auge nicht missen / entlang den Geschlechtern nach uns. „In Klammern gesetzt“, sagt Meister ruhig, „weil’s sonst zu weh tut.“ Thor schmeißt seine Zigarette über den Tisch. „Ich will das Leben nicht in Klammern setzen“, fährt er auf. Steht plötzlich übergroß im engen Wohnzimmer. Papier, Graphitstifte, die Näpfchen mit Farben, der seiner Näpfchen beraubte Blechkasten, das Wasserglas zwingen den hochgekurbelten Tisch in die Beine – beinah, denkt Thor. Noch ein Schrei meinerseits oder von Seiten der Welt, und’s kracht. Meister schickt die Kinder nach draußen. „Ich auch nicht“, sagt er leise und steckt zwei Näpfchen auf ihren Steg im Kastengrund. „Ich will nichts verraten“, presst er, während er weitere Näpfchen einrasten lässt. Fahr fort, denkt Thor und stößt Meister sacht am Ellenbogen an. Wie einen Pinsel, der sich in Zeichen und Farbe offenbaren soll. „Nicht gewusst …“, sagt Meister, und Thor merkt, dass er Anlauf nimmt – „Nicht gewusst“, wiederholt Thor wie zum Anschub – „Nicht gewusst …“, Meister schöpft Atem, als wär’s unmöglich, nicht zu ersticken; lässt dem Zigarettenrauch seinen Lauf, eine bläuliche Helix steht in der Luft, „… dass mir Liebe geweissagt war aus der Liebe.“ Thor steckt ein Näpfchen neben Meisters letzte paar ein, zieht dessen massigen Leib näher, bis sich die beiden in ein paar gemeinsamen Punkten, flachen Stellen, berührn. Brüder und Brüder und Schwestern und Schwestern, denkt Thor. Los.

Thor lernt Schriftsetzer. Thor geht nach Berlin. Meister hat ihm den Schlüssel für seine Hagener Wohnung in die Hand gelegt. Der Grat von den Bartzinken glänzt silbrig scharf. Wenn er wiederkommt, kann er aufsperren, ohne zu läuten. Die Kinder schlafen vielleicht. Die Frau hat mit einer Radierplatte im Ätzbad zu tun. Thor ballt die Faust überm Metall. Thor wohnt möbliert, Dienstbotenkammer mit Badmitbenutzung am Freitag und Klo auf dem Halbstock. Er fertigt Flugblätter für ein Druckereikollektiv. Als die Witwe eines Freitagmorgens, ungebadet, der Boiler kocht gerade hoch, stirbt, schließt er sich Hausbesetzern in der Taborstraße an, ein ausgesacktes Stück Blinddarm Kreuzbergs, das in den Osten schwärt. Die weiten, von halben Baumleichen bestandenen Straßen, die Stämme wie Bleistifte dünn, menschenleer und von einer Düsternis, die jeder neu aufgeständerten Stadtautobahn drüben im Westen, jedem Planierraupenvorschub, jedem Amalgam aus Baustahl und Beton spottet. Nachts geht Thor mit der Taschenlampe aus dem Haus, um den Weg nicht zu verliern, im Winter schon am frühen Nachmittag. Die Trottoirs heißen ihn mit Stolpersteinen willkommen. Sein Eiland trägt ein Gesicht aus Abwehr. Er macht sich’s warm. Er verputzt Wände und legt Abwasserrohre. Er heizt den Badeofen mit kleingehacktem Bauholz, den seine Eltern in die Kiesgrube gekippt haben samt Chaiselongue vom Großvater. Er teilt, doch das Wort Kommunismus schreibt er mit gemischten Gefühlen (und setzt’s in Fraktur). Heute kein Brot – morgen rot – wer glaubt das noch? Es gibt Brot und Torte. Mit Nicolas fährt er nach Adlershof. Der Kohlerauch auf der andren Spreeseite beizt Zähne und Glasscheiben gelb; der Trambahnwagen, der sie zur Wohnung der Dichterin bringt – ein Rekowagen gelinder Alpträume: als hätt‘ man ein Armeleut‘-Paradies aus umgekommner Hoffnung, Knauser und Notzucht rekonstruiert. Das Laub in verbackenen Fladen und raunzigen Halden, Besen: Saisonartikel für den Sommer, der am Ende der Kohlezeit wiederkehrn mag. Seghers spricht, als lebten Ulbricht und Stalin noch. Der Sombrero auf dem Schreibtisch (Mexiko, sagt sie) so unwirklich, als hätte sie ihn selbst aus dem mit unbedingtem Aufbauwillen gedroschenen Stroh des Arbeiter- und Bauernstaates geflochten. Das Bügeleisen zum Plätten harrt hinter