Die Wiederentdeckung des Prosawerkes von Paul Adler

 

Die Wiederentdeckung und kritische Bewertung des Prosawerkes von Paul Adler lief in drei wesentlichen Etappen ab. Seit den 1950er Jahre erschienen in Sammelbänden, die von Karl Otten herausgeben wurden, einige der seit den 1920er Jahren nicht mehr aufgelegten Prosatexte unter den Sammelbegriffen ‚Prosa jüdischer Dichter’, ‚Meistererzählungen des Expressionismus’ wie auch ‚Expressionistische Prosa’. Anfang der 1990er Jahre zeichnet sich die literaturkritische Neubewertung eines Prosawerkes ab, das aus dem Born des Prager deutsch-jüdischen Schriftstellermilieus stammt. 2018 ist der erste Band einer fünfbändigen Werkausgabe im Dresdner Thelem-Verlag unter der Herausgeberin Annette Teufel erschienen, zeitlich parallel zu dem vorliegenden Sammelband unter dem Titel ‚Absolute Prosa’. Was bewog die Literaturwissenschaft, ein Prosawerk in den Fokus ihrer Forschungen zu nehmen, das bislang die Bewunderung von Adlers Zeitgenossen hervorrief und nun sogar das Interesse eines Dresdner Verlags wie auch des Stuttgarter Forschungszentrums für Textstudien erregte? Die ersten Merkmale einer Neubewertung des Werkes zeichnen sich in drei Aspekten ab: in den biografischen Fakten, den thematischen und stilistischen Eigenständigkeiten der Prosatexte wie auch in der Eigenwilligkeit eines ästhetischen Weltmodells, das unter dem Schlagwort ‚Kometen der Moderne’ firmiert. Doch zuerst die biografischen Angaben zum Autor. Paul Adler, 1878 in Prag geboren, ein Zeitgenosse von Martin Buber, Alfred Döblin und Carl Sternheim, durchlief in den 1880er und 1890er Jahren die Volksschule und das Gymnasium, studierte von 1896 bis 1900 an der Karls-Universität in Prag Jura und Philosophie und promovierte 1901 zum Doktor der Jurisprudenz. Seine erste berufliche Anstellung als Rechtspraktikant endete bereits 1902, weil er bei der Verteidigung einer Näherin, „die von den Siemens-Werken verklagt worden war, juristisch vorgehen sollte.“ (Aus dem Nachwort des Herausgebers von „Paul Adler. Absolute Prosa…“, Düsseldorf 2018, S. 429) Gegen diese Verletzung des sozialen Gleichheitsprinzips protestierte er; er gab seinen Beruf auf und lebte fortan als freier Schriftsteller. In den nun folgenden Wanderjahren, in denen er neben Paris, Berlin und Wien vor allem während seines siebenjährigen Aufenthalts in Italien (1903-1910) eine Fülle von literarischen Inspirationen sammelte, die in den drei zwischen 1916 und 1918 erschienenen Romanen Elohim, Nämlich und Die Zauberflöte wie auch in Erzählungen wie Venezianische Geschichte und Der Garibaldianer zum Ausdruck kamen. Zu dieser Zeit lebte er in Dresden und Hellerau, wo er im Verlag seines Freundes Jakob Hegner seine Prosawerke publizieren ließ. Paul Adler war nicht zuletzt aufgrund seiner antimilitaristischen Haltung und seiner Zugehörigkeit zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USDP) ein politischer Schriftsteller und Kriegsdienstverweigerer. Diese konsequente Einstellung kam neben seinen publizistischen Arbeiten in der Mitarbeit an dem Sammelband Die Befreiung der Menschheit: Freiheitsideen in Vergangenheit und Gegenwart, Hg. Ignaz Ježower. Berlin 1921, zum Ausdruck. Wie breit die wissenschaftlichen Interessen von Paul Adler waren, verdeutlichte sein 1925 veröffentlichtes Sachwörterbuch zur japanischen Literatur. Parallel zu diesen fachspezifischen Arbeiten veröffentlichte Adler zahlreiche politische Essays, verfaßte kapitalismuskritische Artikel und war gemeinsam mit Alfred Döblin, Eduard Bernstein und anderen an dem Gemeinschaftswerk Die Befreiung der Menschheit (Hg. Ignaz Ježower) beteiligt. Nach 1933 emigrierte er nach Prag, publizierte in der Prager Presse und überlebte den Zweiten Weltkrieg nach dem Einmarsch der Hitler-Okkupanten im Untergrund. Am 8. Juni 1946 starb er in Zbraslav bei Prag. Diese biografischen und rezeptionsästhetischen Angaben stammen aus der Feder des Herausgebers, Prof. Claus Zittel. Er kommentiert nicht nur den von vielen Hindernissen und rassistischen Verfolgungen gezeichneten Lebensweg von Paul Adler, sondern bewertet auch die spezifischen