Vom Zugzwang der Wolken

 

Als mein Sohn mich nach seinem Vater fragte, hatte er ernste Augen. Er nannte mich zum ersten Mal bei meinem Vornamen, nicht länger Mutter. „Amani, bitte erzähle mir von ihm“, flehte er. Bitte sage mir, dass ihr euch geliebt habt, stand in seinem Blick, sage mir, dass er lebt, zuckte um seine Mundwinkel. „Dein Vater kam als ein goldener Löwe zu mir, er kam mit den Wolken. Es waren dieselben Wolken, die mich schon als Kind gerettet haben“, antwortete ich ihm. Shaebel, mein kleiner Shaebel. Das Fliehen ist vorbei. Du allein hast es beendet. Da stand er vor mir, fragend, aufrichtig, in aller Größe, zu der er fähig war, mit den fordernden Augen eines Erwachsenen und dem Vertrauen eines Kindes. Er hat mich auf Deutsch gefragt, seiner Muttersprache, die niemals die Sprache seiner Mutter war. Das Deutsche hat mein Herz evakuiert. Mit und in dieser Sprache konnte und durfte ich überleben.

Wir füllten den Vorlesungssaal mit über 400 Studenten. Meine Kommilitonen nannten es ehrfürchtig „die Aussiebklausur“ und spielten dabei auf die etwa 85-prozentige Durchfallquote an. Ich kam nicht einmal bis in ihr deutschsprachiges Sieb. Als ich merkte, wie mein Puls raste, mein Herz unregelmäßig Blut pumpte, meine Schläfen hämmerten, rannte ich. Ich schaffte es gerade noch bis auf die Toilette, die Herrentoilette.Wenn ich heute darüber nachdenke, war mir das Fliehen an diesem Punkt bereits zur Gewohnheit geworden, wie der Kaffee am Morgen oder die Zigarette danach. Das Davor vergaß ich, so schnell ich nur konnte. Die geborgte Zigarette vermischte sich als schwefliger Odem mit dem, was einmal mein Atmen war und mich mit der Welt verbinden sollte. Argwöhnisch zog ich an ihr und inhalierte giftige Wolken, um ganz stillzu werden, in mir, in einem Himmelbett, das mir nie gehören würde, das ich verlassen würde, sobald die Zigarette erstarb. Sie erlosch qualmend.

Nichts als Fliehen. Ein Fliehen in Gegenstände, Bücher, Kleidung, Menschen, Fremdsprachen und schließlich Universitätstoiletten. Das alles schlich sich auch in meinen Körper ein, nachdem es meinen Alltag ganz selbstverständlich bewohnte. Es gibt kleine und große Fluchten, aber ich hatte sie niemals als solche empfunden, nicht zu dieser Zeit. Es ist so einfach, wie es auch komplex ist. Fluchten hatten mir mein Leben garantiert, mich meines Lebendig- seins versichert. Mein Ich in seiner Gesamtheit war auf einen fliehenden Punkt reduziert, in einer feindlichen Welt, in der nichts stillstehen konnte, was auch nur flüchtig mit mir zu tun hatte. Mein Fliehen, es war so selbstverständlich, mühelos leicht, vielleicht sogar schön, wie das Vorüberziehen der Wolken.

 

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Jenseits BlassBlau, von Julia Kulewatz. Edition Roter Drache 2020

Bernhard Hennen nennt Julia Kulewatz in seinem Vorwort „die Poetin der deutschen Phantastik“. So sprechen die hier versammelten Kurzgeschichten mit der Weisheit siebenjähriger Kinder, lassen die Liebe durchsichtig werden und erwecken zartgrüne Jungfrauen aus den Leibern uralter Drachen, die über die Menschen wachen. Wir werden auf abenteuerliche Entdeckungsreisen geschickt, bei denen es nicht weniger zu verlieren und zu gewinnen gibt als eine neue Perspektive auf uns selbst und die uns umgebende, fantastische Wirklichkeit. Dabei verflüssigen sich Raum und Zeit in den Schritten barfüßiger Nixen. Mit der Virtuosität ihrer bildgewaltigen Sprache entführt uns die Autorin in die allumfassenden Tiefen des Ozeans, der zugleich Rettung und Vernichtung ist. Dabei verflüssigen sich Raum und Zeit in den Schritten geflügelter Nixen, die erzwungene Wolkenformationen zu enträtseln suchen.

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KUNO empfiehlt auch Vom lustvollen Seufzer des Sudankäfers, Kurzgeschichten von Julia Kulewatz. Eine Leseprobe finden Sie hier.