dem Vorhang vom Ausgusstisch. Sie betet die Litaneien sozialistischer Schriftsteller. Die der willigen. Die andere ist Stalins Kirchenreform zum Opfer gefallen: subversive Tätigkeiten, Konspiration mit dem Westen, Landesverrat. Wer bereute, wanderte trotzdem in Zuchthaus und Steinbruch. „Arnold Zweig“, sagt Thor, und sie reagiert nicht. „Erich Arendt“, sagt Nicolas, und sie blickt auf das Aquarell, das den Stierkämpfer zeigt, im Begriff, den Speer dem zum letzten Mal schwer entgegenbockenden Tier in den Nacken zu treiben. Darunter steht: Augenblick der Wahrheit. „Hanns Eisler, Erwin Strittmatter“, sagt Thor und die Dichterin sagt: „Neruda und Laxness waren da.“ Sie dreht ein Hufeisen in den Händen, legt es neben der hochbrüstigen Schreibmaschine ab. Brechts Arbeitsjournale von einer schwarzen Madonna erdrückt. „Beschützerin der Seeleute“, sagt die Seghers, und Thor tritt auf den Kastenbalkon, nippt vom schwefligen Dunst und fragt, von innen geduckt: „Welches Meer? Wollte Brecht nicht, dass die Regierung sich ein neues Volk wählt? Über welchen Ozean will man das herschippern?“ Die Seghers bittet ihn auf das braune Velours des Sofas zum Kaffee. Nicolas krampft dort schon. Thor muss sich bücken, so tief ist der Tisch. Das Steinzeug schabt. Thor hört’s scharren. Mit welchen Hufen? So geht das also, denkt er sich. Dein Ozean heißt Treue. Deine Zuversicht wiegt so schwer wie das Hufeisen. Sag schon: jenseits der stapelgehefteten Mustererzählungen, die’s den Recht- und Linksgläubigen predigen und den Bigotten noch einmal von vorn, von der Genesis her buchstabieren, gibt’s da Sprache? Oder nur offene Münder und nichts als Seufzer der Anbetung? Zungenloser Lobpreis? Solcher Lall. Wer braucht Schulmeister? Woher die Gewissheit, wer Freund und wer Feind ist? Der Kachelofen glüht zum Kakteenköpfen. Von der Kehrseite her mit Schweigen beschlagen, denkt Thor. Die Seghers rückt den Flechtschuh am Überseezwirn daran zurecht. Glüh uns was vor von Mexikos Hitze!, denkt er sich. Dein lauer Kaffee als Übungsweg. Dauerausnahmezustand des Mittelmaßes. Überall alarmiert. Diese Unwirtlichkeit, diese Hitze, die nicht wärmt. Wieviel Betörtheit, wieviel Verrat an sich selbst

braucht es, um soviel Hitze auszuhalten? Wieviel Ergebenheitsadressen, wieviel Bleiwesten in ihrem kalten Glanz, die Organe der Empfindsamkeit zu schützen? Zum Abschied zieht die Seghers einen Sonderdruck ihrer frühen Erzählungen aus dem Flurregal. Das Tapirfigürchen davor rückt sie behutsam zur Seite und schiebt es dann wieder zurück. Nicolas nimmt eine Giraffe mit halbgestutztem Bein vom Brett. Bringt ein Fabelwesen, irgendwas zwischen Hirsch und Elch (keins von beidem, sagt die Seghers), aus dem Geviert seiner staubfreien Schonung. Die Seghers setzt beide zurück. „Die mögen’s gern ungestört“, sagt sie. Thor denkt nur: Finger weg von den Büchern! Haltet still! Er zählt: einen lapislazuliblau glasierten Frosch, einen grün patinierten Gusseisenfrosch, einen aus Messing. Macht drei. Die Seghers hat ihnen (und den Fröschen schon lange nicht mehr) kein Wasser angeboten. Zuletzt zeigt Thor noch auf eine Pappscheibe voller Zahlenkolonnen, in Jahresringen von innen nach außen gedruckt, ein Zeiger, mit einer Drahtklammer im Mittelloch angeheftet, lässt sich verstellen. „Meine Kalorientabelle“, sagt die Seghers. Kann man Angst messen?, denkt Thor. Als die Seghers die Tabelle an den Nagel zurückhängt, greift Thors linke Hand nach dem Wohnungsschlüssel für ungebetene Gäste. Die Seghers stellt den Zeiger auf Brot. Thors Hand schiebt sich locker in den Hosensack. Die rechte sagt der Dichterin tonlos Worte des Abschieds, der Mund redet zahm. Ich komme wieder, denkt Thor. Deine Kalorientabelle fetz‘ ich auf Durchmarsch.