literarischen und stilistischen Merkmale der in dem Prosaband versammelten Texte auf der Grundlage der Rezeptionen aus den 1910er und frühen 1920er Jahre wie auch der literaturkritischen Aufsätze seit den 1990er Jahre. Wodurch zeichnet sich das seit rund hundert Jahren existierende Werk aus, die zwischen 1914 und 1916 erschienenen Prosawerke wie auch die zahlreichen Erzählungen, Gespräche, dramatischen Szenen und Prosagedichte aus? Mit dem Blick auf die Ausführungen des Herausgebers lesen wir: „Unter den Prager Schriftstellern ist es Paul Adler, der noch konsequenter als Kafka die gewohnten Wahrnehmungsperspektiven durcheinanderwirbelt, indem er die vermeintlich apriorischen Verstandeskategorien aus den Angeln hebt. Adler verbindet musikalischen Sinn für Formexperimente mit präzisen Beschreibungen von Bewusstseinsvorgängen, Ernst mit verzweifelter Heiterkeit, um einen Roman zu komponieren, in dem die Gesetze des Traums regieren (Die Zauberflöte). Er schöpft aus den Motivkreisen der antiken und jüdischen, christlichen und fernöstlichen Traditionen, verlegt zugleich dem mythischen Unterstrom seiner Erzählungen durch das artistische Spiel mit Worten und Klängen und durch das Parodieren anachronistischer Formmuster (wie das der Legende) den ungehinderten Lauf (Elohim). Hallozinogene Bewusstseinszustände werden mit feinster Ironie zergliedert und das Gehirn als Kessel, in dem das Unheil einkocht, erfahrbar gemacht (Nämlich).“ (S. 443) Diese konstruktive Würdigung belegt Claus Zittel mit einer Vielzahl an wertenden Stimmen, unter denen zunächst Kurt Pinthus, der renommierte Vermittler expressionistischer Lyrik, mit dem Blick auf Adlers „Die Zauberflöte“ hervorgehoben werden soll. „Es gibt in der deutschen Dichtung kein Buch, das losgelöster, befreiter von der Wirklichkeit wäre als dieser Roman, und kein Buch ist bisher Roman genannt worden, das so wenig der Kunstform anzugehören scheint, die man mit dem Sammelbegriff Roman bezeichnet […] Es ist in einer Prosa geschrieben, die von tiefster Musik strahlt, die von spielender Ironie bis zu reinstem lyrischen Gesang sich erhebt, … (S. 433) Ein Beispiel für dieses dem zeitgenössischen Leser nur wenig vertraute Spiel mit Ironie beim Umgang mit überlieferten Figuren antiker Dichtung vermag die dramatische Dichtung Tod des Prometheus (vgl. S. 386-391) anzudeuten: „Prometheus an des Kaukasus Fuß: /Hier sitz ich, hoh! Drehe Menschen. / Du surre, dumpf drehende Scheibe. /Ich forme, nun brenne ich Bäckchen / Vater Gott, rot nach unserm Bildnis.“ Zittels Wertung „Sein [Adlers] Erzählen setzte entschieden auf das Experiment mit der Form und blieb dabei sensibel für die feinen Nuancen der Sprache…“ (S. 427) verweist auf eine, die Grenzbereiche des Expressionismus überschreitende Position, deren literarhistorische Wirkung nunmehr in der vierten Rezeptionsphase des Werkes in den Blick genommen wird. Die Voraussetzungen für die Umsetzung dieses Vorhabens sind aufgrund der vorliegenden Edition im C.W.Leske Verlag als auch der bereits begonnenen Herausgabe des Werks im Thelem-Verlag gegeben. Ob diese absolute Prosa allerdings eine wachsende Anziehungskraft auslösen wird, ob dieses „kleine Schwarze Quadrat deutscher Prosa“ (Durs Grünbein) eine Suche nach neuen, bislang kaum wahrnehmbaren Impulsen in der literarischen Landschaft einleiten wird, ist rund hundert Jahre nach Robert Müllers Artikel über die „Kosmoromantik“ in den Romanen von Paul Adler mit einem zaghaftem Ja zu beantworten. Dieser schwerst lesbare Roman habe nach Müller „mehr Poesie und Schreibkunst, mehr Liebe, Flugbahn und Ethos … als die Problemromane.“ (S. 444) Bleibt also abzuwarten, ob die gegenwärtige deutschsprachige Literaturszene auf die Anregungen eines Autors reagieren wird, der „einen archimedischen Punkt außerhalb des Sterns gefunden“ (Kasimir Edschmid) hat.

 

 

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Absolute Prosa. Elohim, Nämlich. Die Zauberflöte und andere Texte von Paul Adler – Herausgegeben von Claus Zittel unter Mitarbeit von Fabian Mauch. Düsseldorf (C.W. Leske Verlag) 2018, 456 S., 28.- EURO (Kometen der Moderne, Bd. 1).