TRISTAN

 

Meine Sehnsucht nach ihr ist sauerkirschkerngroß, größer als der Ort, an dem wir unsere Herzen mit den Schaufeln unserer Väter unter schwerem Blütenschnee begraben haben. Nicht aus jedem Kirschkern wächst ein Baum. Wir haben unsere in die Welt gespuckt.

Der letzte Kern ist taub, treibt mit den dunkelroten Fleischresten vergangener Fruchtkörper ziellos unter ihrer Spätsommerhaut umher, und die Baumkronen schäumen weiß. Meine geheuchelte Unschuld ist ihr ein verloren gegangenes Hochzeitkleid, das an den Wogen ihrer Brüste unseren Niedergang tanzte. Allein. Ich spucke, und die Welt besprüht mich staunend- mit gefühlskalter Gischt.Es ist lange her, seit wir die Tiefen ihres Bauchnabels mit gefundenem Strandglas abgeschlossen haben. Der Schlüssel ist geschluckt und lässt nichts keimen.

Ich lege eine Scherbe zwischen jeden gestohlenen Kuss unter Sauerkirschbäumen, auch jetzt noch, und schwimme mit der Hoffnung auf einen Unterwasserbaum, an dem ich atmen kann, was nicht mehr ist.Wir bestatten uns auf hoher See. Sie schenkt uns ein Nimmermeer, damit sie mit den Möwen kreischen kann.

Ich schmecke das Salz meiner Schnittwunden auf einer anderen Zunge und möchte ihr Seeglas suchen, damit meine Salzbärte ihre Schenkel hinabwachsen können.

 

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Jenseits BlassBlau, von Julia Kulewatz. Edition Roter Drache 2020

Bernhard Hennen nennt Julia Kulewatz in seinem Vorwort „die Poetin der deutschen Phantastik“. So sprechen die hier versammelten Kurzgeschichten mit der Weisheit siebenjähriger Kinder, lassen die Liebe durchsichtig werden und erwecken zartgrüne Jungfrauen aus den Leibern uralter Drachen, die über die Menschen wachen. Wir werden auf abenteuerliche Entdeckungs- reisen geschickt, bei denen es nicht weniger zu verlieren und zu gewinnen gibt als eine neue Perspektive auf uns selbst und die uns umgebende, fantastische Wirklichkeit. Dabei ver- flüssigen sich Raum und Zeit in den Schritten barfüßiger Nixen. Mit der Virtuosität ihrer bild- gewaltigen Sprache entführt uns die Autorin in die allumfassenden Tiefen des Ozeans, der zugleich Rettung und Vernichtung ist. Dabei verflüssigen sich Raum und Zeit in den Schritten geflügelter Nixen, die erzwungene Wolkenformationen zu enträtseln suchen.

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