Wann ist es soweit, zu schrein? Das Land richtet sich ein. Nicolas zieht ins Wendland. Beruf: Dichter der erdabgewandten Seite, dem Menschen allein zugewandt. Der Atommüll bekommt seine eigene Grabstelle, eine Familiengruft, offen für Zuwachs. Gorleben soll auf dem salzigen Stein stehn. Auf dass Generationen von Schafen sich die Zungen wund lecken daran und das Blut arm und weiß wird davon. Welche Proteste pissen dem Bürger ans Bein? Wieviele Knüppel helfen dem Aufschwung? Welche Randalierer ritzen das wohlanständige Tuch? Für alle wird’s reichen. Noch zwei, drei Jahrzehnte buckeln, aber dann! Das Leben nimmt Fahrt auf, Beschleunigungsstreifen linker- und rechterhand, doppelt gespurt. Morgen ist Zukunft. Die Geschichte kommt an ihr Ende. Standstreifen, Parkbucht, Tief- und Hochgaragen, Aufzüge automatisch. Für jeden ein Plätzchen. Noch sind die Bruchstellen zu sehn: Am genauesten sieht man sie wenn der Zug / langsam entlangfährt an den Rückseiten der Städte / Lagerhallen Höfe, die Kehrseite der Wäsche / und der Blumenfenster – schreibt der Dichter der erdabgewandten Seite der Geschichte. Am 15. Juni 1979 stirbt Meister, am 7. Dezember Nicolas. Vier Jahre später, im Juni, wie Meister, doch zwei Wochen früher, die Seghers. Thor ist noch keine vierzig Jahre alt, als er das letzte Mal den Schlüssel ins Schloss der Hagener Wohnungstür steckt. Meisters Kinder sind groß geworden, ob aufgewacht, weiß Thor nicht, doch er tut gut daran, es zu vermuten. Er braucht sie nicht zu wecken. Der Vater hat mit ihnen Verse und das Brot der geheimen Zeichen geteilt, sie können lesen. Die beiden ältesten sind in Nicolas‘ Alter, als dieser den letzten Hopser in Richtung Staub tut. Thor übernimmt einen Teil seines Hofs. Thor pflanzt Bäume und wässert Gemüse. Er stopft seins und andere hungrige Mäuler. Er druckt die Gedichte seiner Freunde. Er schreibt von der menschenzugewandten Seite des Menschen und druckt auch das. Er leckt sich die Zunge blutig daran. Thors Großvater hat Hundeöl gekocht, sein Vater Kadavern den Anschein des Lebens verliehen: wie echt. Thor will es roh und wund.

