Yeah baby, she’s got it

 „Dieses Buch ist recht abstoßend, dennoch kann ich nicht sagen, dass es mich schockiert. Sehr ernst zu nehmende Leute … haben Monsieur Vénus in den Giftschrank ihrer Bibliothek verbannt,…“

Die Eingangspassage aus dem Vorwort zur dritten Auflage des Romans im Jahr 1889 aus der Feder des nationalistisch eingestellten, bedeutenden Schriftstellers Maurice Barrès signalisierte eindringlich das Gefahrenpotential, das von diesem Roman und seiner Autorin ausging. 1884 von August Brancart, in Brüssel, publiziert, wurden Rachilde – und ihr fiktiver Co-Autor Francis Talman – von einem belgischen Gericht zu zwei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 2000 Francs verurteilt. Ein Jahr danach wurde der skandalöse Roman neu aufgelegt – allerdings mit einem Eingriff durch die Zensurbehörde. Ungeachtet dieser Eingriffe in die ersten Ausgaben erlebte Monsieur Vénus 1889 die französische Ausgabe, in der das siebte Kapitel fehlte, und Rachilde als alleinige Autorin fungierte.

Die vorliegende vollständige deutsche Erstausgabe auf der Grundlage der Ausgabe von 1884 enthält ein vorbildliches, psychoanalytisch beleuchtetes Nachwort von Martine Reid, Autorin einer ausgezeichneten Biografie von George Sand. Sie beschreibt das umfangreiche schriftstellerische Werk von Marguerite Eymery (1860 -1953) unter verschiedenen Facetten.  Ausgehend von den psychisch stark belastenden Erfahrungen, die Marguerite in ihrer Kindheit sammelte, charakterisiert Reid sie als ein „von Grund auf doppeltes Wesen, sie wird zu einem solchen gemacht und macht sich selbst dazu: junger Mann / junge Frau, frei und unter Zwang, grob und sanft.“ (S. 196) Aufgewachsen und bewacht von einem Vater, der selber ein Bastard gewesen sei und von einem Sohn anstelle der Tochter geträumt habe, und einer von Wahnvorstellungen besessenen Mutter, habe Marguerite schon im jugendlichen Alter nach eigenständigen Lebensmustern gesucht. Im Alter von zwanzig Jahren publiziert sie ihren ersten Roman La Dame des bois. Beeinflusst von zeitgenössischen esoterischen Strömungen, behauptet sie, nach dem Diktat von Geistern zu schreiben. Ein gewisser Rachilde, ein schwedischer Edelmann aus dem 16. Jahrhundert, diktiere ihre Feder. Sie lässt ihren Namen standesamtlich verändern und publiziert von nun an unter dem Pseudonym Rachilde bis in das erste Drittel des 20. Jahrhundert hinein mehr als fünfzig Romane, unter anderen auch Monsieur Vénus … oder die Umkehrung der Geschlechter. Unter diesem provozierenden Untertitel führt Martine Reid ihre Leser*innen in die Handlung des Romans ein. Umrahmt von einigen fotografischen Reproduktionen, die Rachilde zwischen 1885 und 1924 zeigen, fasst sie die Romanhandlung auf weniger als drei Druckseiten zusammen. Mademoiselle Raoule de Vénérande, eine reiche, gebildete Adelige trifft in einem düsteren Pariser Wohnhaus auf der Suche nach einer fähigen Schneiderin, die ihr ein Ballkleid nähen soll, per Zufall den Künstler Jacques Silvert, der seiner Schwester Marie bei der Arbeit hilft. Raoule ist von Jacques’ körperlichen Erscheinung sexuell berührt, was seine Schwester sofort als gewinnbringende Beute für das Geschwisterpaar deutet. Doch Rachilde verändert bewusst das Kräfteverhältnis, weil sie der weiblichen Figur die sozial und intellektuell dominierende Position zuweist. Die Adelige Raoule leiht dem Künstler Jacques ein Atelier am Boulevard Montparnasse, macht ihn zu einem existentiell abhängigen Mann. Sie weist auch das Heiratsangebot des Barons Raittolbe zurück mit der Begründung zurück, sie zum ersten Mal verliebt sei in einen Mann  „dessen Seele mit ihrer weiblichen Prägung sich in der Hülle vertan hat“. In der Folge gehen Raoule und Jacques so weit, dass sie ihre Kleider tauschen, d.h. Jacques trägt ein Kleid und Raoule den Gehrock. Das freiwillig „umgedrehte“ Paar heiratet, um nach den Legenden der Brahmanen ein vollständiges Wesen zu werden. Baron Raittolbe, vollkommen verstört von diesem Rollentausch, verliebt sich nun in Jacques und, so Martine Reid, „macht ihn zu seinem Geliebten.“ Doch damit ist der Rollentausch noch nicht abgeschlossen. Ein gewisser Martin Durant, ein Architekt, erliegt den Reizen des Barons, was Raoule, wie ein „echter“ betrogener Mann, veranlaßt, den Baron Raittolbe zu bitten, Jacques zum Duell aufzufordern. Der sterbende Jacques, ach, liebe Leser*innen, lesen Sie diese schauderhafte Geschichte zu Ende und versäumen Sie nicht, auch einen Blick in das XVII. abschließende Kapitel zu werfen. Es nimmt so vieles vorweg, was die zweite Hälfte des XX. Jahrhunderts in der Kulturgeschichte der Beziehungen zwischen Mann und Frau so pervers erscheinen lässt!

Aufklärung über das dekadente XX. Jahrhundert mit seinem vielfältigen Rollentausch und der Frage nach der Identität von Frau und Mann – mit den interpretierenden Hinweisen auf Gynandrie, Homophilie, Inzest, Zoophilie – beschließt das Nachwort von Martine Reid, die dieser bedeutsamer Publikation den Rang einer einzigartigen deutschsprachigen Erstveröffentlichung verleiht. Wenn auch die Lektüre von Monsieur Venus da und dort von Verwirrungen begleitet sein könnte, es bleibt der fesselnde Eindruck eines Romans aus der Feder einer emanzipierten Schriftstellerin, die nicht nur in der französischen Literaturgeschichte eine führende Position eingenommen hat.

 

 

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Rachilde. Monsieur Vénus. Materialistischer Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Alexandra Beilharz und Anne Maya Schneider. Nachwort von Martine Reid. Ditzingen (Philipp Reclam jun. Verlag) 2020.

 

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KUNO hat seit jeher ein Faible für Trash. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Daher sei sei Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash ebenso eindrücklich empfohlen wie Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Ebenso verwiesen sei auf Trash-Lyrik.