An Nicolas‘ Todestag, die Seghers ist kein halbes Jahr unter der Erde, fährt er nach Ostberlin. Die unter der Moos- und Algendecke süßlich verrottende Halbtonne des Bahnhofs Friedrichstraße passiert er im Dämmer. Bekannte bürgen für ihn. Zweitagesvisum. Die S-Bahn nach Schönefeld nimmt das Ostkreuz im tiefergelegten Gleisbogen, er könnte dahertrotten neben dem Schreihals; Kreischen ins Knochenmark. Die Pneumatik der Türen ruft kein pneuma, keinen Heiligen Geist wach. Die Zangengriffe knallen aufs Holz zurück. Der Gummiduft wärmt, ein Kumpel aus Kinderzeit. Er passt eine ältere Frau ab, die ihr Taschengespann vor dem Eingang der Hausnummer 81 abstellt und erst Kellertür, dann Kellerverschlag aufklinkt. Der Schlüssel gleitet ins Schloss. Rechts die Bücherregale, Papier, das die Säure mürb frisst. Ein Angruß künstlicher Vanille. Thor zieht das Türblatt an den Rahmen, es tut einen Ruck und Riegel und Kasten sind satt. Der Drehknopf vom Licht schmatzt, zweimal, ein jähes Aufreißen des Tempelvorhangs, dann nur noch ein Knistern von den Flammen des Heiligtums und kurz mit Blindheit geschlagen. Sonst schmerzt nichts. Thor hangelt sich an den Regalen entlang. Er hört eine aus einer Schulklasse nach der Kalorientabelle fragen. Die Leiterin der Gedenkstätte gibt beflissen Auskunft: Die Seghers und ihr Gewicht! Der Zeiger steht jetzt auf Eier. Brot mit Ei, Vorbote der himmlischen Speisen, Seghers‘ letzte Mahlzeit. Thor lässt sich ins schmiegsame Velours des Sofas fallen. Feine Cordrippen sind dabei, seine Finger fahren darüber. Cordvelours. Gibt es das? Nach einer Weile, das orangefarbene Peitschenlicht wirft es durchs Ast- und Zweigwerk in den Raum, als käme kein morgen, knipst Thor das Kastenradio an. Der Drucktaster rastet ein. Das arktische Hintergrundleuchten der Skala erwacht. Ein Gardeltango kommt hoch. Thor regelt die Lautstärke ab. Gerade so, dass er den Sänger des hochgepuschten Schmerzes hört, wenn er sich nicht regt. Als Seghers Verleger Walter Janka 1957 der Schauprozess gemacht wird: Konspiration, Landesverrat – die böse verstimmte Leier, Beweise zurückgehalten oder gefälscht, sitzt die Dichterin auf den Zuschauerplätzen und kneift hart den Mund zu. Welches Totemtierchen steht davor Wache? Welcher Frosch trocknet aus? Fünf Jahre später, Janka kommt frei, auf den Beinen zwar, innerlich indes von anderer Welt: bodenlos gestürzt oder niedergerungen, sie kann ihren Mund nicht halten (ist es Notwehr, ist es Zynismus angesichts des Flickwerks und Abgrunds ihrer unwahr gewordenen Jugendträume – knapp vorm Eingeständnis, ist es ein Biss, der ihr selber gilt?): Ich bin der Meinung, dass du jetzt eine Ausbildung an der Parteihochschule absolvieren solltest! Janka schreibt das Drehbuch zu Seghers Roman Die Toten bleiben jung – hat er sich so sehr im Tollhaus gefühlt? Jung – und doch tot? Thor ruckt hoch, Gardels Stimme schmilzt in den Äther. Warum bringt das Radio nicht stündlich Nachrichten aus der Welt der schönen, guten und wahren Künste? Lässt die Lügner vor den abgeschalteten Mikrofonen reden, bis sie heiser sind? Erzählt den Ringen des Saturn von euren Atombunkern und Wasserstoffbomben! Von den Startcodes für eure Raketen! Von euren Glücksmomenten im Bleiglanz der Druckbehälter! Zimmermanns neue Oper geborn. Dichter reimen für den Weltfrieden. Teach-in der Versschmiede. Liveschaltung zum Woodstock der Einfältigen und Arglosen. Thor wischt sich den Tapir in die hohle, aufgehaltene Hand. Kassiert den ersten Frosch. Lässt die Schneckengehäuse aus Mexiko in der Hosentasche gegeneinanderklirren, eins prächtiger und vielfarbiger geädert als das andere. Der Hirsch und der Elch, die Porzellanpilze und rohen Tonfläschchen, das Nilpferd im Niedrigbrand sacken in den Beutel. Er greift sich die Bleistiftstummel, die auf dem Schreibtisch bereit liegen wie die Abgeordneten des Schriftstellerverbandes der gesamtsozialistischen Republiken, Reih und Glied, dicht geschlossen. Er horcht, ob die Bücher ihrer Befreiung bereits gewahr werden. Dort raschelt es, da klaffen zwei Buchdeckel auf, zeigt sich ein Spaltbreit Luft zwischen den Seiten. Der Schund schweigt, er hat schon lange nichts mehr zu sagen. Andere werden lauter. Brecht macht Vorschläge; passt auf! Nehmt sie nicht vorschnell an. Das Wirrwarr höhnt. Thor setzt sich an den niederen Beitisch, horcht nur noch halb, dann viertel hin, nimmt die Haube von der Schreibmaschine, zieht die oberste Schublade auf, fasriges Normpapier, er spannt einen Bogen ein, dreht in die Mitte, das Farbband schlägt an: Hier, / gekrümmt / zwischen zwei Nichtsen, / … – eine dritte Stimme legt sich über Gardels Jammer- und Lobgesang und Meisters Stimme, Nicolas seine: Libuda (Thor, denkt Thor) erreicht das offene Land. Libuda (Thor, denkt er wieder) hat, wie eine Kinderkrankheit, die Stadt hinter sich. Er wird antworten: Ich bin nur durchgefahren. – Er tippt die letzten drei Worte. Morgen wird jemand sie lesen. Die Tür schnappt ins Schloss. Die Kreuzungen sind gefegt. Niemand kommt ihm entgegen. Er blickt sich um. Die Fenster von Seghers Wohnung stehn offen. Die schwarze Madonna sitzt auf dem Klodeckel, ihr Zugang zum Meer. Auf Durchreise auch sie. Von der S-Bahn der Sington der Drehstrommotoren. Transitverkehr. Hier, / gekrümmt / zwischen zwei Nichtsen, / sage ich Liebe.

 

 

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Volk der Freien, von Bernd Marcel Gonner. KILLROY media, 2021

Geschichten von Grenzgängern und Grenzgängen allesamt. Im Berlin der Weimarer Republik taumeln Gustav Regler und Ernst Bloch durch den Vorschein ihrer Utopien – scheinbar mit Händen zu greifen, doch Worte wiegen ihnen mehr –, und blicken zugleich in die Fratzen der alten und der heraufkommenden Zeit, Anna Seghers verbarrikadiert sich im Ost-Berlin der 70er-Jahre, während Nicolas Born sich vom Mauern der BRD ab- und dem Menschen allein zuwendet, Ernst Meister möchte in einem Staat, der wieder mit Gummiknüppeln seine Sachen zu ordnen beginnt, noch den ungeborenen Kindern in die Augen sehen können, Jaro sehnt sich im Berlin der knappen Nachwende nach der Tag- und Nachtgleiche der Liebenden, statt nach der einen schnellen Liebesnacht – und vorbei –, eingeklemmt zwischen einem fallenden und einem auf dessen Trümmern trampelnden Staat, in den Ruinen Leipzigs (dystopisch gedacht möglicherweise) richten junge Aussteiger und Anarchisten einen subversiven Laden zur Aufklärung von Kindern ein, um diese aus den Zwängen des Systems zu holen, in einem abgerockten Europa mit Epizentren in den großen Städten wie in den hintersten Winkeln der Länder suchen allerlei Heranwachsende, im Gepäck wenig mehr als heißen Kopf, Herz und Hand, nach Gefährten, mit denen sie ein neues Wechselspiel zwischen Denken und Verhältnissen buchstabieren und aufbauen lernen können – Janoš, Lena, Karl und Paul zum Beispiel sind ihre Namen und wieder Karl und Paul, Wiedergänger wie die Geschicht(en). Geschichten davon, wie der Mensch das Gefüge von „oben“ und „unten“ ins Werk gesetzt hat: das von Bevormundung und Duckmäusertum, das ihm wie eine zweite Haut anhängt –, und was es heißt zu brennen: für die Sache des aufrechten Gangs und des „Keine Macht für niemand“.